Heute vor 72 Jahren fand in der DDR ein Aufstand von weiten Teilen der Bevölkerung statt. Er wurde mithilfe des sowjetischen Militärs beendet. Im Anschluss wurde das Ereignis von Ost und West instrumentalisiert. Was war passiert?

Gedenkstein im Viktoriapark, Berlin-Kreuzberg. Abbildung: Ulf Heinsohn, Wikimedia Commons CC-BY-SA-3.0.
In den Tagen um den 17. Juni 1953 kam es in der DDR zu einer Welle von Streiks, Protesten und Demonstrationen. An diesen beteiligten sich je nach Schätzung zwischen 400.000 und 1,5 Millionen Menschen, vornehmlich Arbeiter, in allen großen sowie vielen kleinen Städten und Ortschaften. Aufgelöst wurde der Aufstand durch die Präsenz und das Eingreifen von Truppen der sowjetischen Besatzungsmacht unter Beteiligung der DDR-Polizei. Über 50 Aufständische kamen zu Tode. Auf der anderen Seite wurden mindestens fünf Angehörige der DDR-Sicherheitsorgane getötet.
Wie konnte es dazu kommen?
Die DDR war noch jung. Wie die Bundesrepublik, die sich ihr wirtschaftliches, politisches und gesellschaftliches System ebenso wenig aussuchen konnte, war sie erst 1949 gegründet worden. Während der Westen Deutschlands jedoch vom Marshallplan profitierte, zahlte der Osten die Zeche für den Zweiten Weltkrieg und zwar für den Westen gleich mit. Die Sowjetunion nahm sich für das erlittene Leid, die Millionen Toten und die Zerstörung ihrer Heimat, was sie konnte von Deutschland, und zwar aus „ihrem“ Teil davon, der SBZ. Die Sowjetische Besatzungszone bzw. DDR leistete mit 99,1 Milliarden DM (zu Preisen von 1953) etwa 98 Prozent der Reparationslast Gesamtdeutschlands. Pro Person leistete ein Ostdeutscher das 130-Fache eines Westdeutschen. Die BRD dagegen erhielt im Rahmen des Marshallplans von den USA 1,41 Milliarden US-Dollar. Die Hilfsleistungen bestanden zu einem großen Teil aus Krediten sowie Lieferungen von Rohstoffen, Lebensmitteln und Industriegütern.
Neben den immensen Reparationsleistungen belastete der im April 1952 von Moskau befohlene Neuaufbau von Streitkräften – über eine „Kasernierten Volkspolizei“ zu einer „Volksarmee“ – den Haushalt. Aufrüstungs- und Kriegsfolgekosten machten 1952 22 Prozent und 1953 über 18 Prozent des gesamten Staatshaushalts aus. Weiterhin gab es überaus herausfordernde Exportvorgaben in die sozialistischen Bruderländer. Im Herbst 1952 wurden zudem sehr unterdurchschnittliche Ernten eingefahren. Den DDR-Bürgern stand nur die halbe Menge an Fleisch und Fett im Verglich zur Vorkriegszeit zur Verfügung. Die Wirtschaft der DDR, die noch mitten im Aufbau und weitgehend auf sich gestellt war, befand sich in einer Krise. Bei Einbruch der Dunkelheit gab es Stromabschaltungen, um in Spitzenzeiten den Bedarf der Industrie zu decken.
Großen Anteil an der Situation hatte auch die starke Abwanderung. Was besonders schmerzte: Viele der Besten gingen in den Westen. Unzufriedenheit herrschte auch aufgrund der Inhaftierung von Kritikern der aktuellen Entwicklungen und der von Stalin vorgegebenen Kollektivierung der Land- wie gesamten Privatwirtschaft, was insbesondere Bauern und Handwerker wütend machte.

Sowjetische Panzer in der Schützenstraße, Berlin-Mitte. Abbildung: Bundesarchiv, B 145 Bild-F005191-0040/CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0.
Mehr arbeiten für den gleichen Lohn
Unter dem Druck der Sowjetunion entschied sich die DDR-Führung zur Erreichung der Vorgabe, Front- und Musterstaat des Sozialismus werden zu sollen, dafür, die schlechte Konsumsituation zu ignorieren und die Normen um zehn Prozent zu erhöhen. Das hieß, dass für denselben Lohn nun mehr gearbeitet werden sollte. So wie es etwa der Bergmann Adolf Hennecke 1948 – später nationalpreisgekrönt – vorgemacht hatte, als er an einem Tag 24 statt der verlangten sechs Kubikmeter Steinkohle schlug.
Die Unzufriedenheit der Bevölkerung blieb den Oberen nicht verborgen. Deshalb beschloss das Politbüro am 6. Juni 1953 einen „neuen Kurs“. Er wurde am 11. Juni im SED-Zentralorgan Neues Deutschland verkündet: mehr Konsumgüter, weniger Sozialismus, Rückgabe von Geschäften, Betrieben und konfiszierten Landmaschinen, Prüfung aller Verhaftungen und Urteile sowie weniger Kult um Ulbricht, dessen 60. Geburtstag bevorstand.
Auslöser und Katalysator
Dennoch kam es am 16. Juni zum Auslöser der Katastrophe: Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) verteidigte in seiner Zeitung „Tribüne“ die Normerhöhung. Gleich am Mittag ließ das Politbüro über den DDR-Rundfunk verbreiten, die Normen würden dennoch zurückgenommen. Doch das erreichte viele nicht mehr. Sie gingen auf die Straße. Unter den Forderungen der Demonstranten fanden sich nun auch vereinzelt solche: „Rücktritt der Regierung“, „freie Wahlen“ und „Freilassung aller politischen Gefangenen“.

Leipzig: Sowjetischer Panzer während des Aufstands vor dem Georgi-Dimitroff-Museum. Abbildung: Bundesarchiv, B 285 Bild-14676/CC-BY-SA 3.0.
Von entscheidender Bedeutung für den weiteren Verlauf war der Westberliner Sender RIAS, das „Radio im amerikanischen Sektor“, welches bereits am Abend des 15. Juni begann, detailliert über die Proteste und Demonstrationen zu berichten. Chefredakteur Egon Bahr wurde von der amerikanischen Militäradministration zwar verboten, den Streikaufruf zu verbreiten („Wollen Sie einen dritten Weltkrieg auslösen?“), ließ aber unter anderem melden, dass sich die Streikenden am 17. Juni um 7 Uhr am Strausberger Platz in der in Bau befindlichen Stalinallee (heute Karl-Marx-Allee, Berlin-Mitte) versammeln wollten. In einer Zeit ohne Internet und Mobiltelefon war der RIAS ein wesentlicher Faktor, ein Katalysator für den großen Zulauf.

Die Stalinallee mit Stalin-Denkmal 1953. Abbildung: Bundesarchiv, Bild 183-19915-0006/Krueger/CC-BY-SA 3.0
Militär und Polizei lösen auf
Beendet wurde der Aufstand durch die massive Präsenz der Sowjetarmee, die Panzer auffuhr. Zusammen mit Polizeikräften der DDR griff sie auch vereinzelt ein. Als dann noch Gewitter begannen, gingen die meisten wieder nach Hause. Mancherorts wurde auch in den Tagen danach noch protestiert. Die nächsten Wochen waren von gegenseitiger Missachtung bei Arbeitern und Partei geprägt. Im Zusammenhang mit dem Aufstand sollen 15.000 DDR-Bürger verhaftet und verhört worden sein und jeder Zehnte davon eine Haftstrafe erhalten haben.
Die DDR-Führung erklärte den Aufstand zu einem vom Westen gelenkten „faschistischen Putschversuch“ und suchte auch in den eigenen Reihen Schuldige. Justizminister Max Fechner, der mäßigend auf die Strafjustiz einwirken wollte, wurde inhaftiert. Stasichef Wilhelm Zaisser wurde abgesetzt. Neuer erster Mann wurde Erich Mielke, der nun alles dafür tat, dass ein solcher Aufstand nie wieder würde stattfinden können.
Die Regierung schlug ihren „neuen Kurs“ ein. Er führte zu mehr Konsumgütern, mehr Nahrungs- und Genussmitteln. Die Reparationszahlungen an die Sowjetunion endeten und die sozialistischen Bruderländer lieferten nun auch an die DDR. Die Normen blieben auf dem niedrigeren Niveau.
Totgeschwiegen und angeeignet
In der DDR wurde über den 17. Juni bald nicht mehr gesprochen, er war tabu. In der BRD jedoch kam er zu höchsten Ehren.
Zunächst benannte 22. Juni 1953 der Westberliner Senat die Berliner Straße und die Charlottenburger Chaussee zwischen dem Brandenburger Tor und dem S-Bahnhof Tiergarten, später dem Ernst-Reuter-Platz, in „Straße des 17. Juni“ um. Durch Gesetz vom 4. August 1953 erklärte der Bundestag in Bonn den 17. Juni dann sogar zum „Tag der deutschen Einheit“ und gesetzlichen Feiertag. Das blieb er bis zum 3. Oktober 1990.

1953: Die Deutsche Post gab in Westberlin eine Sonderbriefmarke heraus. Abbildung: NobbiP/Wikimedia Commons.
Einen Aufstand in einem anderen Staat zum eigenen Nationalfeiertag zu machen, stellt eine massive Aneignung dar. Diesen Umstand hat Ursula Weidenfeld in ihrer Parallelerzählung „Das doppelte Deutschland“ (2024) herausgearbeitet. Der 17. Juni wurde in der BRD als Beweis des Willens der Ostdeutschen zur Einheit in – kapitalistischer – Freiheit und zugleich als Ausweis westdeutscher Treue zum Verfassungsauftrag zur deutschen Einheit beschworen, obwohl weder die eine noch die andere Seite damals wie bis 1989 die deutsche Einheit ernsthaft verfolgten. Auch das muss man sich heute einmal vorstellen.
Und apropos heute: Noch 2025 müssen am 17. Juni bundesweit die Dienstgebäude aller Behörden und Dienststellen des Bundes beflaggt werden. Sogar Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts, die der Aufsicht von Bundesbehörden unterstehen, müssen die Flaggen hissen.