Andrej Hermlin vom Swing Dance Orchestra „The Swingin’ Hermlins“ ist ein wichtiger Impulsgeber für Ostdeutschland. Er setzt sich ein für Vergewisserung, Verständigung und Versöhnung. Mit diesem Beitrag ist er auch in dem Sammelband „Denke ich an Ostdeutschland ...“ vertreten.
Nichts ist wohl so bitter und überwältigend wie eine enttäuschte Liebe. Wenn der Junge das begehrte Mädchen nicht bekommt oder das Mädchen den begehrten Jungen nicht. Denke ich an das Ostdeutschland der letzten drei Jahrzehnte und insbesondere an jenes unserer Tage, so fällt mir fast zwangsläufig das Gleichnis von der enttäuschten Liebe ein.
Wie groß waren seinerzeit die Hoffnungen gewesen, vor über drei Jahrzehnten, als das kleine, missratene, graue Land im Osten aufging in der bunt schimmernden, scheinbar alles ermöglichenden großen Bundesrepublik. Fast über Nacht wandten sich viele Ostdeutsche von ihrer Vergangenheit ab.
Sie verließen ihre Schauspieler, ihre Dichter, ihre Musikanten. Sie wollten westlicher sein als der Westen, sie aßen nun keine Ostschrippen mehr, sondern die pappigen aus dem Supermarkt, der sich – „Achtung, frisch gestrichen!“ – in der alten Kaufhalle eingenistet hatte.
Die Ostdeutschen wollten keine Tomaten mehr aus Brandenburg, sondern jene aus den Niederlanden. Die schmeckten zwar fade, aber sie waren aus dem Westen.
Ach, waren die Hoffnungen groß, die Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung. Doch das Mädchen wollte den Jungen nicht. Die Westler wiesen die Ostdeutschen schroff zurück. Lernen sollten sie, wie es im Kapitalismus so zugeht, sie hätten ja lang genug – zu lang – in einem kleinen, missratenen, grauen Land gelebt, während draußen das Leben war.
Sie seien wie kleine Kinder, die erst einmal erzogen werden müssten, bevor sie irgendwann groß werden könnten. Dann, aber auch nur dann würde man sie – in ferner, unabsehbarer Zukunft – aufnehmen in den Kreis der gleichberechtigten Erwachsenen. Das begehrte Mädchen hatte flüchtig mit dem Auge gezwinkert.
Haltet euch ran, hieß es, fragt nicht viel, lasst uns das machen, dann wird die Werbung aus dem Westfernsehen wahr.
Dafür sollten die Ostdeutschen allerdings nur die Hälfte des Lohns bekommen, und die große Karriere lebten ihnen die Westler vor. Auch im Osten. Einige Zeit hielt sich die Hoffnung auf Liebe. Aber irgendwann spürten die Menschen in Ostdeutschland, dass es nichts werden würde mit dem begehrten Mädchen oder dem begehrten Jungen. Sie zogen sich in sich selbst zurück. Auf einmal war der Kessel Buntes wieder bunt. Und die Puhdys irgendwie wieder cool, zumindest in der Provinz.
An die Dichter wollte man sich dann doch nicht näher erinnern, das war zu kompliziert. Und sie hatten ja auch ihre Schuldigkeit getan, als mutige „Hans, du hast die größten Schuhe an“ in einem Land der Jungen Welt und des Neuen Deutschlands.
Wenn ihr uns nicht wollt, sagten sich die Zurückgewiesenen, dann sind wir eben wieder die Ostler, die Ossis. Ihr versteht uns sowieso nicht, aber wir haben die Revolution gemacht, wir sind echt, ihr seid falsch. Wir sind das Volk, wer seid ihr?
Jene Partei, die man zuvor noch verflucht hatte, wurde nun zum Sprachrohr eines gedemütigten Selbst. Man wählte sie nicht, weil sie vorgab, noch immer irgendwie sozialistisch sein zu wollen oder weil sie einen Parteivorsitzenden mit jüdischem Hintergrund hatte – sondern trotz alledem. Eine Weile ging das gut, aber später tauchte dann doch noch eine andere Bewegung auf, die den Gefühlen vieler Ostdeutscher besser entsprach.
Man musste jetzt Ausländer nicht mehr zähneknirschend gut finden, im Ausländersein hatte man schließlich Erfahrung, man konnte die unerwünschte Konkurrenz jetzt beim Namen nennen.
Hin und wieder brannte es in Ostdeutschland, wenn die Wut überschäumte. Heute brennen vor allen Dingen noch die Seelen.
Und doch: Was wurde damals über den korpulenten Kanzler gelacht und seine blühenden Landschaften. Aber nur ein Blinder kann heute leugnen, dass es sie gibt. Wenn auch mit großer Verspätung.
Ich habe mich nie als Ostler gefühlt, ich wollte vom westdeutschen Mädchen nicht geliebt werden, aber ich habe oft nach meiner Identität gesucht. Was ist meine Heimat? Die DDR, Deutschland, Ostdeutschland, Berlin, Ostberlin, Pankow? Am ehesten wohl noch Benny Goodman.
Die Ostdeutschen – sie werden das Mädchen nicht mehr bekommen. Den Jungen auch nicht. Vielleicht wächst es sich aus, in einigen Jahrzehnten oder Generationen. Aber bis auf Weiteres verstehen die einen die anderen nicht und die anderen die einen auch nicht.
Was bleibt, ist die Ostschrippe.
Andrej Hermlin
GEBOREN: 1965/Berlin (Ost)
WOHNORTE (aktuell): Berlin, Nairobi
MEIN BUCHTIPP: Stephan Hermlin: „Abendlicht“, 1979
MEIN FILMTIPP: „Ich war neunzehn“, 1968
MEIN URLAUBSTIPP: Usedom
BUCHTIPP:
„Denke ich an Ostdeutschland ...“In der Beziehung von Ost- und Westdeutschland ist auch 35 Jahre nach dem Mauerfall noch ein Knoten. Dieser Sammelband will einen Beitrag dazu leisten, ihn zu lösen. Die 60 Autorinnen und Autoren geben in ihren Beiträgen wichtige Impulse für eine gemeinsame Zukunft. Sie zeigen Chancen auf und skizzieren Perspektiven, scheuen sich aber auch nicht, Herausforderungen zu benennen. Die „Impulsgeberinnen und Impulsgeber für Ostdeutschland“ erzählen Geschichten und schildern Sachverhalte, die aufklären, Mut machen sowie ein positives, konstruktiv nach vorn schauendes Narrativ für Ostdeutschland bilden. „Denke ich an Ostdeutschland ... Impulse für eine gemeinsame Zukunft“, Frank und Robert Nehring (Hgg.), PRIMA VIER Nehring Verlag, Berlin 2024, 224 S., DIN A4. Als Hardcover und E-Book hier erhältlich. |