Die Journalistin Beatrice von Braunschweig, Mitgründerin des N5 Symposium und Mitglied des Legatum e.V., ist eine wichtige Impulsgeberin für Ostdeutschland. Sie setzt sich ein für Vergewisserung, Verständigung und Versöhnung. Mit diesem Beitrag ist sie auch in dem Sammelband „Denke ich an Ostdeutschland ...“ vertreten.
Ihre Augen wandern durch den gefliesten Flur. Neonlicht an der Decke. Die Dame zieht ihre Augenbrauen zusammen: „Und hier wohnt ihr?“ Sie schaut aus dem Fenster. Das Dach des Nebengebäudes ist eingestürzt. Einige Meter weiter beobachtet ein blondes Mädchen die Dame und wundert sich: Was erlaubt sie sich?
Das kleine Mädchen war ich – vor etwa 15 Jahren. Noch heute stört es mich, dass meine Mutter jahrelang erklären musste, wieso sie mit meinem Vater in „den Osten“ umzog. In Westdeutschland mache ich ähnliche Erfahrungen, da ich in Halle (Saale) aufgewachsen bin: „Nicht Halle (Westfalen)? Ah, neben Leipzig. Cool, da hat ein Bekannter eine Wohnung gekauft.“ Aber von vorn.
Meine (w)ostdeutsche Biografie
Meine Eltern kamen in den 1990er-Jahren aus Niedersachsen berufsbedingt nach Sachsen-Anhalt und zogen drei Kinder groß. Somit habe ich „Wessi“-Eltern, aber eine ostdeutsche Heimat. Auf der Identitätsskala zwischen Ost und West ordne ich mich deswegen gern in der Mitte ein. Als Wossi eben. „Ganz besondere Deutsche“, schreibt die Deutsche Welle. „Als Westdeutsche arbeiteten und lebten sie im Osten Deutschlands – manche blieben für immer, andere gingen wieder.“ Meine Eltern sind geblieben.
Meine „Mami“ (nicht: Mama) brachte mich kurz nach ihrem 40. Geburtstag auf die Welt. Andere Frauen in ihrem Alter freuten sich schon auf Enkel. In der Grundschulzeit besuchte ich anders als meine Klassenkameraden nicht den Hort, sondern ging direkt nach dem Unterricht nach Hause. Denn erst als alle drei Kinder aus dem Gröbsten heraus waren, stieg meine Mutter wieder in die Berufswelt ein. Dafür ziehen sich die Arbeitszeiten meines Vaters bis heute in die späten Abendstunden. Ich verbrachte meine Ferien oft in den alten Bundesländern und besuchte Freunde oder Verwandte. Unser Familienurlaub kannte aber nur ein Ziel: die Ostsee in Mecklenburg-Vorpommern.
Als Kind waren mir natürlich jegliche Kategorien gleich. Doch die unterschiedlichen Lebensweisen haben mich geprägt und für die jeweiligen Eigenheiten sensibilisiert. Es lässt mich nicht kalt, dass meine Freunde immer noch mit „Bananenwitzen“ konfrontiert sind, der sächsische Dialekt ein negatives Image hat und das Gefühl existiert, eine ostdeutsche Bildungsbiografie wäre auf dem gesamtdeutschen Arbeitsmarkt weniger wert.
Wenn ich an Ostdeutschland denke, fallen mir die unzähligen engagierten jungen Menschen ein, die ihre Heimatregion in eine positive Zukunft tragen wollen.”
Ost-West – wen juckt’s?
Ostdeutsche teilen spezifische Erfahrungen im Privat- und Berufsleben. Beispielweise spielt eine ostdeutsche Herkunft für junge Menschen erst dann eine Rolle, sobald sie im Kontakt mit Westdeutschen stehen.
Deswegen bieten wir mit dem Verein Legatum e.V. Mentoring an, um bei der Berufsfindung und beim Jobeinstieg zu unterstützen. Darauf aufbauend haben wir als Studierende vor drei Jahren das N5 Symposium (kurz: N5), die „jüngste Ideenfabrik Ostdeutschlands“, ins Leben gerufen. Unser Netzwerk an Studierenden und Berufstätigen umfasst mittlerweile rund 500 Personen mit ostdeutscher Biografie. Wir wollen sie fördern, vernetzen und auf ihrem Berufsweg bestärken. Im Folgenden hebe ich zwei Punkte hervor, die einen entscheidenden Unterschied für Jugendliche sowie Ehrenämtler machen können und bei denen wir an uns selbst arbeiten müssen.
Stipendien: it’s not just about the money
300 Euro pro Monat, Sprachkurse, geförderte Auslandsaufenthalte, Austausch mit anderen motivierten Studierenden – wer würde da Nein sagen? Genau einem Prozent aller Studierenden in Deutschland kommen diese Vorteile zugute. Der Bund stattet 13 Begabtenförderungswerke mit insgesamt 312,9 Millionen Euro aus, um junge talentierte Menschen finanziell und ideell zu fördern. Kurzfristig ist für Studierende besonders die monatliche Überweisung auf das magere Studi-Konto attraktiv. Langfristig profitieren Stipendiaten aber vor allem von Seminaren und Kontakten in Führungsebenen.
Es ist ein Privileg dazuzugehören. Und auf dieses Privileg kann man sich bewerben. Obwohl die formalen Aufnahmekriterien für alle Bewerber gleich sind, erhalten jedes Semester proportional überwiegend westdeutsche Kommilitonen eine Zusage. Das ist einer der vielen Gründe, warum Ostdeutsche noch immer in Führungspositionen unterrepräsentiert sind. Sogenannte „Eliten“ rekrutieren sich gern selbst. Wenn es nach dem thüringischen Minister Wolfgang Tiefensee geht, sollten ostdeutsche Studierende einfach öfter in die Tasten hauen und eine Bewerbung abschicken. „Die Ostdeutschen stellen ihr Licht leider immer noch zu oft unter den Scheffel“, zitiert ihn die dpa 2021. Doch die Ursachen liegen tiefer.
Wenn ich an Ostdeutschland denke, sehe ich viel ungenutztes Potenzial. Studierende haben häufig noch nie von dieser Art Förderung gehört. Wenn doch, fehlt es an Selbstbewusstsein, eine Bewerbung einzureichen. Vorbilder aus dem eigenen Umfeld fehlen.
Von meiner Arbeit bei Legatum weiß ich, dass es als Außenstehende fast unmöglich ist, über Bildungsinstitute für gute Projekte zu werben. E-Mails und Anrufe verpuffen. Ja, Bildungsinstitute sollen wählerisch sein, mit wem sie zusammenarbeiten. Das darf aber nicht dazu führen, dass ostdeutschen Studierenden, Azubis und Berufstätigen zahlreiche Möglichkeiten entgehen, über sich hinauszuwachsen. Letztlich geht dieser Appell an uns alle: Wenn wir von Stipendien und Förderprogrammen wissen, müssen wir sie Kollegen, Freunden, Verwandten weitererzählen. Sowohl per direkter Ansprache als auch in den sozialen Netzwerken. Wir müssen uns selbst und allen anderen Mut machen, sich um Stipendien zu bewerben. Gleiches gilt für Stiftungsgelder. Nur so können wir die Ambitionen anderer effektiv fördern. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Voraussetzungen für Chancengerechtigkeit in Deutschland theoretisch vorhanden sind. Wir müssen die vorhandenen Mittel nur besser nutzen.
Wo sind die Stiftungen in Ostdeutschland?
Menschen in Ostdeutschland verdienen durchschnittlich 800 Euro weniger Bruttolohn pro Monat als ihre Mitbürger in Westdeutschland. Wo weniger Lohn und Erbe, da weniger Kapital, da weniger Spenden für wohltätige Zwecke. Unser N5 Symposium zum Beispiel ist bislang auf die großzügige Unterstützung der Bundesregierung angewiesen. Daneben wirbt das ehrenamtliche N5-Team fleißig Unternehmen für bezahlte Kooperationen an. Wir wünschen uns, dass Stiftungen finanzielle Lücken in der ostdeutschen Ehrenamtslandschaft schließen. Denn obwohl es 25.000 Stiftungen in Deutschland gibt, verteilen sich laut dem Bundesverband Deutsche Stiftungen nur sieben Prozent auf die neuen Bundesländer (ohne Berlin). Das hat Folgen.
Als Stütze der Gesellschaft fördern Stiftungen maßgeblich demokratische Kultur und ein tolerantes Miteinander – etwas, was derzeit besonders in Ostdeutschland gefragt ist. Insbesondere im ländlichen Raum kommen Fördergelder leider zu selten an.
Die Schieflage in der deutschen Stiftungslandschaft ist auch im Bundesverband angekommen. Der erste Schritt erfolgt jetzt mit der Initiative „Zukunftswege Ost“. In Kürze soll ein Gemeinschaftsfonds aus privaten Mitteln Projekte in Ostdeutschland finanzieren.
Schon jetzt arbeiten die meisten zivilgesellschaftlichen Organisationen mit Unternehmen zusammen. Wir bei Legatum e.V. und dem N5 Symposium bedauern jedoch, dass kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) ohne persönliche Kontakte schwer aufzufinden sind. Hier wären ein prägnanter Online-Auftritt und zentrale Ansprechpersonen wünschenswert. Sonst sind es immer wieder dieselben großen Konzerne, die sich durch Kooperationen öffentlichkeitswirksam hervortun können. Kurz: Finanzstarke Akteure sollen animiert werden, sich mit Stiftungen in Ostdeutschland niederzulassen. KMU, für die eine Stiftungsgründung nicht infrage kommt, können sich durch Sponsoring erkenntlich zeigen. Auch Pro-bono-Aktivitäten zeigen Wirkung. Engagement lebt eben nicht nur von Luft und Liebe, sondern braucht auch Geld.
Ein Stück Selbstkritik
Eigentlich sollte ich der Dame aus meinem Prolog dankbar sein. Aussagen wie ihre haben mich motiviert, das N5 Symposium mit einem engagierten Team zu gründen und Ostdeutschland mit Legatum e.V. von innen heraus zu pushen. Doch unser aller Erfolg hängt in erster Linie von uns selbst ab:
Erstens brauchen wir eine strukturierte Aufarbeitung der Nachwendezeit. Sowohl Erfolge als auch Misserfolge der „Eingliederung“ der DDR in die BRD (oder „Wiedervereinigung“) müssen benannt werden. Dann können wir konstruktive Lösungsansätze für das Jetzt und Morgen schmieden.
Zweitens zählt Eigeninitiative. Netzwerke und Förderprogramme helfen. Doch davor müssen wir allen Mut für eine Bewerbung zusammennehmen. Dann können wir anderen Engagierten das Wissen weitergeben.
Drittens müssen wir Gleichgesinnte ins Boot holen – egal, ob aus Ost- oder Westdeutschland oder dem Ausland. Wer immer Lust auf die neuen Bundesländer hat und Ideen mitbringt, soll sich willkommen fühlen! Hier sind nicht nur Arbeitgeber, sondern auch das Kollegium und die Nachbarschaft gefragt: also Sie und ich – wir alle höchstpersönlich.
Wenn ich an Ostdeutschland denke, fallen mir die unzähligen engagierten jungen Menschen ein, die ihre Heimatregion in eine positive Zukunft tragen wollen. Machen Sie mit!
Literaturnachweise
1. https://learngerman.dw.com/de/wossis/l-38661475, abgerufen am 29.04.2024
2. Kubiak, D.: „Der Fall ‚Ostdeutschland‘: ‚Einheitsfiktion‘ als Herausforderung für die Integration am Fallbeispiel der Ost-West-Differenz“, 2017; Vogel, L., Leser, J.: „Ostdeutsche Identität(en) im Wandel? Perspektiven für Intra- und Interkohortenvergleiche“, 2020
3. https://www.bmbf.de/bmbf/de/bildung/begabtenfoerderung/die-begabtenfoerderungswerke/die-begabtenfoerderungswerke_node.html, abgerufen am 29.04.2024
4. https://www.mdr.de/themen/dnadesostens/projekt/studie-der-lange-weg-nach-oben-100.html, abgerufen am 29.04.2024
5. https://www.sueddeutsche.de/bildung/erfurt-minister-ostdeutsche-sollten-bei-stipendien-mutiger-sein-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-210921-99-295376, abgerufen am 29.04.2024
6. https://www.tagesschau.de/wirtschaft/arbeitsmarkt/lohnluecke-ost-west-100.html, abgerufen am 05.05.2024
7. Bundesverband Deutsche Stiftungen
8. https://www.zukunftswege-ost.de/, abgerufen am 10.04.2024
9. https://www.ziviz.de/sites/ziv/files/ostdeutschland_vielfaeltig_lokal_vernetzt.pdf, abgerufen am 19.04.2024
Beatrice von Braunschweig
GEBOREN: 1999/Halle (Saale)
WOHNORT (aktuell): Hamburg
MEIN FILMTIPP: „Nachwendekinder”, Eva Hofmann, 2024
MEIN PODCASTTIPP: „Ostwärts“, Nine-Christine Müller
MEINE URLAUBSTIPPS: Saaleradweg, Brachwitzer Alpen (Region Halle/Saale)
BUCHTIPP:
„Denke ich an Ostdeutschland ...“In der Beziehung von Ost- und Westdeutschland ist auch 35 Jahre nach dem Mauerfall noch ein Knoten. Dieser Sammelband will einen Beitrag dazu leisten, ihn zu lösen. Die 60 Autorinnen und Autoren geben in ihren Beiträgen wichtige Impulse für eine gemeinsame Zukunft. Sie zeigen Chancen auf und skizzieren Perspektiven, scheuen sich aber auch nicht, Herausforderungen zu benennen. Die „Impulsgeberinnen und Impulsgeber für Ostdeutschland“ erzählen Geschichten und schildern Sachverhalte, die aufklären, Mut machen sowie ein positives, konstruktiv nach vorn schauendes Narrativ für Ostdeutschland bilden. „Denke ich an Ostdeutschland ... Impulse für eine gemeinsame Zukunft“, Frank und Robert Nehring (Hgg.), PRIMA VIER Nehring Verlag, Berlin 2024, 224 S., DIN A4. Als Hardcover und E-Book hier erhältlich. |