Dr. Christian Matschke, ehemaliges Vorstandsmitglied der Berlin-Chemie AG, ist ein wichtiger Impulsgeber für Ostdeutschland. Er setzt sich ein für Vergewisserung, Verständigung und Versöhnung. Mit diesem Beitrag ist er auch in dem Sammelband „Denke ich an Ostdeutschland ...“ vertreten.

Dr. Christian Matschke, Vorstandsmitglied Berlin-Chemie AG. Abbildung: Markus Bachmann Photography
Wer das erste Mal durch die automatische Glastür unserer Foyerhalle tritt, bleibt vor einer übergroßen Wandzeichnung stehen. Der Besucher der Berlin-Chemie blickt auf die historische Ansicht unserer Keimzelle, das Werksgelände der 1890 gegründeten Firma „Kahlbaum Laborpräparate“. Die Fabrik stand auf unserem heutigen Betriebsgelände am Glienicker Weg in Berlin-Adlershof. Als der Firmeninhaber Johannes Kahlbaum (1851–1909) starb, arbeiteten hier bereits etwa 400 Angestellte. Zudem war die Firma wegen ihrer Laborreagenzien weltweit geschätzt und stellte bereits erste Arzneimittel her.
Die Wandzeichnung verweist auf eine über 130 Jahre währende Industriegeschichte mit Blick auf den Standort und das Kerngeschäft. Sie versinnbildlicht eine Kontinuität, auf die sich zumindest im Osten Deutschlands nur wenige andere Unternehmen stützen können. Es gibt uns schon viel länger als den Zeitabschnitt, den man heute mit einem ostdeutschen Unternehmen verbindet. Unsere DDR-Geschichte ist eingebettet in eine darüber hinausgehende Tradition, wenngleich diese Kontinuität auch eine Geschichte des permanenten Wandels beinhaltet.
- 1890: Gründung von Kahlbaum Laborpräparate
- 1927: Fusion zur Schering-Kahlbaum AG
- 1937: Komplettübernahme in die Schering AG
- 1945/48: Reparationsleistungen an die Sowjetunion/Verstaatlichung
- 1956: Gründung des VEB Berlin-Chemie
- 1990: Gründung der Berlin-Chemie AG
- 1992: Verkauf an die italienische Menarini-Gruppe
„Mit Transformation kennen wir uns aus“, sagen wir gern selbstvergewissernd, wenn es darum geht, den Fokus unserer Mitarbeitenden auf eine neue Herausforderung zu lenken. Davon gab es insbesondere in den letzten 30 Jahren sehr viele. Der zweifellos tiefgreifendste Wandel war die Integration in die Menarini-Gruppe, Italiens größten und leistungsfähigsten Pharmakonzern. Dessen Eigner und Lenker, der 2014 verstorbene Alberto Sergio Aleotti, sah in dem ostdeutschen Betrieb mehr als andere eine große Chance. Bei der Übergabe der Firma 1992 durch die Treuhandanstalt soll deren damalige Chefin Birgit Breuel zu ihm gesagt haben: „Ich übergebe Ihnen eine der wenigen Perlen der Treuhand.“
Das Projekt ‚GreenCHEM‘ setzt auf gesellschaftliche Innovationen durch eine nachhaltige Chemie. Die Beteiligten sprechen davon, in Berlin ein ‚Silicon Valley der grünen Chemie‘ zu schaffen.”
Versprechen für die Zukunft
Aleotti hatte seine Kaufabsicht mit dem Versprechen untermauert, das Unternehmen 20 Jahre lang nicht zu verkaufen. Er bekam den erhofften Zuschlag. Der Italiener konnte sich gegenüber zahlreichen anderen Interessenten aus aller Welt durchsetzen. Sein Versprechen hat er nicht nur gehalten, sondern den ehemaligen VEB Berlin-Chemie zum heute größten Einzelstandort von Menarini entwickelt. Der Weg dahin war zunächst steinig und schmerzvoll. Die Mitarbeiterzahl zu Anfang der 90er-Jahre verringerte sich vorübergehend von knapp 3.000 auf etwa die Hälfte. Ab 1995 stieg sie wieder von Jahr zu Jahr an, auf inzwischen über 5.000 Mitarbeitende.
Heute arbeiten neben den rund 2.000 Beschäftigten an Standorten in Berlin und Deutschland über 3.000 weitere Menschen in mehr als 30 Vertriebsgesellschaften und Niederlassungen, vor allem in Mittel- und Osteuropa sowie in Zentralasien. Über zwei Drittel der Belegschaft sind Frauen. Knapp drei Viertel der Mitarbeitenden besitzen einen akademischen Abschluss. Arzneimittel mit unserem Absender versorgen Patienten in über 90 Ländern auf allen Erdteilen. Menarini hat Berlin-Chemie zu einem zentralen Baustein seiner internationalen Strategie gemacht, sich als globales Pharmaunternehmen breit aufzustellen.
Die Erben Alberto Sergio Aleottis betonen gern sein Credo: „Stets von den Besten lernen und mit ihnen zusammenarbeiten.“ Diese Haltung hätte seine Entscheidungen bestimmt. Er folgte stets einer visionären Strategie. Mit Blick auf den VEB Berlin-Chemie hatte er von Anfang an weitreichende Vorstellungen von den Entwicklungsmöglichkeiten des Unternehmens. Diese stützen sich insbesondere auf die bereits vorhandenen Geschäftsbeziehungen des einstigen DDR-Betriebes zu den Ländern der früheren Sowjetunion. Die über die Jahrzehnte gewachsene Bekanntheit und das Ansehen von Berlin-Chemie erwiesen sich schon bald als Türöffner in den neu entstehenden Märkten. Der Firmenpatriarch verschaffte seiner ostdeutschen Tochtergesellschaft aber zugleich auch ausreichend Zeit, sich weiter zu entwickeln. Der bis heute geltende Grundsatz, Firmengewinne immer wieder ins Unternehmen zu investieren, hat sich auch hier ausgezahlt. „Wir denken nicht in Quartalen, sondern in Jahrzehnten“, hat ein früher Vorstandschef diese Strategie auf den Punkt gebracht. Berlin-Chemie trägt heute mit einem Umsatz von rund 1,5 Milliarden Euro etwa ein Drittel zum weltweiten Konzernergebnis von Menarini bei.
Die Basis des Erfolgs
Wesentlich für dieses Ergebnis ist der Kern unseres Geschäfts – die Herstellung und der Vertrieb von Arzneimitteln. Diese lassen sich nur erfolgreich vermarkten, wenn sie bei Ärzten, Apothekern und vor allem bei den Patientinnen und Patienten anhaltendes Vertrauen genießen. In unseren Produktionsstandorten in Berlin-Adlershof und Berlin-Britz stellt Berlin-Chemie feste Arzneimittel (Tabletten, Filmtabletten, Dragees), Liquida (Säfte und Tropfen) sowie Suppositorien her. Die wichtigsten Indikationsgebiete sind Atemwegserkrankungen, Antidiabetika, Herzkreislauf- und antivirale Präparate. Rund sieben Milliarden Tabletten, medizinische Säfte und Zäpfchen pro Jahr wurden zuletzt an den beiden Standorten hergestellt. Daneben ist Berlin-Chemie auch ein wichtiger Forschungsstandort für Menarini. Die Schwerpunkte liegen in der analytischen Chemie und der pharmazeutischen Entwicklung. Die Forschungs- und Entwicklungsthemen des Konzerns konzentrieren sich auf die Bereiche Onkologie und Infektionskrankheiten.
Alle Produkte von Berlin-Chemie werden unter modernen Bedingungen und unter Einhaltung strenger internationaler Richtlinien hergestellt. Die mit der Arzneimittelherstellung verbundenen Qualitätsanforderungen waren zu allen Zeiten unserer Unternehmensgeschichte anspruchsvoll. Das dafür notwendige Bewusstsein einer besonderen Verantwortung ist bei all unseren Mitarbeitenden in besonderer Weise ausgeprägt. Es wird an jede neue Generation weitergegeben und gehört zur DNA von Berlin-Chemie. Zur Genesung und Lebensqualität unzähliger Menschen beitragen zu können, vermittelt zugleich das Gefühl, im Dienst einer sinnvollen und verantwortungsvollen Aufgabe zu stehen. Es bewirkt darüber hinaus ein außergewöhnliches Engagement, um insbesondere die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Dieses Bewusstsein und das kontinuierlich auf die nächste Mitarbeitergeneration übertragene Know-how haben in der Vergangenheit dazu beigetragen, dass Berlin-Chemie auch kritische Zeiten recht robust meistern konnte.
Als modernes Industrieunternehmen mit einer über 130-jährigen Tradition am Standort sind wir nicht nur mit Blick auf die Eigentümerfamilie ein Familienbetrieb. Gar nicht so selten folgen die Kinder bei der Berufswahl ihren Eltern und werden bei Berlin-Chemie in den unterschiedlichsten Fachdisziplinen ausgebildet. Jedes Jahr beginnen bei uns um die 30 junge Leute – nicht nur Töchter und Söhne von Werksangehörigen – ihren Berufsweg und bilden eine feste Säule unseres Fachkräftenachwuchses. Manche von ihnen haben zuvor bereits ein Schülerpraktikum in einer unserer Abteilungen absolviert oder waren am Tag der offenen Tür unsere interessierten Gäste. Wir bilden junge Frauen und Männer unter anderem zu Chemielaboranten, Pharmakanten, Industriekaufleuten, Mechatronikern oder Industriemechanikern aus. Dabei kooperieren wir eng mit dem Bildungswerk Nordostchemie e.V., das sich gleich neben unserem Betriebsgelände in Berlin-Adlershof befindet.

Denkmal zu Ehren von Alberto Sergio Aleotti, der in Berlin-Chemie großes Potenzial sah. Abbildung: Markus Bachmann Photography
Lange Karrieren
Nicht wenige unserer Nachwuchskräfte stehen vor einer langen Berufskarriere bei Berlin-Chemie. In manchen Fällen währte sie fast fünf Jahrzehnte, wie im Fall von Frank Kruschbersky, der sich nach 45 Jahren Betriebszugehörigkeit nun in den Ruhestand verabschiedete. Er arbeitete in einer besonderen Abteilung, die bei uns die „Geschützte“ heißt. 1978, noch im DDR-Betrieb eingerichtet, beschäftigt unser Unternehmen in dieser Abteilung Menschen mit geistigen und körperlichen Einschränkungen. Sie sind vollständig in die Produktionsaufgaben integriert, werden nach Tariflohn bezahlt und verrichten manuelle Tätigkeiten bei der Konfektionierung von Arzneimitteln.

Berlin-Chemie ist ein wichtiger Forschungsstandort für den Menarini-Konzern. Abbildung: Markus Bachmann Photography
Silicon Valley der grünen Chemie
Gesellschaftliche Verantwortung übernimmt Berlin-Chemie auch an anderer Stelle. Nur fünf Minuten entfernt erstreckt sich im westlichen Teil Adlershofs die größte Wissenschaftsstadt Deutschlands mit vielen Instituten, Forschungseinrichtungen und Start-ups. Ihre naturwissenschaftlich-technische Ausrichtung sorgt für ein beeindruckend innovatives Umfeld. Täglich kommen viele Studierende sowie hoch qualifizierte Fachleute zur Arbeit nach Adlershof. Davon profitiert auch Berlin-Chemie. Zusammen mit den großen Berliner Universitäten und anderen industriellen Partnern der Stadt wurde 2023 das Projekt „GreenCHEM“ aus der Taufe gehoben, das auf gesellschaftliche Innovationen durch eine nachhaltige Chemie setzt. Die Beteiligten sprechen davon, in Berlin ein „Silicon Valley der grünen Chemie“ zu schaffen. Sie wollen Infrastruktur und Know-how verbinden, um nachhaltige Innovationen vom ersten Experiment bis zur industriellen Produktion zu beschleunigen. Der nächste Wandel in unserer langen Geschichte hat längst begonnen.

Rund sieben Milliarden Tabletten, medizinische Säfte und Zäpfchen werden pro Jahr in Berlin hergestellt. Abbildung: Markus Bachmann Photography
Berlin-Chemie AG
GEGRÜNDET: 1890/Ostberlin
STANDORT: Ostberlin
MITARBEITENDE: 5.000 (weltweit)
WEBSITE: berlin-chemie.de
Dr. Christian Matschke
GEBOREN: 1972/Wanne-Eickel
WOHNORT (aktuell): Berlin
MEIN FILMTIPP: „Gundermann“, 2018
MEIN URLAUBSTIPP: Elberadweg von Tangermünde nach Pirna
![]() „Denke ich an Ostdeutschland ...“In der Beziehung von Ost- und Westdeutschland ist auch 35 Jahre nach dem Mauerfall noch ein Knoten. Dieser Sammelband will einen Beitrag dazu leisten, ihn zu lösen. Die 60 Autorinnen und Autoren geben in ihren Beiträgen wichtige Impulse für eine gemeinsame Zukunft. Sie zeigen Chancen auf und skizzieren Perspektiven, scheuen sich aber auch nicht, Herausforderungen zu benennen. Die „Impulsgeberinnen und Impulsgeber für Ostdeutschland“ erzählen Geschichten und schildern Sachverhalte, die aufklären, Mut machen sowie ein positives, konstruktiv nach vorn schauendes Narrativ für Ostdeutschland bilden. „Denke ich an Ostdeutschland ... Impulse für eine gemeinsame Zukunft“, Frank und Robert Nehring (Hgg.), PRIMA VIER Nehring Verlag, Berlin 2024, 224 S., DIN A4. Als Hardcover und E-Book hier erhältlich. |