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Der Osten rettet Deutschland? Interview mit Mario Czaja

Mario Cza­ja ist Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ter aus Ost­ber­lin. Wir spra­chen mit dem ehe­ma­li­gen Gene­ral­se­kre­tär der Bun­des-CDU unter ande­rem über die Ost­wah­len, eine Ost­quo­te und das Amt des Ostbeauftragten.

Mario Czaja ist Bundestagsabgeordneter und ehrenamtlicher Präsident des Deutschen Roten Kreuzes Berlin. Von Januar 2022 bis Juli 2023 war er Generalsekretär der Bundes-CDU. Abbildung: Tobias Koch.

Mario Cza­ja ist Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ter und ehren­amt­li­cher Prä­si­dent des Deut­schen Roten Kreu­zes Ber­lin. Von Janu­ar 2022 bis Juli 2023 war er Gene­ral­se­kre­tär der Bun­des-CDU. Abbil­dung: Tobi­as Koch.

ostdeutschland.info: Herr Czaja, Ihr Buch „Wie der Osten Deutschland rettet“ ist im August dieses Jahres erschienen. Sind Sie auch nach den drei sogenannten Ostwahlen noch zufrieden mit dem Titel? Wie bewerten Sie die Wahlergebnisse?

Mario Cza­ja: Der Osten hat in den ver­gan­ge­nen 34 Jah­ren eine bemer­kens­wer­te Stär­ke gezeigt, dar­an gibt es kei­nen Zwei­fel. Wir sind anpas­sungs­fä­hig, wir sind mutig und wir sind ent­schlos­sen, von vor­ne zu begin­nen und etwas Neu­es zu schaf­fen. Die­se Kraft und Ent­schlos­sen­heit sind heu­te wich­ti­ger denn je. Die jüngs­ten Land­tags­wah­len in Thü­rin­gen, Sach­sen und Bran­den­burg bewei­sen, dass die Stim­men aus dem Osten gehört wer­den müssen.

Sie waren ein „Weck­ruf“ für unse­re Demo­kra­tie und haben erneut gezeigt, dass die Stim­men aus dem Osten ernst genom­men wer­den müs­sen – und zwar ohne Wenn und Aber. Denn sie sind oft der Spie­gel der gesell­schaft­li­chen Lage, lan­ge bevor sie anders­wo wahr­nehm­bar wer­den. Der Osten ist ein Früh­warn­sys­tem für ganz Deutschland.

Betrach­tet man die Ergeb­nis­se aller drei Wah­len, so lässt sich zwei­fels­frei fest­stel­len, dass die Ampel-Regie­rung unter Scholz, Habeck und Lind­ner den Kon­takt zur Bevöl­ke­rung ver­lo­ren hat. Sie regiert an den Bedürf­nis­sen der Men­schen vor­bei und trifft fast durch­weg Ent­schei­dun­gen gegen die Mehr­heits­auf­fas­sung der Deut­schen. Bran­den­burgs Minis­ter­prä­si­dent Diet­mar Woid­ke hat das früh­zei­tig erkannt und han­delt ent­spre­chend. Der Sozi­al­de­mo­krat hat sei­nen Schluss­spurt-Wahl­sieg mit größt­mög­li­cher Distanz zum SPD-Bun­des­kanz­ler und mit größt­mög­li­cher Distanz zur Bun­des­po­li­tik der SPD-geführ­ten Ampel erreicht.

Die aktu­el­le Stim­mung im Land zeigt ganz deut­lich, was zu tun ist: Die Par­tei­en der Mit­te müs­sen die Pro­ble­me in unse­rem Land lösen und den Men­schen die Zukunfts­sor­gen neh­men. Nur so ver­hin­dern wir, dass extre­mis­ti­sche Kräf­te das Ruder über­neh­men und die Demo­kra­tie aus­he­beln. Der Skan­dal bei der kon­sti­tu­ie­ren­den Sit­zung des Thü­rin­ger Land­tags soll­te uns allen War­nung und deut­li­che Mah­nung zugleich sein.

In mei­nem Buch „Wie der Osten Deutsch­land ret­tet“ lie­fe­re ich auch Erklä­run­gen für das Wahl­ver­hal­ten der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger im Osten und gehe auf die tief sit­zen­den Ver­let­zun­gen infol­ge von Des­in­ter­es­se des Wes­tens am Osten ein. Der Titel passt daher aus mei­ner Sicht mehr denn je – und bes­ser als je zuvor.

Wie erklären Sie sich, dass so viele junge Wähler die AfD gewählt haben?

Wir sehen bei den jüngs­ten Wah­len, dass die jün­ge­re Gene­ra­ti­on eine noch grö­ße­re Distanz zur Demo­kra­tie auf­ge­baut hat als die älte­re. Das gilt für zahl­rei­che gesell­schaft­li­che Debat­ten. Mich über­rascht dies nicht. Die Jün­ge­ren mer­ken die Ent­wick­lun­gen im All­tag stär­ker. Sie sehen die offen­kun­dig nicht abneh­men­de Zuwan­de­rung und mer­ken natür­lich, dass die Inte­gra­ti­on der zu uns gekom­me­nen Men­schen an vie­len Stel­len nicht gelingt. Das führt zu Ver­än­de­run­gen in allen Regio­nen und im täg­li­chen Leben. Damit ein­her­ge­hend wächst bei vie­len die­ser jun­gen Men­schen die Sor­ge, dass die Las­ten­ver­tei­lung nicht mehr gerecht ist, und sie fra­gen sich mehr und mehr, ob für sie per­sön­lich unter die­sen Umstän­den künf­tig noch ein Leben in Frei­heit und Sicher­heit mög­lich sein wird. Die AfD the­ma­ti­siert die­se Sor­gen auch in der digi­ta­len Welt und übt so eine gewis­se Anzie­hungs­kraft auf die Jun­gen aus.

Ein wei­te­rer Aspekt, den wir nicht unter­schät­zen soll­ten, ist der, dass bei jun­gen Men­schen und Ost­deut­schen gene­rell die Par­tei­en­bin­dung gerin­ger ist. Daher sind Wech­sel bei der Par­tei­en­prä­fe­renz einfacher.

Mario Czaja ist in Berlin-Mahlsdorf aufgewachsen. Abbildung: Tobias Koch.

Mario Cza­ja ist in Ber­lin-Mahls­dorf auf­ge­wach­sen. Abbil­dung: Tobi­as Koch.

Sie gehören zu den wenigen, die auch konkrete Vorschläge zum Zusammenwachsen von Ost und West machen. In Ihrem Buch sprechen Sie sich zum Beispiel für ein Kinderstartkapital aus. Wie muss man sich das vorstellen?

Die Idee ist, dass jedes in Deutsch­land gebo­re­ne Kind mit der Geburt einen Anteil von 10.000 Euro an einem Kapi­tal­fonds erhält. Die­ser Geld­be­trag ist nicht bar aus­zahl­bar. Damit kann das Kind dann aber ab dem 18. Lebens­jahr ein Sti­pen­di­um finan­zie­ren, in eine Unter­neh­mens­grün­dung inves­tie­ren oder sich eine lang­fris­ti­ge Alters­vor­sor­ge auf­bau­en. Damit könn­ten wir die Akku­mu­la­ti­on des Ver­mö­gens auf eine rela­tiv klei­ne Per­so­nen­grup­pe künf­tig aufbrechen.

Wie ließe sich das Kinderstartkapital finanzieren?

Finan­zie­ren lie­ße sich die­ses Modell ganz ein­fach über die Erb­schafts­steu­er. Sie könn­te mode­rat ange­ho­ben wer­den oder ihre Aus­nah­men müss­ten deut­lich redu­ziert werden.

Einen weiteren Vorschlag nennen Sie „DIN Ost“. Was ist damit gemeint?

Der Osten hat vie­le Ent­wick­lun­gen bereits Jah­re zuvor durch­lau­fen, die nun trotz einer leich­ten demo­gra­fi­schen Erho­lung unauf­halt­sam ganz Deutsch­land errei­chen. Wir benö­ti­gen einen Weck­ruf, um die Umbruchs­er­fah­run­gen des Ostens im gan­zen Land zu nut­zen. Stan­dards dür­fen nicht in Stein gemei­ßelt sein. Auch dann nicht, wenn sie sich in Vor­zei­ten und unter bestimm­ten Bedin­gun­gen in den alten Bun­des­län­dern bewährt haben. Im Gegen­teil: Stan­dards soll­ten hin­ter­fragt und an neue Gege­ben­hei­ten ange­passt wer­den, im Osten wie im Wes­ten. Denn über­all befin­det sich unse­re Gesell­schaft in einem tief­grei­fen­den demo­gra­fi­schen Wan­del. Die Bevöl­ke­rung wird immer älter. Die Abwan­de­rung jun­ger Men­schen aus länd­li­chen Gebie­ten hält unver­min­dert an. Dar­auf muss eine Gesell­schaft reagie­ren – mit redu­zier­ten und somit kos­ten­sen­ken­den Stan­dards bei Stra­ßen­bau und Kana­li­sa­ti­on, mit der Bün­de­lung von Res­sour­cen in medi­zi­ni­schen Ver­sor­gungs­zen­tren und einem Netz von Ganz­tags­schu­len im länd­li­chen Raum.

Ich bin der Auf­fas­sung, dass es an der Zeit ist, im Bun­des­rat eine län­der­über­grei­fen­de Zusam­men­ar­beit zu insti­tu­tio­na­li­sie­ren, die die­se Trans­for­ma­ti­ons­er­kennt­nis­se ernst­haft zusam­men­trägt und sie gleich­zei­tig auch als Blau­pau­se für jene Regio­nen nutzt, die west­lich der Elbe mit ähn­li­chen Her­aus­for­de­run­gen kon­fron­tiert sind. Auf die­se Wei­se könn­te, meta­pho­risch gespro­chen, eine Art „DIN Ost“ ent­ste­hen, die Lösun­gen für ganz Deutsch­land bereithält.


50 Pro­zent der Spit­zen­po­si­tio­nen in den ost­deut­schen Lan­des­mi­nis­te­ri­en soll­ten von Ost­deut­schen besetzt wer­den. Und 20 Pro­zent der zu beset­zen­den Stel­len in Bundesministerien.“


Sie sind auch für eine Ostquote. Wie soll diese konkret aussehen?

50 Pro­zent der Spit­zen­po­si­tio­nen in den ost­deut­schen Lan­des­mi­nis­te­ri­en soll­ten von Ost­deut­schen besetzt wer­den. Und 20 Pro­zent der zu beset­zen­den Stel­len in Bun­des­mi­nis­te­ri­en. Die Idee der Wen­de­jah­re, dass da für den Über­gang ein paar west­deut­sche Auf­bau­hel­fer Füh­rungs­po­si­tio­nen über­neh­men und die Ossis schon irgend­wann nach­rü­cken, ist geschei­tert. In fast allen ost­deut­schen Bun­des­län­dern besteht die Hälf­te der jewei­li­gen Kabi­net­te aus west­deut­schen Minis­tern! Stel­len Sie sich mal für einen Moment vor, in der baye­ri­schen Staats­re­gie­rung wür­den zur Hälf­te Sach­sen, Ber­li­ner und Thü­rin­ger sit­zen. Die CSU wür­de eine Son­der­sit­zung nach der ande­ren ein­for­dern. Ich könn­te mir die Rhe­to­rik von Alex­an­der Dob­rindt und sei­nen Freun­den leb­haft aus­ma­len. Und ich könn­te sie sogar verstehen!

Was wir brau­chen, ist Chan­cen­ge­rech­tig­keit. Die gibt es an vie­len Stel­len schlicht nicht. Das zeigt sich etwa bei der Ver­mö­gens­ver­tei­lung. In Ost­deutsch­land gab es zum Zeit­punkt der Wäh­rungs­uni­on nicht mal 100 Mil­lio­nä­re, wäh­rend es im Wes­ten zu die­sem Zeit­punkt schon über 100 Mil­li­ar­dä­re gab. Der Osten hat­te also nie eine mit dem Wes­ten ver­gleich­ba­re mate­ri­el­le Infra­struk­tur. Men­schen ohne Ver­mö­gen sto­ßen hier­zu­lan­de oft an glä­ser­ne Decken, etwa wenn sie sich für ein Sti­pen­di­um bewer­ben oder in die Selbst­stän­dig­keit wech­seln wollen.

Auf den Vorschlag einer Ostquote folgt oft der Einwand, es lasse sich doch gar nicht mehr klar sagen, wer ostdeutsch sei. Wie stehen Sie dazu?

Ich kann dem Ein­wand, dass die Defi­ni­ti­on des Per­so­nen­krei­ses, der unter den Begriff „ost­deutsch” fällt, die größ­te Hür­de bei der Umset­zung einer sol­chen Quo­te dar­stellt, nur zustim­men. Bis­lang konn­te man sich in den Debat­ten im Deut­schen Bun­des­tag noch nicht auf einen rechts­si­che­ren Ter­mi­nus eini­gen. Es bestehen ver­schie­de­ne Mög­lich­kei­ten, den Begriff „ost­deutsch” zu defi­nie­ren. Dabei könn­ten sowohl der Wohn­ort, der Geburts­ort, die fami­liä­re Sozia­li­sa­ti­on als auch die emo­tio­na­le Selbst­iden­ti­fi­ka­ti­on als Kri­te­ri­en her­an­ge­zo­gen wer­den. In mei­ner Buch­pu­bli­ka­ti­on ori­en­tie­re ich mich an einer Kate­go­ri­sie­rung, die sich am Geburts­ort ori­en­tiert. Da Füh­rungs­po­si­tio­nen in der Regel in der Mit­te der beruf­li­chen Lauf­bahn erreicht wer­den, möch­te ich vor­sich­tig die The­se auf­stel­len, dass eine Unter­schei­dung nach ost- und west­deut­scher Her­kunft, basie­rend auf dem Geburts­ort, ange­mes­sen sein könn­te. Dar­über hin­aus wird der Geburts­ort zusam­men mit dem Wohn­ort in der Per­so­nal­sta­tis­tik erfasst, was die­se Vor­ge­hens­wei­se auch prak­ti­ka­bel macht. Per­so­nen, die in den neu­en Bun­des­län­dern Bran­den­burg, Meck­len­burg-Vor­pom­mern, Sach­sen, Sach­sen-Anhalt und Thü­rin­gen gebo­ren wur­den, gel­ten somit als Ost­deut­sche. Ber­lin nimmt auf­grund sei­ner geteil­ten Geschich­te eine beson­de­re Posi­ti­on ein und muss daher sepa­rat betrach­tet werden.


Ich fin­de, wir Ost­deut­schen in der CDU soll­ten auch selbst­be­wuss­ter mehr Reprä­sen­tanz ein­for­dern. Vor allem müs­sen wir deut­lich machen: Es braucht eine Quo­te für Ost­deut­sche in unse­ren Führungsgremien.“


Wie weit ist eigentlich Ihre eigene Partei, die CDU, von der Quote entfernt, die Sie fordern? Wie viele Ostdeutsche könnte insbesondere die erste Reihe noch vertragen?

Bei der Beset­zung von Spit­zen­po­si­tio­nen mit Ost­deut­schen ist mei­ne Par­tei eher eine Nach­züg­le­rin. Gewiss, Ange­la Mer­kel war zuerst Gene­ral­se­kre­tä­rin und spä­ter dann vie­le Jah­re Bun­des­vor­sit­zen­de der CDU. Ja, auch ich lei­te­te für eini­ge Zeit als Gene­ral­se­kre­tär die Geschi­cke der Bun­des­par­tei aus der fünf­ten Eta­ge des Ade­nau­er-Hau­ses in Ber­lin. Aber ansons­ten ist die Luft in höhe­ren CDU-Sphä­ren für Ost­deut­sche sehr dünn. Ein Beleg dafür lie­fert auch ein für mich per­sön­lich sehr trau­ri­ges Ereig­nis: Als ich am 5. Janu­ar 2024 an der Beer­di­gung von Wolf­gang Schäub­le in Offen­burg teil­nahm, der in unend­lich vie­len Funk­tio­nen und auch für den Wie­der­ver­ei­ni­gungs­pro­zess blei­ben­de Ver­diens­te für Deutsch­land hat und der mir spe­zi­ell in den letz­ten Jah­ren oft ein väter­li­cher Rat­ge­ber war, war ich weit und breit der ein­zi­ge Christ­de­mo­krat mit ost­deut­schen Wur­zeln, der an sei­nem Grab stand.

In den Gre­mi­en der Bun­des-CDU ist die Reprä­sen­tanz der Ost­deut­schen nach wie vor sehr gering. Das muss sich ändern. Nicht nur weil es dar­um geht, dass die Ost­deut­schen das Anrecht haben soll­ten, mit am Tisch zu sit­zen. Son­dern weil Poli­tik dann bes­ser wird, da wir von­ein­an­der ler­nen können.

Ich fin­de, wir Ost­deut­schen in der CDU soll­ten auch selbst­be­wuss­ter mehr Reprä­sen­tanz ein­for­dern. Vor allem müs­sen wir deut­lich machen: Es braucht eine Quo­te für Ost­deut­sche in unse­ren Füh­rungs­gre­mi­en. So etwas zu for­dern ist kein Affront gegen die Sat­zung der Uni­on. Im Gegen­teil: Die Grün­dungs­ge­schich­te der CDU ist ohne den Aus­gleich zwi­schen unter­schied­li­chen Grup­pen gar nicht denk­bar. Den Vätern und Müt­tern der Uni­on ist es gelun­gen, Pro­tes­tan­ten und Katho­li­ken, Nord- und Süd­deut­sche, Arbeit­ge­ber und Arbeit­neh­mer zusam­men­zu­brin­gen. Noch heu­te spürt man die­se Wur­zeln. Über­all in der CDU gibt es Quo­tie­run­gen, nur nicht zwi­schen Ost und West.

Zu Besuch beim Kinderprojekt Arche in Berlin-Hellersdorf. Abbildung: Tobias Koch.

Zu Besuch beim Kin­der­pro­jekt Arche in Ber­lin-Hel­lers­dorf. Abbil­dung: Tobi­as Koch.

Sie plädieren außerdem für Bürgerräte. Damit stehen Sie nicht allein. Zu den Befürwortern gehört zum Beispiel auch der Soziologe Steffen Mau. Wie können Bürgerräte helfen?

Die Poli­tik muss mehr Mut zei­gen, die Bür­ge­rin­nen und Bür­ger an den ent­schei­den­den poli­ti­schen Fra­gen zu betei­li­gen. Wir müs­sen wie­der mehr mit den Men­schen ins Gespräch kom­men. Ich bin sehr dafür, über Bür­ger­bei­rä­te mehr Mit­be­stim­mung vor Ort zu ermög­li­chen. Sie könn­ten zum Bei­spiel dar­über ent­schei­den, wer zusätz­li­che Leis­tun­gen aus der Sozi­al­hil­fe bekommt, etwa für den alters­ge­rech­ten Umbau der Woh­nung eines bedürf­ti­gen Rent­ners aus dem Kiez.

Ein­zel­ne Instru­men­te der Par­ti­zi­pa­ti­on nicht anzu­wen­den, weil man Angst vor der Mei­nung der Bevöl­ke­rung hat, hal­te ich für kurz­sich­tig. Wenn die Men­schen nicht bes­ser an Ent­schei­dun­gen betei­ligt wer­den, dann suchen sie sich frü­her oder spä­ter ein ande­res Ven­til für ihren Frust.

Was zählt für Sie zu den größten Fehlern der „Wiedervereinigung“ und ist das eigentlich der passende Begriff?

Rück­bli­ckend muss man nüch­tern fest­stel­len, dass die ost­deut­schen Ver­tre­ter bei der Aus­hand­lung des Eini­gungs­ver­tra­ges nicht selbst­be­wusst und pro­fes­sio­nell genug waren, die Ansprü­che der Ost­deut­schen adäquat ein­zu­for­dern und durch­zu­set­zen. Das kann man sicher­lich nicht den west­deut­schen Unter­händ­lern anlasten.

Mehr als nur ein Makel war, dass die Eigen­tums­fra­gen – von der Boden­re­form bis hin zum Eigen­tum an Häu­sern und Woh­nun­gen – nicht rich­tig gelöst wur­den und daher anschlie­ßend zulas­ten der Ost­deut­schen gin­gen. Auf Basis des Sachen­rechts­be­rei­ni­gungs­ge­set­zes und des Alt­schul­den­ge­set­zes konn­ten sich vie­le West­deut­sche in Ost­deutsch­land bedienen.

Die Mühle von Alt-Marzahn ist ein Wahrzeichen des Bezirks, in dem Mario Czaja 2021 per Direktmandat in den Deutschen Bundestag einzog. Abbildung: Tobias Koch.

Die Müh­le von Alt-Mar­zahn ist ein Wahr­zei­chen des Bezirks, in dem Mario Cza­ja 2021 per Direkt­man­dat in den Deut­schen Bun­des­tag ein­zog. Abbil­dung: Tobi­as Koch.

Die man­geln­de Eigen­tums­bil­dung unter Ost­deut­schen ist bis heu­te ein Pro­blem. Die Ver­mö­gen sind deut­lich gerin­ger und nicht ver­gleich­bar mit Ver­mö­gen in den alten Bun­des­län­dern. Dadurch ist auch die Kapi­tal­kraft vie­ler ost­deut­scher Unter­neh­men deut­lich gerin­ger. Der Mit­tel­stand im Osten besteht zum Groß­teil aus Unter­neh­men mit einem bis oft maxi­mal 30 Ange­stell­ten. In West­deutsch­land zäh­len sich vie­le Unter­neh­men mit 2.000 Mit­ar­bei­tern zum Mit­tel­stand. Die gerin­ge Kapi­tal­kraft macht den ost­deut­schen Mit­tel­stand zum einen deut­lich kri­sen­an­fäl­li­ger und zum ande­ren schränkt das die Inno­va­ti­ons­kraft ein, weil vie­le Fir­men kei­ner­lei Res­sour­cen für eigen­stän­di­ge For­schung und Ent­wick­lung haben.

Ein drit­ter Punkt ist sicher­lich das in vie­len Fäl­len unse­li­ge Wir­ken der Treu­hand­an­stalt, die einen Aus­ver­kauf der DDR-Indus­trie ohne Augen­maß betrie­ben hat.

Wie stehen Sie zu Vorschlägen wie dem zu einer neuen Verfassung und dem zu einer neuen Nationalhymne?

In Sachen Grund­ge­setz geht es wohl eher um einen emo­tio­na­len Ansatz, der dann aber vor 34 Jah­ren auf die Tages­ord­nung gehört hät­te. Damals wäre eine stär­ke­re ost­deut­sche Hand­schrift wün­schens­wert gewe­sen, weil sie in der dama­li­gen Situa­ti­on das Selbst­wert­ge­fühl und das Selbst­be­wusst­sein der Ost­deut­schen hät­te stär­ken können.

Das Grund­ge­setz ist seit der Wie­der­ver­ei­ni­gung immer wie­der erwei­tert und ergänzt wor­den, unter akti­ver Mit­wir­kung auch ost­deut­scher Par­la­men­ta­ri­er. Ratio­nal sehe ich im Moment beim Grund­ge­setz kei­ne Inhal­te, die mit Blick auf den Osten geson­dert gere­gelt wer­den müssten.

Und bei der Natio­nal­hym­ne emp­feh­le ich, die Stim­mung in den Sta­di­en bei der jüngs­ten Fuß­ball-Euro­pa­meis­ter­schaft Revue pas­sie­ren zu las­sen. Ich hat­te nicht den Ein­druck, dass die Fans bei den Spie­len des deut­schen Teams mit der Natio­nal­hym­ne gefrem­delt haben.

Glauben Sie, dass es unter der nächsten Bundesregierung noch einen Ostbeauftragten geben wird?

Ganz klar – ja. Aller­dings hal­te ich es da mit dem säch­si­schen Minis­ter­prä­si­den­ten Micha­el Kret­schmer: Der idea­le Ost­be­auf­trag­te wäre der Bun­des­mi­nis­ter für Bil­dung und For­schung. Denn nur, wenn mehr und kon­se­quen­ter als bis­lang gezielt For­schungs­mit­tel in den Osten gehen, wird der ost­deut­sche Auf­hol­pro­zess Erfolg haben. Es ist wich­tig, dass auch in Zukunft am Kabi­netts­tisch jemand sitzt, der dar­auf ach­tet, dass der Osten nicht zu kurz kommt. Aus mei­ner Zeit als Gene­ral­se­kre­tär der Bun­des-CDU weiß ich nur zu gut, dass Ost­deutsch­land für vie­le Men­schen in den alten Bun­des­län­dern bis heu­te noch unbe­kann­tes Ter­rain ist.

Vielen Dank.

Die Fra­gen stell­te Robert Nehring.

 

BUCHTIPP:

Mario Czaja: „Wie der Osten Deutschland rettet: Lösungen für ein neues Miteinander“, Verlag Herder 2024, 192 S., 20,00 €.

Mario Cza­ja: „Wie der Osten Deutsch­land ret­tet: Lösun­gen für ein neu­es Mit­ein­an­der*, Ver­lag Her­der 2024, 192 S., 20,00 €.

 

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