Andreas Müller, der Geschäftsführer von Mühle bzw. der Hans-Jürgen Müller GmbH & Co. KG, ist ein wichtiger Impulsgeber für Ostdeutschland. Er setzt sich ein für Vergewisserung, Verständigung und Versöhnung. Mit diesem Beitrag ist er auch in dem Sammelband „Denke ich an Ostdeutschland ...“ vertreten.
1945 legte mein Großvater, Otto Johannes Müller, der gerade aus den Wirren des Krieges zurückgekehrt war, den Grundstein zu einem international anerkannten Unternehmen. Erfüllt von einem tiefen Glauben an eine bessere Zukunft und einem unbeirrbaren Optimismus, begann er in der Waschküche unseres Familienhauses, Besen, Bürsten und Rasierpinsel zu fertigen. Diese Produkte waren nicht nur Gegenstände des täglichen Bedarfs, für meinen Großvater symbolisierten sie die Hoffnung auf einen Neuanfang und gaben ihm eine konkrete Zukunftsperspektive. Schnell begann er sich auf die Produktion von Rasierpinseln zu spezialisieren. In einer Zeit, die von Unsicherheit und dem dringenden Bedürfnis nach Wiederaufbau geprägt war, bewies mein Großvater damit eine bemerkenswerte unternehmerische Weitsicht.
Trotz aller wirtschaftlichen Herausforderungen, die die unmittelbare Nachkriegszeit mit sich brachte, gelang es ihm bald, die ersten Mitarbeitenden einzustellen. Es war der Beginn eines neuen Kapitels. Mit einem klaren Blick für die Bedürfnisse der Menschen und einer bemerkenswerten Fähigkeit, Chancen zu erkennen, ging er seinen Weg. Er wollte nicht nur ein Geschäft aufbauen, sondern auch einen Beitrag zum Wiederaufbau der Gesellschaft leisten und Arbeitsplätze für diejenigen schaffen, die sie am dringendsten benötigten. So spiegelte sein Unternehmergeist auch ein tiefes Verständnis für die Notwendigkeit wider, eine bessere Zukunft für alle zu gestalten. Er war bereit, Risiken einzugehen, und hatte das seltene Talent, andere mit seiner Begeisterung anzustecken und sie für seine Ideen zu gewinnen. Sein Lebenswerk, das aus den Trümmern des Krieges entstand, dient mir bis heute als leuchtendes Beispiel für die Kraft des menschlichen Geistes, für Entschlossenheit und für die unerschütterliche Überzeugung, dass aus den dunkelsten Stunden immer ein neuer Morgen erwachsen kann.
Die alten Strukturen und Geschäftsmodelle funktionierten nicht mehr. Es war notwendig, neue Wege zu gehen.”
Von Rückschlägen und Neuanfängen
In den ersten vier Jahren nach der Unternehmensgründung konnte mein Großvater bereits einige Exportkunden im Ausland gewinnen. Der Betrieb scheint in der kurzen Zeit einen kontinuierlichen Aufschwung zu erleben, bis es im Jahr 1949 zu einem völlig überraschenden Unglück kommt. Ein Brand legt den damaligen Firmensitz nahezu vollständig in Schutt und Asche. Doch mit der ihn auszeichnenden Entschlossenheit baute mein Großvater das Unternehmen neu auf. Wieder richtete er seinen Blick auf den internationalen Markt und akquirierte neue Auslandskunden. Über ein Jahrzehnt wuchs die Firma auf eine beträchtliche Größe und entwickelte sich prächtig. 1965 kam es zu einem erneuten Schicksalsschlag, als mein Großvater plötzlich und unerwartet im Alter von gerade einmal 51 Jahren starb. Die Tragödie seines frühen Todes stellte das Unternehmen vor eine seiner größten Herausforderungen.
Mein Vater, Hans-Jürgen Müller, trat in seine Fußstapfen und übernahm die Leitung des Unternehmens. Mit der gleichen visionären Kraft und dem unternehmerischen Geschick, das er von meinem Großvater geerbt hatte, führte er das Unternehmen zu internationalem Ansehen. Unter seiner Leitung wuchs die Belegschaft auf 40 Mitarbeitende und die Produkte von Mühle fanden ihren Weg in 36 Länder weltweit. Meine eigene Kindheit war untrennbar mit dem Unternehmen verbunden. Nach der Zwangsverstaatlichung im Jahr 1972 durch die DDR-Führung, die auch das Unternehmen meines Großvaters erfasste und in einen Volkseigenen Betrieb (VEB) umwandelte, arbeiteten meine Eltern weiterhin dort. Ich verbrachte viele Ferien mit Arbeitseinsätzen im Betrieb, um mein Taschengeld aufzubessern. Mein Vater stand vor der gewaltigen Aufgabe, das Unternehmen durch eine Zeit zu führen, die von politischen Umwälzungen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten geprägt war. Der Bau eines neuen Unternehmensstandorts und die immer schwieriger werdenden politischen Bedingungen in der DDR belasteten ihn zusätzlich. Die Jahre der sozialistischen Mangelwirtschaft hinterließen deutliche Spuren in unserem Betrieb. Der Maschinenpark veraltete zunehmend, es mangelte an Materialien und das Produktportfolio wurde immer stärker begrenzt. Der Vertrieb konzentrierte sich vornehmlich auf kommunistische Länder, wobei die Produktion immer stärker auf Masse ausgerichtet wurde. In der Konsequenz verließ mein Vater 1987 den Volkseigenen Betrieb und machte sich als Bürstenmacher selbstständig.
Ein neues Kapitel
1989 kam die politische Wende in der DDR, an die sogar mein Großvater zu Lebzeiten noch fest geglaubt haben soll. Mein Vater entschied sich für einen Neuanfang zugunsten der Firma. Er nutzte die Gelegenheit zur Reprivatisierung des Unternehmens und nahm mit lediglich vier Mitarbeitenden die Produktion wieder auf. Die Jahre der staatlichen Kontrolle, Planwirtschaft und Zwangsverstaatlichung hatten tiefe Wunden hinterlassen. Die alten Strukturen und Geschäftsmodelle funktionierten nicht mehr. Es war notwendig, neue Wege zu gehen, neue Strategien zu entwickeln. Die erste Zeit in den frühen 1990er-Jahren stellte uns vor große wirtschaftliche Herausforderungen. Es wurden alle Kräfte gebündelt, das Unternehmen zu modernisieren und zu diversifizieren, um den sich verändernden Marktbedingungen gerecht zu werden. Es mussten Investitionen in neue Technologien und Produktionsanlagen getätigt werden, das Produktportfolio der Marke Mühle wurde weiter ausgebaut. Mit bewundernswertem Fleiß und einer Mischung aus Konsequenz und Hartnäckigkeit gelang es unserem Vater, das Unternehmen zu stabilisieren. Mein Bruder, der das traditionelle Handwerk des Bürsten- und Pinselmachers erlernt hatte, knüpfte zunehmend Kontakte im Ausland. Neue Kunden konnten gewonnen und ehemalige Mitarbeitende wieder eingestellt werden. 1995, im Jahr des 50-jährigen Bestehens der Firma, war das wirtschaftliche Überleben gesichert und der Blick richtete sich mit weniger Sorge und umso größerem Optimismus in die Zukunft.
Während meines Theologiestudiums, das ich 1997 aufgenommen hatte, fasste ich den Entschluss, später im väterlichen Unternehmen mitzuwirken. Eine Entscheidung, die ich nicht bereuen sollte. 2006 stieg ich offiziell in den Familienbetrieb ein, bereits zwei Jahre später übernahmen mein Bruder Christian und ich gemeinsam die Geschäftsführung. Ich konzentrierte mich fortan vornehmlich auf die Markenführung, den Ausbau der Fertigungstiefe und die Erweiterung des Portfolios. Mit einem Fokus auf hohe Designqualität und nachhaltige Produktion gelang es uns, das Unternehmen nicht nur zu erhalten, sondern auch zukunftsorientiert weiterzuentwickeln. Mit der Eröffnung des ersten Mühle-Stores inklusive Barber-Shop in den Hackeschen Höfen in Berlin 2014 und eines weiteren Stores im Herzen des Londoner West End 2018 wollten wir die internationale Präsenz der Marke unterstreichen. Dass Form und Gestaltung bei Mühle-Produkten zur Kern-DNA gehören, konnten wir mit der mehrfach prämierten Designserie Hexagon unter Beweis stellen, die wir in Zusammenarbeit mit dem Berliner Designer Mark Braun entwickelt haben. Das brachte uns in zwei aufeinanderfolgenden Jahren den Red Dot Design Award, den German Design Award und die Auszeichnung „Manufakturprodukt des Jahres“ ein. Hexagon symbolisiert die für Mühle typische Verbindung von traditionellem Handwerk mit modernem Design.
Nachhaltigkeit als Zukunftsmission
Die Besonderheiten von Manufakturbetrieben haben mich schon immer interessiert. Dazu zählt, dass sie häufig von einer vergleichsweise hohen Fertigungstiefe geprägt sind. Ein Faktor, der bei uns einen hohen Stellenwert hat und heute in unserem Unternehmen bei rund 70 Prozent liegt. So können wir einen Großteil der Wertschöpfungskette im eigenen Betrieb abbilden. Jüngst haben wir unseren Fertigungsstandort durch den Bau einer neuen Produktionshalle erweitert. Für eine signifikante Gebäudeeffizienz sorgen Elemente wie eine Industriebodenheizung, die mittels einer Solewärmepumpe betrieben wird. Zudem wird das für das Heizen der Räumlichkeiten ausgestoßene Gas kompensiert. Inzwischen läuft die gesamte Produktion sogar mit 100 Prozent Ökostrom, was uns nicht zuletzt die Erweiterung der hauseigenen Fotovoltaik-Anlagen auf den Gebäudedächern ermöglicht. Auf Produktseite findet sich einer der wichtigsten Nachhaltigkeitsaspekte wohl schon seit Anbeginn der Marke wieder. Er geht zurück auf die hohe Qualität und damit einhergehend die lange Lebensdauer unserer Rasierpinsel und der später hinzugekommenen Rasierhobel. Außerdem dienen unsere herausschraubbaren Pinselköpfe nicht nur der einfachen Ersetzbarkeit, sondern auch der Müllvermeidung, da die Pinselgriffe einfach weiter genutzt werden können.
Ein Coup, auf den wir besonders stolz sind, ist die Entwicklung unserer Kunstfasern Silvertip Fibre und Black Fibre als Pinselbesatz. Sie sind nicht nur eine vegane Alternative zum Tierhaar, das bei hohen Pinselqualitäten für gewöhnlich zum Einsatz kommt, sie sind auch deutlich pflegeleichter und langlebiger. Als wir 2010 mit der Organic-Serie eine zertifizierte Naturpflegeserie einführten, haben wir damit nicht nur unser Portfolio von Pflegeprodukten erweitert, sondern sind damit auch einen weiteren Schritt in Richtung Nachhaltigkeit gegangen. Ein Meilenstein war ebenfalls die Markteinführung des Companion-Rasierers 2022 – der erste Rasierhobel, der speziell für den geschlechterübergreifenden Einsatz und eine neue Generation von Kundschaft entwickelt wurde, die sich der Zero-Waste-Philosophie verbunden fühlt. Aus ähnlichen Motiven haben wir 2024 auch die Pflegeserie Essentials lanciert. Sie umfasst wenige, essenzielle Produkte für die Körperpflege und ist im Wesentlichen gekennzeichnet durch ihre Reduziertheit, sowohl in puncto Inhaltsstoffe als auch Verpackung. Der Umstieg auf plastikfreie Verpackungen aus Papier und Pappe ist ein Projekt, das wir seit einigen Jahren dort, wo es möglich ist, konsequent umsetzen und bei dem wir uns zu meiner großen Freude praktisch auf der Zielgeraden befinden. Schon mein Großvater verfolgte bei der Unternehmensgründung, nach damaliger wie heutiger Auffassung, zweifellos nachhaltige Ansätze. Er setzte die spärlich vorhandenen materiellen sowie immateriellen Ressourcen effizient ein und sein Führungsstil war geprägt von sozialer Kompetenz und Gerechtigkeit. Das Verständnis für Umweltschutz war zwar im damaligen Kontext noch nicht ansatzweise vergleichbar mit dem Bewusstsein, das heute in großen Teilen der Bevölkerung vorherrscht, eine tiefe Verbundenheit mit der Natur und der erzgebirgischen Heimat wohnte aber auch meinem Großvater inne. Allesamt Werte, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden und mit der Zeit gewachsen sind. Werte, die für mich zum festen Kern der Markenidentität von Mühle gehören, die wir leben und durch fortwährende Initiativen vorantreiben möchten.
Hans-Jürgen Müller GmbH & Co. KG
GEGRÜNDET: 1945/Hundshübel
STANDORT: Stützengrün, Ortsteil Hundshübel
MITARBEITENDE: 65
WEBSITE: muehle-shaving.com
Andreas Müller
GEBOREN: 1976/Schlema
WOHNORT (aktuell): Stützengrün (Erzgebirge)
MEIN BUCHTIPP: Jana Hensel: „Zonenkinder“, 2002
MEIN FILMTIPP: „Als wir träumten“, 2015
MEIN URLAUBSTIPP: Mecklenburgische Seenplatte
![]() „Denke ich an Ostdeutschland ...“In der Beziehung von Ost- und Westdeutschland ist auch 35 Jahre nach dem Mauerfall noch ein Knoten. Dieser Sammelband will einen Beitrag dazu leisten, ihn zu lösen. Die 60 Autorinnen und Autoren geben in ihren Beiträgen wichtige Impulse für eine gemeinsame Zukunft. Sie zeigen Chancen auf und skizzieren Perspektiven, scheuen sich aber auch nicht, Herausforderungen zu benennen. Die „Impulsgeberinnen und Impulsgeber für Ostdeutschland“ erzählen Geschichten und schildern Sachverhalte, die aufklären, Mut machen sowie ein positives, konstruktiv nach vorn schauendes Narrativ für Ostdeutschland bilden. „Denke ich an Ostdeutschland ... Impulse für eine gemeinsame Zukunft“, Frank und Robert Nehring (Hgg.), PRIMA VIER Nehring Verlag, Berlin 2024, 224 S., DIN A4. Als Hardcover und E-Book hier erhältlich. |