Der Potsdamer Podcast-Pionier Christian Bollert hat anlässlich des diesjährigen Mauerfalljubiläums eine sechsteilige Podcastreihe veröffentlicht, in der er mit drei am 9. November 1989 Geborenen spricht. Wir wollten von ihm wissen, welche Erkenntnisse er dabei gewonnen hat.
Herr Bollert, was war Ihr Antrieb für den Podcast „Deutschland – ein halbes Leben”?
Christian Bollert: Auslöser ist im Jahr 2007 der 18. Geburtstag meiner Schwester gewesen, die im Februar 1989 geboren worden ist. Ich habe mich damals gefragt, wie eigentlich die Generation der Mauerfallkinder 18 Jahre später auf Deutschland schaut. Deutschland hatte sich selbst und die Besucherinnen und Besucher der Fußball-Weltmeisterschaft gerade mit einer ausgelassenen und weltoffenen Stimmung überrascht. Ich habe mir die Frage gestellt, ob die Kategorien „Ost“ und „West“ für die Mauerfallkinder überhaupt noch relevant sind.
Wie sind Sie an Ihre drei Gesprächspartner gekommen?
Gemeinsam mit meinem Kollegen Marcus haben wir damals Einwohnermeldeämter und Schulen kontaktiert, aber wir sind auch in sozialen Netzwerken wie Facebook und insbesondere beim damals beliebten StudiVZ bzw. SchülerVZ auf Leute gestoßen, die am 9. November 1989 geboren worden sind.
Welchen Hintergrund haben die drei und wie lassen sich ihre Sichtweisen zusammenfassen?
Julia, Maria und Tom, die drei, die ich über die Jahre am längsten begleitet habe, haben ganz unterschiedliche Hintergründe. Maria beispielsweise kommt aus einer ländlich geprägten Region in der Nähe von Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern und hat ihre Heimat erst einmal für große westdeutsche Städte verlassen. Julia wiederum ist in Bad Soden in der Nähe von Frankfurt/Main geboren und dort auch ihr bisheriges Leben geblieben. Tom ist Ostberliner, der mit seiner Familie später in die Nähe von Leipzig gezogen ist.
Welche Standpunkte waren für Sie überraschend?
Für mich persönlich ist die Langzeitbeobachtung der Mauerfallkinder besonders spannend. Den dreien im Laufe ihres Lebens immer wieder zu begegnen, mit ihnen über ihre Ängste, Wünsche und Hoffnungen zu sprechen, ist etwas ganz Besonderes. Meist habe ich sie alle fünf Jahre wieder getroffen und gerade in den letzten fünf Jahren ist mit Corona, russischem Angriffskrieg oder populistischen Parteien so viel passiert, was die drei beeinflusst, aber auch uns alle als Gesellschaft.
Was ist Ihr persönliches Fazit zu Ihrem Podcast? Was kann aus Ostdeutschland werden?
Ich persönlich sehe die ostdeutschen Bundesländer als Möglichkeitsraum, wenn es gelingt, die immer noch bestehenden Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten weiter zu verringern. Dabei geht es um eine bessere Sichtbarkeit von Menschen mit ostdeutschen Erfahrungen in Führungspositionen oder eine bessere Verteilung von Vermögen. Für mich kann auch eine konsequente Glasfaser-Digitalisierung, wie wir sie beispielsweise in der Altmark rund um Stendal sehen, eine Chance für Regionen sein. Warum soll Brandenburg beispielsweise nicht das Estland von Deutschland werden? Die Idee einer direkteren Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern mit Instrumenten wie den Bürgerräten halte ich ebenfalls für vielversprechend. Denn im vorpolitischen Raum, in den Parteien und in den demokratischen Institutionen engagieren sich immer noch zu wenige Menschen in den ostdeutschen Bundesländern. Hier niedrigschwellige Angebote für Verantwortung zu schaffen erscheint mir als ein sehr guter Ansatz.
Das diesjährige Mauerfalljubiläum liegt hinter uns. Wie war Ihr Eindruck? Etwa in den Medien.
Im Vergleich zum 30. Mauerfalljubiläum habe ich den Eindruck, dass die Debatten und Diskussionen deutlich differenzierter geworden sind. Gerade auch meine Kolleginnen und Kollegen aus dem Journalismus zeichnen ein komplexeres Bild der ostdeutschen Bundesländer und der Geschichte der friedlichen Revolution. Ich persönlich habe die Gedenkfeiern in Leipzig am 9. Oktober und in Berlin zum 9. November als sehr stimmig und mit vielen emotionalen Momenten wahrgenommen. Gerade das Erzählen individueller Geschichten erscheint mir extrem hilfreich. Das gilt für die mediale Debatte, aber vielleicht noch mehr für den Abendbrottisch.
Wäre der 9. November der bessere Termin für einen Feiertag?
Aus meiner Sicht wäre der 9. November mit all seinen historischen Widersprüchen in der deutschen Geschichte durchaus ein geeigneter nationaler Gedenktag. Die Deutschen könnten mit einem zeitgemäßen und differenzierten Erinnern zeigen, dass sie aus der Geschichte gelernt haben und heute eine demokratische und fortschrittliche Gesellschaft sind. Alternativ bieten sich natürlich auch der 8. oder 9. Oktober mit den historischen Demonstrationen in Plauen und Leipzig an, die den Grundstein für die friedliche Revolution und den Mauerfall gelegt haben.
Das Thema Ostdeutschland ist ein ziemlich vermintes Gebiet. Ein Mysterium voller Fettnäpfchen. Wer kritisiert, wird schnell zum Jammerossi gemacht. Wer lobt, zum Ignoranten. Wo liegt die gesunde Mitte in der Diskussion?
Ich sehe eine Chance in meiner Generation und allen folgenden. Denn wir haben keinen historischen Rucksack mehr, stehen nicht unter Verdacht, in die eine oder andere Richtung parteiisch zu sein. Mir persönlich ist es immer wichtig, ein differenziertes Bild zu zeichnen und keine einfachen Antworten zu liefern. Das beweist hoffentlich auch die Auseinandersetzung im Podcast „Deutschland – ein halbes Leben. 35 Jahre Mauerfall“.
Einerseits hört man, der Ossi müsse noch lernen, dass Entscheidungen in der Demokratie langfristige Prozesse sind, an deren Ende ein Kompromiss und kein Konsens steht. Andererseits fordert selbst die Politik gern schnelle, klare, unbürokratische Entscheidungen. Wie blicken Sie auf das Demokratieverständnis der Ostdeutschen?
Das ist ein komplexes Thema. Bei einem Teil der Ostdeutschen habe ich persönlich tatsächlich das Gefühl, dass es oft darum geht, die eigene Position durchzusetzen. Und wenn das nicht wie gewünscht geschieht, kommt schnell der Diktatur-Vorwurf. Ein Symptom dafür sind die selbsternannten Montagsdemonstrationen. Meine Vermutung ist, dass vielen Demonstrierenden nicht klar ist, dass eine Demonstration ein öffentliches Zeichen sein kann, aber die politischen Prozesse am Ende in Parteien und Parlamenten ausgehandelt werden. In Gesprächen mit Teilnehmenden wird jedenfalls immer wieder deutlich, dass daraus Frust entsteht, weil die Demonstrationen keine unmittelbare Wirkung haben. Gleichzeitig beobachte ich in den vergangenen Monaten ein wachsendes Engagement von Leuten in Vereinen, Initiativen und auch Parteien, was in den ostdeutschen Bundesländern lange als verpönt galt. Vielleicht sind die aktuellen Krisen langfristig also auch eine Chance für mehr bürgerschaftliches Engagement.
Sie sind Mitbegründer der Initiative „Wir sind der Osten“. 2024 startete die Plattform das Projekt „Wir sind aktiv“. Was verbirgt sich dahinter?
Mit dem Projekt „Wir sind aktiv“ wollen wir genau die Initiativen und Leute sichtbarer machen, die sich heute für die demokratische Gesellschaft in allen Regionen der ostdeutschen Bundesländer engagieren. Hier sind bereits mehr als 220 Vereine und Initiativen sichtbar. Jeder kann dort schauen, wo es in seiner Region Angebote gibt. Für 2025 arbeitet das Team bereits intensiv an neuen Aktionen und Projekten.
Ihr Podcast-Radio detektor.fm gibt es nun schon seit 15 Jahren. Welche Ihrer Podcasts können Sie vor allem empfehlen?
Für mich persönlich als wirtschaftlich interessierten Menschen ist der „brand eins Podcast“ besonders empfehlenswert. Seit 2016 kooperiert das Wirtschaftsmagazin brand eins mit detektor.fm und ich lerne als Moderator bis heute fast jede Woche neue Dinge oder Impulse. Neben „Deutschland – ein halbes Leben“ ist sicher „Teurer Wohnen“ eine besondere Empfehlung. Denn in diesem mehrfach ausgezeichneten Podcast erkundet das Team um Charlotte Thielmann und Rabea Schloz anhand eines konkreten Bauprojekts in Berlin-Charlottenburg die Absurditäten und Gesetzmäßigkeiten des Wohnungs- und Immobilienmarktes. Außerdem folgt hier Ende November die zweite Staffel, die dann allerdings einen ganz anderen Schwerpunkt haben wird.
Welche Podcasts von anderen hören Sie auch gern?
Ich höre sehr viele Podcasts von anderen. Zuletzt haben mich „Telephobia“ vom Bayerischen Rundfunk, „The Daily“ von der New York Times und „Vishal“ von der BBC auf unterschiedliche Weise besonders beeindruckt. „Telephobia“ hat eine ganz besondere und intime Erzählweise, „The Daily“ war unfassbar nah dran an den Details der US-Wahl und „Vishal“ ist für mich dramaturgisch das Innovativste, was ich seit Jahren gehört habe.
Vielen Dank.
Die Fragen stellte Robert Nehring.
PODCAST-TIPP:
„Deutschland – ein halbes Leben. 35 Jahre Mauerfall“ Zu hören in der ARD Audiothek und unter anderem bei Amazon Music, Apple Podcasts, Deezer, RTL+ und Spotify.
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