Caspar Baumgart, Kaufmännischer Vorstand der WEMAG AG, und Thomas Murche, Technischer Vorstand der WEMAG AG, sind wichtige Impulsgeber für Ostdeutschland. Sie setzen sich ein für Vergewisserung, Verständigung und Versöhnung. Mit diesem Beitrag sind sie auch in dem Sammelband „Denke ich an Ostdeutschland ...“ vertreten.
HERR BAUMGART, HERR MURCHE: MIT WELCHER MOTIVATION HABEN SIE SICH BEI DER WEMAG ALS MITGLIED DES VORSTANDS BEWORBEN?
Caspar Baumgart (CB): Ich kannte Schwerin bereits, da ich hier von 1992 bis 1997 im Referendariat und als Anwalt gearbeitet habe. Seit 2005 lebe ich mit der Familie in Schwerin, arbeitete aber bis Anfang 2010 in München. Als die Thüga, mein damaliger Arbeitgeber, 2009 in der Phase der Kommunalisierung der WEMAG als Partner der Gemeinden WEMAG-Anteile erwarb, bot sich mir die Möglichkeit, Vorstand der WEMAG zu werden. Das war für mich persönlich spannend, weil es eine neue Aufgabe war, an der Spitze eines Unternehmens zu stehen. Gleichzeitig konnte ich so wieder mehr Zeit mit der Familie verbringen.
Thomas Murche (TM): Im Jahr 2017 habe ich mich dazu entschieden, aus dem strategischen Bereich der E.ON in Essen zur WEMAG nach Schwerin zu wechseln. Die Motivation war, das interessante Aufgabenspektrum zu gestalten und zu verantworten. Es hat mich gereizt, für die Beschäftigten optimale Rahmenbedingungen zu schaffen sowie das Geschäft langfristig auszubauen. Gerade der letzte Aspekt war bei den vielen Möglichkeiten zur Schaffung einer Energieversorgung von morgen ein wichtiger Punkt bei meiner Entscheidung. Auch das kommunale Umfeld der WEMAG in Kombination mit dem Thüga-Netzwerk hat mich angesprochen. Dazu kam noch ein Erlebnis aus dem April 2014, als ich mit meiner Frau bei Regen an einer Stadtführung durch Schwerin teilnahm. Wir haben uns gefragt: Würden wir hier wohnen, wo könnten wir in Schwerin arbeiten? Die Antwort lautete damals schon: WEMAG.
VOR WELCHEN HERAUSFORDERUNGEN STAND DAS UNTERNEHMEN BEI IHREM AMTSANTRITT?
CB: Die Kommunalisierung der WEMAG eröffnete viele neue Möglichkeiten, weil die Einbindung in den Vattenfall-Konzern weggefallen war. Die WEMAG bestand fast nur aus dem Stromnetz und dem Stromvertrieb und war damit sehr schmal aufgestellt. Die größte Herausforderung bestand darin, das Geschäft strategisch auf eine breitere Basis zu stellen. In diesem Zusammenhang haben wir eine klare ökologische Ausrichtung vorgenommen, die uns bis heute den Weg weist und bei laufenden Entscheidungen immer wieder Kompass ist.
TM: Der Ausbau und die Integration der Erneuerbare-Energien-Anlagen bildeten ganz klar den Hauptschwerpunkt. Aufgrund der guten geografischen Bedingungen ist Mecklenburg-Vorpommern prädestiniert für das Thema und hat hier schon sehr viel erreicht. Die WEMAG wollte zum damaligen Zeitpunkt und heute noch viel mehr einen großen Beitrag leisten. Nun galt es, das in entsprechende Bahnen zu lenken und zu schauen, welche Justierungen in der Organisation und in den Prozessen erforderlich waren. Darüber hinaus rückte das Thema Telekommunikation weiter in den Vordergrund. Glasfaser für alle – die Chance wollten wir und haben sie genutzt. Dafür musste eine entsprechende Projektorganisation aufgebaut werden. Auch die Themen Digitalisierung und Automatisierung der Prozesse hatten einen großen Stellenwert. Nur so war eine effiziente Abwicklung der Kundenprozesse möglich, um am Ende ein preiswertes Produkt abzuliefern.
Ostdeutschland hat zu wenige Industriearbeitsplätze. [...] Wir möchten durch die Wertschöpfungskette, die wir im Portfolio haben, unseren Beitrag leisten.”
WELCHE HÖHEN UND TIEFEN HABEN SIE IM UNTERNEHMEN MITERLEBT?
CB: Zu den Höhen gehört die seit Jahren erfolgreiche Entwicklung. Unser Unternehmen ist stark gewachsen. Es ist gelungen, die Verbreiterung der Geschäftsfelder umzusetzen. Der Vertrieb ist heute stark diversifiziert. Wir haben viele eigene Projekte im Bereich der erneuerbaren Energien entwickelt. Das Wärmegeschäft haben wir aufgenommen und wir haben Bau und Betrieb von Glasfasernetzen zu einer weiteren starken Säule unserer Unternehmensgruppe gemacht. Zu den Tiefen rechne ich die Schwierigkeiten im Vertrieb 2013, als sich die damalige Ausrichtung auf große Gewerbekunden negativ ausgewirkt hat. Also mussten wir uns auf andere Kunden ausrichten und gleichzeitig diversifizieren. Es wurde niemand entlassen, aber viele Mitarbeitende übernahmen neue Aufgaben. Wir haben schon damals begonnen, technische Produkte wie PV-Anlagen und Hausspeicher zu vertreiben und das Direktvermarktungsgeschäft aufzubauen. Im Bereich der Direktvermarktung von Strom aus Biogasanlagen sind wir inzwischen bundesweit eine echte Größe. Der Zukauf eines Energiehandelsunternehmens hat zusätzlich für mehr Stabilität im Vertrieb gesorgt. Der klassische Energievertrieb von Kilowattstunden macht heute nur noch die Hälfte der Wertschöpfung im Vertrieb aus.
TM: Wir können sehr stolz darauf sein, wie die WEMAG heute aufgestellt ist. Neben den klassischen Segmenten Netz, Vertrieb und Dienstleistung haben wir es geschafft, Stabilität in die Bereiche Erzeugung, Speicher und Wärme zu bringen sowie das Thema Telekommunikation, also den Ausbau des Glasfasernetzes, deutlich zu forcieren – das sind keine Randthemen. Jedes für sich wird in den nächsten Jahren einen entscheidenden Wertbeitrag liefern. Die Vielzahl der Segmente ist eine klare Stütze für das Erreichen der Ziele, die wir uns gesetzt haben, was auch für unsere Stakeholder von Bedeutung ist. Die Tiefen sind immer wieder kleine Themen, ob es ein Weggang von guten Mitarbeitenden ist, einige Kundinnen und Kunden nicht zufrieden sind oder der mittlerweile übergroße bürokratische Rahmen, der die Gestaltung erschwert. So haben wir mit der Abwicklung der Energiepreisbremsen im vergangenen Jahr noch heute zu kämpfen. Persönlich war es für mich eine Auszeichnung, dass ich 2021 Digitalisierungsbotschafter für das Land Mecklenburg-Vorpommern werden konnte.
WELCHE ENTSCHEIDUNG DER VERGANGENHEIT WÜRDEN SIE HEUTE ANDERS TREFFEN?
CB: Im Rückblick hätte ich die Entscheidung über den Kauf eines Start-ups, das in einer lukrativen Nische im Fotovoltaik-Markt tätig ist, lieber positiv getroffen. Aber wir haben uns dagegen entschieden. Vielleicht fehlte uns als Unternehmen auch die DNA für die Zusammenarbeit mit einem Start-up. Jedenfalls habe ich mich später geärgert, denn das Start-up hat sich sehr gut entwickelt.
TM: Das war meine erste größere Umstrukturierung im Unternehmensbereich Netz. Zum damaligen Zeitpunkt hätten wir gleich den Schritt in Richtung einer großen Netzgesellschaft gehen sollen. Vielleicht war ich nicht mutig genug. Anderthalb Jahre später haben wir uns erneut damit befasst und mussten einige Dinge wiederholen.
DIE WEMAG GIBT ES SCHON VIELE JAHRZEHNTE. WAS IST AM UNTERNEHMEN NOCH OSTDEUTSCH?
CB: Die Biografien vieler Mitarbeitenden reichen noch in die Vorwendezeit zurück, was aber im betrieblichen Alltag nicht spürbar ist. Während in den 1990er-Jahren jeder zuerst „Ost oder West?“ gefragt hat, stelle ich mir die Frage heute schon lange nicht mehr. Die riesige Herausforderung, die wir heute bestehen müssen, hat nichts mehr mit der Herkunft aus Ost- oder Westdeutschland zu tun. Klimaschutz und Energiewende sind nationale beziehungsweise internationale Themen.
TM: Wir sind der einzige Regionalversorger, der noch in den Grenzen eines ehemaligen Energiekombinats tätig ist. Außerdem ist die WEMAG ein kommunales Unternehmen und nicht mit einem Großkonzern fusioniert. Ostdeutsch ist aus meiner Sicht im Betriebsrestaurant das Jägerschnitzel. Unseren Gästen durfte ich früher häufig erklären, dass das Gericht aus einer Scheibe Jagdwurst mit Nudeln und Tomatensoße besteht.
WELCHE ENTSCHEIDENDEN SCHRITTE MUSS DIE WEMAG IN DEN NÄCHSTEN FÜNF JAHREN GEHEN?
CB: Entscheidend ist die Umsetzung der Energiewende in unserer Region mit der spezifischen Herausforderung, dass das Potenzial für viel erneuerbare Energien auf wenig Absatzmenge trifft. Ein wesentlicher Schritt ist der Netzausbau und dessen Finanzierung. Wir wollen weitere EE-Anlagen errichten und damit unsere Erzeugungsposition ausbauen.
TM: Der Ausbau der grünen Energie ist wichtig, um auch die kommunale Wärmeplanung durchzuführen. Wir wollen die Wärme stärker aus regenerativer Erzeugung nutzen. Es ist eine große Chance für die WEMAG-Gruppe, dieses neue Geschäftsfeld weiter auszubauen und einen Vorteil für die Kundinnen und Kunden zu generieren. Genauso wichtig für die Zukunft ist der Ausbau der digitalen Infrastruktur – für die betrieblichen Abläufe, Homeoffice und die Daseinsvorsorge. Am Ende muss alles finanziert werden. Dafür brauchen wir Banken, die mit uns diesen Weg gehen und viele Kunden, die bereit sind, das daraus entstehende Produkt zu bezahlen.
WAS WÜNSCHEN SIE SICH FÜR DIE ENTWICKLUNG OSTDEUTSCHLANDS IN DEN KOMMENDEN JAHREN?
CB: Ich wünsche mir, dass eine bessere wirtschaftliche Basis entsteht. Ostdeutschland erscheint mir in vielen Bereichen abgeschlagen, was den Sitz von großen Unternehmen und relevanten Institutionen anbelangt. Es gibt zu wenig Industriearbeitsplätze. Es wäre schön, wenn über eine starke wirtschaftliche Entwicklung auch ein positiveres Lebens- und Selbstwertgefühl entsteht und noch mehr Menschen stolz auf ihre Identität sind. Und trotzdem habe ich seit den 1990er-Jahren immer den Eindruck gehabt, dass die Menschen gern hier in Mecklenburg-Vorpommern leben, sich hier wohlfühlen und wissen, wie schön und sympathisch Natur, Geschichte und die Menschen in unserer Region sind.
TM: Ich wünsche mir, dass wir gemeinsam die Chancen nutzen, die sich industriell gerade bieten, um die Entwicklung positiv voranzubringen. Mecklenburg-Vorpommern hat mit die größten Flächenpotenziale in Ostdeutschland und kann somit in Zukunft wachsen und Beschäftigung anbieten, was auch für Glück und Zufriedenheit bei den Menschen sorgt. Da haben wir eine gewisse Verantwortung als Unternehmen, der wir gerecht werden wollen. Wir möchten durch die Wertschöpfungskette, die wir im Portfolio haben, unseren Beitrag leisten. Das gilt auch für den Erhalt der Demokratie, den wir mit unseren Möglichkeiten unterstützen.
Caspar Baumgart
GEBOREN: 1965/Celle
WOHNORT (aktuell): Schwerin
MEIN BUCHTIPP: Brigitte Reimann: „Ich bedaure nichts“, 1997
MEIN FILMTIPP: „Kruso“, 2018
MEINE URLAUBSTIPPS: Harzvorland mit Halberstadt, Quedlinburg, Wernigerode
Thomas Murche
GEBOREN: 1973/Brehna
WOHNORT (aktuell): Schwerin
MEIN BUCHTIPP: Comic „Mosaik“
MEIN FILMTIPP: „Zwei schräge Vögel“, 1989
MEINE URLAUBSTIPPS: Leipzig, Spreewald
BUCHTIPP:
„Denke ich an Ostdeutschland ...“In der Beziehung von Ost- und Westdeutschland ist auch 35 Jahre nach dem Mauerfall noch ein Knoten. Dieser Sammelband will einen Beitrag dazu leisten, ihn zu lösen. Die 60 Autorinnen und Autoren geben in ihren Beiträgen wichtige Impulse für eine gemeinsame Zukunft. Sie zeigen Chancen auf und skizzieren Perspektiven, scheuen sich aber auch nicht, Herausforderungen zu benennen. Die „Impulsgeberinnen und Impulsgeber für Ostdeutschland“ erzählen Geschichten und schildern Sachverhalte, die aufklären, Mut machen sowie ein positives, konstruktiv nach vorn schauendes Narrativ für Ostdeutschland bilden. „Denke ich an Ostdeutschland ... Impulse für eine gemeinsame Zukunft“, Frank und Robert Nehring (Hgg.), PRIMA VIER Nehring Verlag, Berlin 2024, 224 S., DIN A4. Als Hardcover und E-Book hier erhältlich. |