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Andrej Hermlin: Die Ostschrippe

Andrej Herm­lin vom Swing Dance Orches­tra „The Swin­gin’ Herm­lins“ ist ein wich­ti­ger Impuls­ge­ber für Ost­deutsch­land. Er setzt sich ein für Ver­ge­wis­se­rung, Ver­stän­di­gung und Ver­söh­nung. Mit die­sem Bei­trag ist er auch in dem Sam­mel­band „Den­ke ich an Ost­deutsch­land ...“ vertreten.

Andrej Hermlin, Swing Dance Orchestra „The Swinginʼ Hermlins“. Abbildung: Uwe Hauth

Andrej Herm­lin, Swing Dance Orches­tra „The Swin­gin’ Herm­lins“. Abbil­dung: Uwe Hauth

Nichts ist wohl so bit­ter und über­wäl­ti­gend wie eine ent­täusch­te Lie­be. Wenn der Jun­ge das begehr­te Mäd­chen nicht bekommt oder das Mäd­chen den begehr­ten Jun­gen nicht. Den­ke ich an das Ost­deutsch­land der letz­ten drei Jahr­zehn­te und ins­be­son­de­re an jenes unse­rer Tage, so fällt mir fast zwangs­läu­fig das Gleich­nis von der ent­täusch­ten Lie­be ein.

Wie groß waren sei­ner­zeit die Hoff­nun­gen gewe­sen, vor über drei Jahr­zehn­ten, als das klei­ne, miss­ra­te­ne, graue Land im Osten auf­ging in der bunt schim­mern­den, schein­bar alles ermög­li­chen­den gro­ßen Bun­des­re­pu­blik. Fast über Nacht wand­ten sich vie­le Ost­deut­sche von ihrer Ver­gan­gen­heit ab.

Sie ver­lie­ßen ihre Schau­spie­ler, ihre Dich­ter, ihre Musi­kan­ten. Sie woll­ten west­li­cher sein als der Wes­ten, sie aßen nun kei­ne Ost­schrip­pen mehr, son­dern die pap­pi­gen aus dem Super­markt, der sich – „Ach­tung, frisch gestri­chen!“ – in der alten Kauf­hal­le ein­ge­nis­tet hatte.

Die Ost­deut­schen woll­ten kei­ne Toma­ten mehr aus Bran­den­burg, son­dern jene aus den Nie­der­lan­den. Die schmeck­ten zwar fade, aber sie waren aus dem Westen.

Ach, waren die Hoff­nun­gen groß, die Sehn­sucht nach Lie­be und Aner­ken­nung. Doch das Mäd­chen woll­te den Jun­gen nicht. Die West­ler wie­sen die Ost­deut­schen schroff zurück. Ler­nen soll­ten sie, wie es im Kapi­ta­lis­mus so zugeht, sie hät­ten ja lang genug – zu lang – in einem klei­nen, miss­ra­te­nen, grau­en Land gelebt, wäh­rend drau­ßen das Leben war.

Andrej Hermlin and his Swing Dance Orchestra. Abbildung: Uwe Hauth

Andrej Herm­lin and his Swing Dance Orches­tra. Abbil­dung: Uwe Hauth

Andrej Hermlin mit seiner Tochter Rachel Hermlin und seinem Sohn David Hermlin. Abbildung: Uwe Hauth

Andrej Herm­lin mit sei­ner Toch­ter Rachel Herm­lin und sei­nem Sohn David Herm­lin. Abbil­dung: Uwe Hauth

Sie sei­en wie klei­ne Kin­der, die erst ein­mal erzo­gen wer­den müss­ten, bevor sie irgend­wann groß wer­den könn­ten. Dann, aber auch nur dann wür­de man sie – in fer­ner, unab­seh­ba­rer Zukunft – auf­neh­men in den Kreis der gleich­be­rech­tig­ten Erwach­se­nen. Das begehr­te Mäd­chen hat­te flüch­tig mit dem Auge gezwinkert.

Hal­tet euch ran, hieß es, fragt nicht viel, lasst uns das machen, dann wird die Wer­bung aus dem West­fern­se­hen wahr.

Dafür soll­ten die Ost­deut­schen aller­dings nur die Hälf­te des Lohns bekom­men, und die gro­ße Kar­rie­re leb­ten ihnen die West­ler vor. Auch im Osten. Eini­ge Zeit hielt sich die Hoff­nung auf Lie­be. Aber irgend­wann spür­ten die Men­schen in Ost­deutsch­land, dass es nichts wer­den wür­de mit dem begehr­ten Mäd­chen oder dem begehr­ten Jun­gen. Sie zogen sich in sich selbst zurück. Auf ein­mal war der Kes­sel Bun­tes wie­der bunt. Und die Puh­dys irgend­wie wie­der cool, zumin­dest in der Provinz.

An die Dich­ter woll­te man sich dann doch nicht näher erin­nern, das war zu kom­pli­ziert. Und sie hat­ten ja auch ihre Schul­dig­keit getan, als muti­ge „Hans, du hast die größ­ten Schu­he an“ in einem Land der Jun­gen Welt und des Neu­en Deutschlands.

Wenn ihr uns nicht wollt, sag­ten sich die Zurück­ge­wie­se­nen, dann sind wir eben wie­der die Ost­ler, die Ossis. Ihr ver­steht uns sowie­so nicht, aber wir haben die Revo­lu­ti­on gemacht, wir sind echt, ihr seid falsch. Wir sind das Volk, wer seid ihr?

Auf Tournee in New York: Andrej Hermlin 2002. Abbildung: Uwe Hauth

Auf Tour­nee in New York: Andrej Herm­lin 2002. Abbil­dung: Uwe Hauth

Auftritt der „Swingin‘ Hermlins“ während der Coronapandemie, Berlin 2021. Abbildung: Uwe Hauth

Auf­tritt der „Swin­gin‘ Herm­lins“ wäh­rend der Coro­na­pan­de­mie, Ber­lin 2021. Abbil­dung: Uwe Hauth

Jene Par­tei, die man zuvor noch ver­flucht hat­te, wur­de nun zum Sprach­rohr eines gede­mü­tig­ten Selbst. Man wähl­te sie nicht, weil sie vor­gab, noch immer irgend­wie sozia­lis­tisch sein zu wol­len oder weil sie einen Par­tei­vor­sit­zen­den mit jüdi­schem Hin­ter­grund hat­te – son­dern trotz alle­dem. Eine Wei­le ging das gut, aber spä­ter tauch­te dann doch noch eine ande­re Bewe­gung auf, die den Gefüh­len vie­ler Ost­deut­scher bes­ser entsprach.

Man muss­te jetzt Aus­län­der nicht mehr zäh­ne­knir­schend gut fin­den, im Aus­län­der­sein hat­te man schließ­lich Erfah­rung, man konn­te die uner­wünsch­te Kon­kur­renz jetzt beim Namen nennen.

Hin und wie­der brann­te es in Ost­deutsch­land, wenn die Wut über­schäum­te. Heu­te bren­nen vor allen Din­gen noch die Seelen.

Und doch: Was wur­de damals über den kor­pu­len­ten Kanz­ler gelacht und sei­ne blü­hen­den Land­schaf­ten. Aber nur ein Blin­der kann heu­te leug­nen, dass es sie gibt. Wenn auch mit gro­ßer Verspätung.

Ich habe mich nie als Ost­ler gefühlt, ich woll­te vom west­deut­schen Mäd­chen nicht geliebt wer­den, aber ich habe oft nach mei­ner Iden­ti­tät gesucht. Was ist mei­ne Hei­mat? Die DDR, Deutsch­land, Ost­deutsch­land, Ber­lin, Ost­ber­lin, Pan­kow? Am ehes­ten wohl noch Ben­ny Goodman.

Die Ost­deut­schen – sie wer­den das Mäd­chen nicht mehr bekom­men. Den Jun­gen auch nicht. Viel­leicht wächst es sich aus, in eini­gen Jahr­zehn­ten oder Gene­ra­tio­nen. Aber bis auf Wei­te­res ver­ste­hen die einen die ande­ren nicht und die ande­ren die einen auch nicht.

Was bleibt, ist die Ostschrippe.

Live-Sendung „The Music Goes Round And Around“ während des ersten Lockdowns, Berlin, April 2020. Abbildung: Uwe Hauth

Live-Sen­dung „The Music Goes Round And Around“ wäh­rend des ers­ten Lock­downs, Ber­lin, April 2020. Abbil­dung: Uwe Hauth

Plakat für ein Konzert des Swing Dance Orchestras in Halle (Entwurf Uwe Hauth). Abbildung: Uwe Hauth

Pla­kat für ein Kon­zert des Swing Dance Orchestras in Hal­le (Ent­wurf Uwe Hauth). Abbil­dung: Uwe Hauth


Label Impulsgeber Ost

Andrej Hermlin

GEBOREN: 1965/Berlin (Ost)
WOHNORTE (aktu­ell): Ber­lin, Nairobi
MEIN BUCHTIPP: Ste­phan Herm­lin: „Abend­licht“, 1979
MEIN FILMTIPP: „Ich war neun­zehn“, 1968
MEIN URLAUBSTIPP: Usedom

 

BUCHTIPP:

„Denke ich an Ostdeutschland ...“

In der Bezie­hung von Ost- und West­deutsch­land ist auch 35 Jah­re nach dem Mau­er­fall noch ein Kno­ten. Die­ser Sam­mel­band will einen Bei­trag dazu leis­ten, ihn zu lösen. Die 60 Autorin­nen und Autoren geben in ihren Bei­trä­gen wich­ti­ge Impul­se für eine gemein­sa­me Zukunft. Sie zei­gen Chan­cen auf und skiz­zie­ren Per­spek­ti­ven, scheu­en sich aber auch nicht, Her­aus­for­de­run­gen zu benen­nen. Die „Impuls­ge­be­rin­nen und Impuls­ge­ber für Ost­deutsch­land“ erzäh­len Geschich­ten und schil­dern Sach­ver­hal­te, die auf­klä­ren, Mut machen sowie ein posi­ti­ves, kon­struk­tiv nach vorn schau­en­des Nar­ra­tiv für Ost­deutsch­land bilden.

„Den­ke ich an Ost­deutsch­land ... Impul­se für eine gemein­sa­me Zukunft“, Frank und Robert Neh­ring (Hgg.), PRIMA VIER Neh­ring Ver­lag, Ber­lin 2024, 224 S., DIN A4.

Als Hard­co­ver und E-Book hier erhältlich.

 

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