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18. März 1990: Ein kritischer Blick auf die erste freie Volkskammerwahl

Vor 35 Jah­ren fand in der DDR die letz­te Wahl zur Volks­kam­mer statt. Es war dort zugleich die ers­te freie. Die Ergeb­nis­se waren so über­ra­schend wie prä­gend, auch für den Ver­fas­ser die­ses Bei­trags. Robert Neh­ring war damals 15 Jah­re alt.

Die einzige freie Wahl der DDR am 18. März 1990 stellte die Weichen. Blick in ein Leipziger Rechenzentrum, in dem die technische Qualität der Wählerlisten und Wahlbenachrichtigungskarten kontrolliert wurde. Abbildung: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0227-017 / Kluge, Wolfgang / CC-BY-SA 3.0

Die ers­te freie Wahl der DDR am 18. März 1990 stell­te die Wei­chen. Blick in ein Leip­zi­ger Rechen­zen­trum, in dem die tech­ni­sche Qua­li­tät der Wäh­ler­lis­ten und Wahl­be­nach­rich­ti­gungs­kar­ten kon­trol­liert wur­de. Abbil­dung: Bun­des­ar­chiv, Bild 183-1990-0227-017 / Klu­ge, Wolf­gang / CC-BY-SA 3.0

Als die DDR das letz­te Mal wähl­te, war ich 15. Ein Ost­ber­li­ner Jugend­li­cher, der jeden Tag fast eine Stun­de zur Kin­der- und Jugend­sport­schu­le fuhr, um dort zwei Mal am Tag ein Schwimm­trai­ning zu absol­vie­ren und zwi­schen­durch die Schu­le zu besu­chen. An den Wochen­en­den fan­den Wett­kämp­fe statt oder wie­der Trai­ning. Am Tag des Mau­er­falls trai­nier­te ich in einer Schwimm­hal­le in 2.000 Metern Höhe, auf dem Berg Bel­me­ken im bul­ga­ri­schen Rila-Gebirge.

Was ich sagen will: Mit 15 hat­te ich zwar ein Inter­es­se an den aktu­el­len poli­ti­schen Ent­wick­lun­gen, las wie vie­le von uns die Jun­ge Welt, eine rich­ti­ge Pei­lung hat­te ich aber nicht. Zum öffent­li­chen Durch­ein­an­der seit dem Mau­er­fall kam bei mir noch reich­lich Ablen­kung durch Sport hin­zu. Mei­ne Jugend habe ich qua­si zur Hälf­te unter Was­ser ver­bracht. Mei­ne Per­spek­ti­ve war des­halb beson­ders ver­schwom­men, wie bei einem Unter-Was­ser-Blick ohne Chlor­bril­le. Umso mehr wün­sche ich mir bis heu­te Klar­heit dar­über, was am 18. März 1990 geschah. Ver­such einer Rekonstruktion.

Vorgezogene Wahlen: Es blieben nur sieben Wochen Zeit

Eigent­lich soll­te die ers­te freie Wahl der DDR am 6. Mai 1990 statt­fin­den. Das hat­te der Zen­tra­le Run­de Tisch ent­schie­den, der zeit­wei­se die All­par­tei­en­re­gie­rung unter Hans Mod­row kon­trol­lier­te. Er nahm eine gesetz­ge­ben­de Funk­ti­on wahr, wobei die Volks­kam­mer der Form hal­ber den Ver­ab­re­dun­gen und Beschlüs­sen zustimm­te. Bald ent­stand der Ein­druck, dass es so schnell wie irgend mög­lich eine hand­lungs­fä­hi­ge, demo­kra­tisch legi­ti­mier­te Regie­rung brauch­te. Allein im Janu­ar 1990 wur­den 50.000 Aus­rei­sen ver­zeich­net. Aus dem Ruf „Wir sind das Volk“ wur­de „Wir sind ein Volk“. Dar­auf­hin ver­leg­te der Zen­tra­le Run­de Tisch den Ter­min am 28. Janu­ar sechs Wochen vor – auf den 18. März 1990. Bis zur Wahl blie­ben zu die­sem Zeit­punkt nur noch sie­ben Wochen. Dies stell­te eine enor­me Her­aus­for­de­rung dar. Weit­aus mehr als für PDS und Block­par­tei­en für die Oppo­si­ti­ons­bünd­nis­se, wel­che in der Regel kaum Erfah­rung und nur weni­ge Mit­tel für solch einen Wahl­kampf hat­ten. Wie sich spä­ter zei­gen soll­te, war außer­dem das Aus­maß west­deut­scher Unter­stüt­zung ent­schei­dend, das bei ihnen ungleich gerin­ger ausfiel.

Dann war es soweit. Bis­lang konn­ten die DDR-Bür­ger nur die Ein­heits­lis­te der Natio­na­len Front in die Wahl­ur­ne wer­fen, ohne dass eine Aus­wahl unter den auf­ge­führ­ten Kani­da­ten oder Par­tei­en  vor­ge­se­hen oder erfor­der­lich war. Die Wahl­be­rech­tig­ten hat­ten zwar das Recht, auf dem Stimm­zet­tel Strei­chun­gen vor­zu­neh­men, als Gegen­stim­me wur­de ein Wahl­schein laut einer gehei­men Anwei­sung des Polit­bü­ros der SED aber nur gewer­tet, wenn auf ihm alle Kan­di­da­ten ein­zeln durch­ge­stri­chen wurden.

Nun aber stan­den 19 Par­tei­en und fünf Lis­ten­ver­bin­dun­gen zur Wahl. Die vor­ge­zo­ge­ne Volks­kam­mer­wahl hat­te eine Wahl­be­tei­li­gung von 93,4 Pro­zent bei 11,5 Mil­lio­nen abge­ge­be­nen gül­ti­gen Stim­men. Eine hohe Wahl­be­tei­li­gung hat­te in der DDR Tra­di­ti­on – zur vor­an­ge­gan­ge­nen Volks­kam­mer­wahl 1986 wur­de eine Betei­li­gung von 99,74 Pro­zent bei 99,94 Pro­zent Zustim­mung zu den Ein­heits­lis­ten kom­mu­ni­ziert –, aber dies­mal war sie auch plausibel.

Überraschung: Die Allianz fürs Leben

48,15 Pro­zent der Wäh­ler stimm­ten für die von Hel­mut Kohl unter­stütz­ten Par­tei­en der Alli­anz für Deutsch­land, einem Bünd­nis aus der Ost-CDU (40,8 Pro­zent), der von der CSU pro­te­gier­ten Deut­schen Sozia­len Uni­on DSU (6,3 Pro­zent) und dem kir­chen­na­hen Demo­kra­ti­schen Auf­bruch DA (0,9 Pro­zent). Nur 21,9 Pro­zent stimm­ten für die SPD, wel­che sich zuvor sie­ges­ge­wiss gezeigt hat­te. 16,4 Pro­zent stimm­ten für die PDS, 5,3 Pro­zent für die FDP und 2,9 Pro­zent für das Bünd­nis 90 (Initia­ti­ve für Frie­den und Men­schen­rech­te IFM, das Neue Forum NF und Demo­kra­tie Jetzt DJ). Die NDPD hat­te mit 44.292 Stim­men (0,4 Pro­zent) übri­gens weni­ger Wäh­ler als Mit­glie­der (nach eige­nen Anga­ben etwa 110.000).

Die SPD erziel­te ihr bes­tes Ergeb­nis mit 39,8 Pro­zent in Ber­lin-Köpe­nick, die PDS ihres mit 38,4 Pro­zent in Ber­lin-Hohen­schön­hau­sen, Bünd­nis 90 sei­nes mit 8,5 Pro­zent in Prenz­lau­er Berg.

In Ost­ber­lin gewann die SPD mit 34,9 Pro­zent. 30,2 Pro­zent hol­te die PDS, 18,3 Pro­zent die CDU, 6,3 Pro­zent das Bünd­nis 90. In der Ten­denz war dies auch die Erwar­tungs­hal­tung in mei­nem Umfeld für die gesam­te DDR: SPD vor PDS und CDU-Allianz.

Dafür spra­chen zum Bei­spiel die Wahl­um­fra­gen. Der Vor­sit­zen­de der Ost-SPD Ibra­him Böh­me trat ent­spre­chend schon auf wie der künf­ti­ge Minis­ter­prä­si­dent. Mit ihm rech­ne­te wohl auch die Sowjet­uni­on, die ihn kurz vor der Wahl empfing.

Am 28. Janu­ar 1990 hol­te SPD-Spit­zen­mann Oskar Lafon­taine im Saar­land beein­dru­cken­de 54 Pro­zent. Außer­dem wur­de sich öffent­lich dar­an erin­nert, dass ins­be­son­de­re die säch­si­schen und thü­rin­gi­schen Gebie­te zu Zei­ten der Wei­ma­rer Repu­blik Hoch­bur­gen der SPD gewe­sen waren und es mit Aus­nah­me des Eichsfelds kei­ne bedeu­ten­den katho­li­schen Milieus in der DDR gab.

Umfra­ge Wahl­be­tei­li­gung CDU SPD PDS Neu­es Forum
Novem­ber 1989 86 % 10 % 6 % 31 % 17 %
Febru­ar 1990 79 % 13 % 53 % 12 % 3 %
März 1990 85 % 22 % 34 % 17 % 1 %

Quel­le: Zen­tral­in­sti­tut für Jugend­for­schung (ZIJ), Leip­zig 1990. ssoar.info

Die Alli­anz hat­te zwar den Kanz­ler­bo­nus, stand aber auch unter Block­flö­ten­ver­dacht. Die bür­ger­li­chen Block­par­tei­en – die Christ­lich-Demo­kra­ti­sche Uni­on (CDU), die Libe­ral-Demo­kra­ti­sche Par­tei Deutsch­lands (LDPD), die Natio­nal­de­mo­kra­ti­sche Par­tei Deutsch­lands (NDPD) und die Demo­kra­ti­sche Bau­ern­par­tei Deutsch­lands (DBD) – kamen in der DDR ihrer Auf­ga­be des Abni­ckens von SED-Beschlüs­sen nach. Im Wahl­kampf warb die Alli­anz unter dem Titel „Nie wie­der Sozia­lis­mus“ mit unhalt­ba­ren Ver­spre­chen, unter ande­rem der sofor­ti­ger DM-Ein­füh­rung sowie einer Umstel­lung der Löh­ne, Ren­ten und Spar­kon­ten im Ver­hält­nis von 1 DDR-Mark zu 1 DM. Das klang natür­lich ver­lo­ckend. Aber die von Oskar Lafon­taine geäu­ßer­te und von Exper­ten unter­mau­er­te Vor­sicht vor einem über­stürz­ten Zusam­men­schluss klang ver­nünf­tig und rea­lis­tisch. Im Dezem­ber 1989 warn­te Lafon­taine vor „natio­na­ler Besof­fen­heit“ und bezeich­ne­te die Mit­glied­schaft eines ver­ein­ten Deutsch­lands in der NATO als „his­to­ri­schen Schwach­sinn“. Die Wie­der­ver­ei­ni­gung stand in den Wahl­pro­gram­men fast aller Par­tei­en, nur über Art und Wei­se sowie den genau­en Ter­min gab es unter­schied­li­che Auf­fas­sun­gen. Am 1. Febru­ar 1990 hat­te sogar der Vor­sit­zen­de des Minis­ter­ra­tes der DDR, Hans Mod­row, einen von Mos­kau abge­nick­ten Drei-Stu­fen-Plan prä­sen­tiert, der einen ein­heit­li­chen deut­schen Staat zum Ziel hatte.

Bis 19. Janu­ar 1990 hat­ten noch fast 1,2 Mil­lio­nen DDR-Bür­ger ihren Namen unter den Auf­ruf „Für unser Land“ gesetzt. In ihm wur­de die Visi­on vom „Drit­ten Weg” mit dem Ziel einer sozia­lis­ti­schen Alter­na­ti­ve zur Bun­des­re­pu­blik, zwi­schen Markt- und Plan­wirt­schaft, skiz­ziert. Ende Novem­ber 1989 spra­chen sich noch 86 Pro­zent der DDR-Bür­ger für den Weg eines bes­se­ren, refor­mier­ten Sozia­lis­mus aus, Anfang Febru­ar 1990 immer­hin noch 56 Prozent.

Auf der ande­ren Sei­te hat­te Bun­des­kanz­ler Hel­mut Kohl am 28. Novem­ber 1989 über­ra­schend sein „Zehn-Punk­te-Pro­gramm zur Über­win­dung der Tei­lung Deutsch­lands und Euro­pas“ aus dem Ärmel gezo­gen. Aller­dings hieß es hier nur all­ge­mein: „Die Wie­der­ver­ei­ni­gung, das heißt die Wie­der­ge­win­nung der staat­li­chen Ein­heit Deutsch­lands, bleibt das poli­ti­sche Ziel der Bun­des­re­gie­rung.“ Noch am 11. Febru­ar 1990 sprach er sich für eine neue Ver­fas­sung aus. Er erklär­te: „Ich bin dafür, daß das, was sich bewährt hat, und zwar auf bei­den Sei­ten, von uns über­nom­men wer­den soll. Es gibt auch Ent­wick­lun­gen in der DDR in die­sen 40 Jah­ren, die es sich sehr lohnt anzu­se­hen. Ich bin ganz und gar dage­gen, eine Posi­ti­on ein­zu­neh­men, die auf Anschluß hinausgeht.”

Stimm­zet­tel zur Volks­kam­mer­wahl 1990. Abbil­dung: Bun­des­ar­chiv, Bild 183-1990-0312-021 / Autor/-in unbe­kannt / CC-BY-SA 3.0

Was dann aber wie­der­um voll­kom­men gegen einen Erd­rutsch­sieg der Alli­anz sprach, war die Ent­hül­lung der Sta­si-Mit­ar­beit des Vor­sit­zen­den des Demo­kra­ti­schen Auf­bruchs Wolf­gang Schnur am 12. März im Spie­gel. Auch er sah sich schon als künf­ti­ger Minis­ter­prä­si­dent. Nach den ers­ten Gerüch­ten gab er am 8. März eine Ehren­er­klä­rung ab und erlitt einen gesund­heit­li­chen Zusam­men­bruch. Am Mor­gen des Wahl­tags trat er zurück. Im Demo­kra­ti­schen Auf­bruch hat­te es auch schon zuvor rumort. Gün­ter Noo­ke und Fried­rich Schor­lem­mer tra­ten Ende 1989/Anfang 1990 aus. Auch inner­halb der Alli­anz für Deutsch­land krach­te es ordent­lich – offen­bar kei­ne Wunschhochzeit.

Ange­sichts die­ser Aus­gangs­la­ge hat­ten vie­le das deut­li­che Wahl­er­geb­nis nicht kom­men sehen. So auch ich. Mich hat die­se Erfah­rung poli­tisch geprägt, poli­ti­siert. Ich war erstaunt und ent­täuscht. Und damit war ich nicht allein.

Ein Spruch, der mir bis heu­te sehr hän­gen­ge­blie­ben ist, weil er mein Gefühl ganz gut aus­drück­te, stand damals auf einem Stück Ber­li­ner Mau­er in der ver­län­ger­ten Schwed­ter Stra­ße (heu­te Schwed­ter Steg). Hier, in der Kur­ve kurz nach dem zu Mau­er­zei­ten in der DDR nicht mehr ange­fah­re­nen Bahn­hof Born­hol­mer Stra­ße in Rich­tung Schön­hau­ser Allee, wo die aus den 1930ern stam­men­den S-Bah­nen im Osten bis zum Mau­er­fall auf Höchst­ge­schwin­dig­keit gin­gen und per­ma­nent klin­gel­ten, damit die Türen zu blie­ben und die Bür­ger im Land, da prang­te rie­sen­groß Schwarz auf Weiß die Fra­ge „Seit wann seid ihr alle Chris­ten?“ Tat­säch­lich galt die DDR als das athe­is­tischs­te Land der Welt. Zwar sol­len 1989 auf dem Papier fünf Mil­lio­nen DDR-Bür­ger evan­ge­lisch gewe­sen sein, prak­ti­ziert wur­de dies aber nur von einem Bruch­teil. Man­che wuss­ten nicht ein­mal, dass sie getauft waren, bis nach dem Anschluss der ers­te Kir­chen­steu­er­be­scheid kam. Gewählt hat die DDR vor 35 Jah­ren den­noch fast zur Hälf­te das gro­ße C.

Die Ost-CDU war in der DDR unbe­kannt. Aber auch die West-CDU spiel­te in der DDR kei­ne Rol­le. Hel­mut Kohl – selbst wenn er den Sehn­suchts­ort vie­ler ver­kör­per­te – war eher Gegen­stand lus­ti­ger Bemer­kun­gen. Mit der Bay­ern­par­tei CSU hat­te man erst recht nichts am Hut. Und wer soll­te unter den Oppo­si­ti­ons­par­tei­en aus­ge­rech­net den klei­nen kirch­li­chen Demo­kra­ti­schen Auf­bruch wäh­len? Dass die SED-Nach­fol­ge­par­tei PDS trotz Erneue­rung durch Gre­gor Gysi für die meis­ten unwähl­bar war, leuch­te­te ein. Aber dass ein Volk von gott­lo­sen Werk­tä­ti­gen dann nicht die gro­ße Arbei­ter­par­tei wählt, son­dern sei­ne Stim­me dem rhei­ni­schen Katho­li­zis­mus gibt, das war für vie­le kaum zu begrei­fen. Dass Ost­ber­lin nicht die DDR spie­gel­te, war damals jedem klar. So wenig wie Ber­lin heu­te Deutsch­land. Aber den­noch: Wie konn­te es zu solch einer Dis­kre­panz kommen?

Der Ruf des Geldes?

Lag es an der mas­si­ven Ein­mi­schung der Bun­des­po­li­tik in den DDR-Wahl­kampf? Die CDU bil­de­te zum Bei­spiel Kreis­part­ner­schaf­ten: Jeder Land­kreis der DDR wur­de von einem Kreis in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land unter­stützt. Vie­le West-Mit­glie­der nah­men Urlaub, um im Wahl­kampf die Alli­anz zu unter­stüt­zen. Der Schrift­stel­ler Micha­el Schnei­der kri­ti­sier­te damals: „Ins­ge­samt wur­den rund 40 Mil­lio­nen DM für den par­tei­po­li­ti­schen Wer­be­feld­zug in der DDR ver­aus­gabt, davon ein beträcht­li­cher Teil aus Steu­er­mit­teln der Bun­des­bür­ger. […] 100.000 Schall­plat­ten und Kas­set­ten mit drei Reden Hel­mut Kohls […] wur­den teils im Ein­zel­ver­sand nach drü­ben geschickt, […] In Erfurt bei­spiels­wei­se haben hes­si­sche CDU­ler, die mit acht Omni­bus­sen ange­karrt wur­den, in einer ein­zi­gen Nacht 80.000 Pla­ka­te geklebt. […] Die Bun­des­deut­schen (ent­deck­ten) in der ihnen plötz­lich zugäng­lich gewor­de­nen DDR ein Ter­rain, auf dem sich ein Stück ver­säum­ter Kolo­ni­al­ge­schich­te nach­ho­len lässt […].“ Der Bür­ger­recht­ler Jens Reich, Mit­grün­der des Neu­en Forums, sag­te spä­ter: „Das Bon­ner Nil­pferd ist in einer Mas­si­vi­tät gekom­men, dass man ein­fach hilf­los war. Im Wahl­kampf ist ein­fach der gesam­te Appa­ra­tis­mus des Wes­tens in den Osten gebracht wor­den. Dem hat­ten wir nichts ent­ge­gen­zu­set­zen. Das waren in die DDR expor­tier­te Westwahlen.“

So sahen Sieger aus: Plakate der Allianz für Deutschland für die Wahl zur Volkskammer am 18. März 1990. Abbildung: Wikimedia Commons KAS/ACDP 10-024 : 5011 CC-BY-SA 3.0 DE

So sahen Sie­ger aus: Pla­ka­te der Alli­anz für Deutsch­land für die Wahl zur Volks­kam­mer am 18. März 1990. Abbil­dung: Wiki­me­dia Com­mons KAS/ACDP 10-024 : 5011 CC-BY-SA 3.0 DE

Offene Fragen und Parallelen zu heute

Erst­mals hat­ten die DDR-Bür­ger die Wahl zwi­schen ver­schie­de­nen Par­tei­en mit unter­schied­li­chen Zie­len und Par­tei­pro­gram­men. Aber wie frei war ihre ers­te freie Wahl? Wel­chen Ein­fluss hat­te das Wedeln mit den West­mark-Schei­nen? Haben am Ende ein­fach die bes­se­ren Wahl­kämp­fer gewon­nen? Waren die DDR-Bür­ger noch nicht so weit, unab­hän­gig zu ent­schei­den? Am Ende ist eine Dis­kus­si­on natür­lich müßig, zumal das erziel­te Ergeb­nis dann bestä­tigt wur­de. Bei der Bun­des­tags­wahl am 2. Dezem­ber 1990 kam die CDU in Ost­deutsch­land auf 41,8 Pro­zent (Gesamt­deutsch­land 43,8 Pro­zent), die SPD auf 24,3 Pro­zent (bzw. 33,5 Pro­zent) und die PDS auf 11,1 Pro­zent (0,3 Pro­zent). Sach­sen, Sach­sen-Anhalt und Thü­rin­gen blie­ben Jahr­zehn­te lang CDU-geführ­te Län­der. Aber viel­leicht lässt sich etwas ler­nen. Ein paar Fra­gen und Par­al­le­len drän­gen sich mir auf.

Ich bin weder Jurist noch Freund von Ver­schwö­rungs­theo­rien, aber: War die Wahl ange­sichts der mas­si­ven Ein­mi­schung der BRD eigent­lich recht­mä­ßig? Als sich Elon Musk und JD Van­ce durch ihre Äuße­run­gen in den hie­si­gen Wahl­kampf ein­grif­fen, war die Empö­rung zu Recht groß. Als aber der gro­ße, rei­che Nach­bar flä­chen­de­ckend auf dem Boden der insta­bi­len DDR in den Wahl­kampf ein­griff, grenz­te das nicht sogar an eine Über­nah­me? Nicht weni­ge waren die­ser Ansicht. Man­che zogen sogar den Ver­gleich mit Kolo­nia­li­sie­run­gen. Zumin­dest mora­lisch dürf­ten Zwei­fel berech­tigt sein. Heu­te wird der 18. März 1990 sicher wie­der von vie­len als Stern­stun­de der Demo­kra­tie gewür­digt. Viel­leicht eig­nen sich ande­re Ereig­nis­se aber bes­ser zum Vorbild.

Was hät­ten die DDR-Bür­ger gewählt, wenn sie gewusst hät­ten, was auf sie zukommt? Mas­sen­ar­beits­lo­sig­keit, erneu­te Ent­eig­nung, struk­tu­rel­le Benach­tei­li­gung, man­geln­de Reprä­sen­tanz und west­deut­sche Igno­ranz. Wer hät­te das gewählt? Die West­deut­schen haben viel in den Osten inves­tiert, sehr viel. Das ist rich­tig. Bezahlt haben den Anschluss aber die Ost­deut­schen, vie­le bitter.

Waren die DDR-Bür­ger ein­fach noch nicht bereit für eine Wahl unter sol­chen Fremd­ein­flüs­sen? Wuss­ten sie – vor allem aus heu­ti­ger Sicht – viel­leicht ein­fach noch nicht, dass Wahl­ver­spre­chen oft nicht das Papier wert sind, auf das sie gedruckt wer­den? Den­ken wir an die Schul­den­brem­se aus dem Wahl­kampf 2025 oder die 400.000 Woh­nun­gen pro Jahr von 2021. Wuss­ten sie nicht, dass Wahl­ver­spre­chen gern aufs Porte­mon­naie zie­len? 2025 waren die Medi­en wie­der voll von „Wo ist für Sie am meis­ten drin?“-Übersichten. Oder dass Wahl­pro­gram­me gene­rell schon dann stark an Bedeu­tung ver­lie­ren, wenn es einen Koali­ti­ons­part­ner braucht. Waren Sie so naiv zu glau­ben, die DM-Mark ohne Gegen­leis­tung zu bekommen?

Vor Wah­len ver­schwim­men die Gren­zen zwi­schen Popu­lis­mus und Wahl­kampf. Viel­leicht brau­chen wir bes­se­re Regeln für so etwas. Wenn ein Pro­dukt nicht hält, was von ihm ver­spro­chen wur­de, kann man es zurück­ge­ben oder zumin­dest kla­gen. Viel­leicht soll­te man die Bür­ger nach Regie­rungs­bil­dung und Koali­ti­ons­ver­trag – was auch immer die­ser wert sein wird – noch ein­mal fra­gen, ob sie damit ein­ver­stan­den sind, was aus ihrem Votum gemacht wur­de. Denn ein gebro­che­nes Ver­spre­chen bleibt ein gespro­che­nes Verbrechen.

Bei den Wah­len vom 18. März 1990 ging es nur in zwei­ter Linie um Par­tei­en, wenn über­haupt. Der Osten woll­te etwas Neu­es. Dar­über hat das Volk abge­stimmt. Die alte DDR wur­de abge­wählt. Aller­dings lös­te sich das Alte auch gera­de selbst auf. Das Votum ver­hin­der­te einen Neu­start. Auf des­sen Basis wäre viel­leicht eine Wie­der­ver­ei­ni­gung statt einer „Selbst­aus­lie­fe­rung“ (Claus Offe), einer „Über­nah­me“ (Ilko-Sascha Kowal­c­zuk), einer Schlüs­sel­über­ga­be mög­lich gewe­sen. Wie schnell und teil­wei­se rück­sichts­los das Betriebs­sys­tem der DDR von dem der BRD über­schrie­ben wur­de, hat­ten die meis­ten nicht für mög­lich gehal­ten. In der Fol­ge fühl­ten sich vie­le getäuscht und ent­täuscht. Die DDR woll­te etwas Neu­es und bekam etwas Altes – die BRD.

Am Wahlabend zeigte das Fernsehen der DDR diese Umfrageergebnisse: 40 Prozent der Befragten waren für eine baldige Wiedervereinigung, 50 Prozent wollten es damit aber nicht überstürzen. Abbildung: Aktuelle Kamera/NDR

Am Wahl­abend zeig­te das Fern­se­hen der DDR die­se Umfra­ge­er­geb­nis­se: 40 Pro­zent der Befrag­ten waren für eine bal­di­ge Wie­der­ver­ei­ni­gung, 50 Pro­zent woll­ten es damit aber nicht über­stür­zen. Abbil­dung: Aktu­el­le Kamera/NDR

Auf einen wich­ti­gen Punkt weist in die­sem Zusam­men­hang der Sozio­lo­ge Stef­fen Mau hin (Ungleich ver­eint, 2024). Gera­de hat­te die DDR aus sich her­aus begon­nen, sich zu demo­kra­ti­sie­ren, da wur­de die­ser Pro­zess jäh aus­ge­bremst. So wur­de der DDR-Gesell­schaft eine wich­ti­ge Erfah­rung ver­wehrt, die der Selbst­wirk­sam­keit. Im Grun­de hat sie sich mit ihrer Wahl ein­fach an den Hals der BRD gewor­fen – ohne eige­ne Posi­ti­on. Das hat­te fata­le Fol­gen, die bis heu­te rei­chen. Resul­tat waren Pro­test­wah­len, von denen lan­ge Zeit die PDS/Linke pro­fi­tier­te und nun ein BSW und vor allem eine AfD, eine West­par­tei, die auf Sim­sons posiert und DDR-Voka­bu­lar für sei­ne spal­te­ri­schen Zwe­cke umdeu­tet. Wei­te Tei­le Ost­deutsch­lands frem­deln noch heu­te mit dem poli­ti­schen Sys­tem, das über ihnen aus­ge­rollt wur­de. Davon zeu­gen die ver­gleichs­wei­se weni­gen Par­tei­mit­glied­schaf­ten und die vie­len blau­en Stimmen.

Viel­leicht wäre die DDR nach weni­gen Mona­ten oder Jah­ren kom­plett geschei­tert, viel­leicht wäre die Hälf­te abge­hau­en, viel­leicht wäre eine Olig­ar­chie ent­stan­den. Wer weiß das schon? Eben­so könn­te man sagen: Viel­leicht wäre sie den Weg von Polen, Tsche­chi­en oder der Bal­ten gegan­gen, die heu­te dank EU & Co., vor allem aber auch dank sich selbst gut daste­hen. Viel­leicht wäre es bald zu einer geord­ne­ten Wie­der­ver­ei­ni­gung gekom­men, bei der Osten sozi­al­wirt­schaft­lich und der Wes­ten ein klein wenig sozia­ler gewor­den wäre. Hät­te, hät­te, Menschenkette.

Wie ging es nach der letzten Volkskammerwahl weiter?

Am 12. April 1990 wur­de Lothar de Mai­ziè­re, der Spit­zen­kan­di­dat der Ost-CDU, zum Minis­ter­prä­si­den­ten der DDR gewählt. Er amtier­te bis 2. Okto­ber 1990. Lothar de Mai­ziè­re bil­de­te eine Gro­ße Koali­ti­on aus der Alli­anz, der SPD und den Liberalen.

Die DSU erhielt zwei Minis­ter­pos­ten. Sie wur­den von Hans-Wil­helm Ebe­l­ing und Peter-Micha­el Die­s­tel beklei­det. Bei­de tra­ten unter Bei­be­hal­tung ihrer Minis­ter­äm­ter am 30. Juni 1990 aus der DSU aus. Als Grund wur­de zuneh­men­der Rechts­extre­mis­mus in der Par­tei genannt.

Beim Demo­kra­ti­schen Auf­bruch folg­te auf Wolf­gang Schnur Pfar­rer Rai­ner Eppel­mann als Par­tei­vor­sit­zen­der. Er wur­de Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter der neu­en Regie­rung. Schnur hat­te Ange­la Mer­kel ein­ge­stellt und zur Pres­se­spre­che­rin gemacht. Sie wur­de nach der Wahl stell­ver­tre­ten­de Regie­rungs­spre­che­rin der DDR und anschlie­ßend Minis­te­ri­al­rä­tin im Bun­des­pres­se­amt. Dank ihres Direkt­man­dats bei der Bun­des­tags­wahl 1990 wur­de sie 1991 zur Bun­des­mi­nis­te­rin für Frau­en und Jugend.

Stän­di­ge Gesprächs­part­ner von Wolf­gang Schnur als Ver­trau­ens­an­walt der Evan­ge­li­schen Kir­che in der DDR waren übri­gens Horst Kas­ner, Vater von Ange­la Mer­kel, und Cle­mens de Mai­ziè­re, Vater von Lothar de Mai­ziè­re. Deren Ver­hand­lungs­part­ner in der DDR-Regie­rung war der Staats­se­kre­tär für Kir­chen­fra­gen. Von 1979 bis 1988 hat­te die­ses Amt Klaus Gysi inne, Vater von Gre­gor Gysi.

Am 24. März 1990 wur­de auch der Spit­zen­kan­di­dat der Ost-SPD Ibra­him Böh­me vom Spie­gel als Inof­fi­zi­el­ler Mit­ar­bei­ter des MfS ent­tarnt. Er trat von sei­nen Ämtern zurück und wur­de 1992 aus der SPD ausgeschlossen.

Hel­mut Kohl blieb durch sein Enga­ge­ment für die Wie­der­ver­ei­ni­gung im Amt. Danach hat­te es 1989 bis zum Mau­er­fall nicht mehr aus­ge­se­hen. Nach star­ken Stim­men­ver­lus­ten für die CDU bei der Wahl zum Abge­ord­ne­ten­haus von Ber­lin Ende Janu­ar 1989 und bei den Kom­mu­nal­wah­len in Hes­sen im ers­ten Quar­tal 1989 wur­de von Hei­ner Geiß­ler, Lothar Späth und Rita Süss­muth sogar sei­ne Ablö­sung auf dem CDU-Par­tei­tag im Sep­tem­ber ver­ab­re­det, weil kei­ne Sieg­chan­cen für nächs­te Bun­des­tags­wahl mehr ein­ge­räumt wurden.

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