Dr. Judith Christine Enders, Politikwissenschaftlerin, Gruppenanalytikerin und Vorstand des Perspektive hoch 3 e.V., ist ein wichtige Impulsgeberin für Ostdeutschland. Sie setzt sich ein für Vergewisserung, Verständigung und Versöhnung. Mit diesem Beitrag ist sie auch in dem Sammelband „Denke ich an Ostdeutschland ...“ vertreten.
Denke ich an Ostdeutschland, denke ich zuerst an schöne Landschaften im wahrsten Sinn des Wortes. Die Landschaftsbilder meiner Heimat haben sich tief in mein Gedächtnis eingeprägt: von den relativ unberührten Ostseestränden mit Steilküsten und Wald bis an den Strand über mecklenburgische und brandenburgische Seen, umstanden von Buchenwäldern, hinzu sandigen Böden, über denen der Duft von Kiefern mäandert. Weiter über die sanften Hügel der Lausitz, die beeindruckenden Felsen des Elbsandsteingebirges zu den dunklen Tannen auf den Höhen des Rennsteigs. Natürlich gibt es an vielen Orten des Globus schöne, ja atemberaubende Landschaften. Aber ich war schon als Kind immer davon beeindruckt, dass innerhalb der kleinen DDR so eine landschaftliche Vielfalt und für mitteleuropäische Verhältnisse sogar eine gewisse Wildnis erhalten geblieben ist. Auch das vereinte Deutschland hat eine verblüff ende Landschaftsfülle und besticht durch ein diverses Antlitz. Aber die in der Kindheit eingesogenen Naturimpressionen erwärmen doch das Herz ein wenig mehr. Ebenso geht es mir mit den Gerüchen und Geschmäckern, im guten und im schlechten Sinne: der Geruch nach Braunkohle, der Gestank brauner Schwaden aus den Buna-Werken, wenn der Wind schlecht stand, aber auch die Wohlgerüche von Flieder und Buschwindröschen im Frühling, die kontinentale Trockenheit eines heißen Sommertags in der Luft östlich der Elbe oder der etwas modrige Geruch von Herbstlaub im Wald.
Und in diesen Landschaften tauchen früher oder später Frauen jeden Alters vor meinem inneren Auge auf. Schöne Frauen in Alltagssituationen, fotografiert von Sibylle Bergemann oder Ute Mahler für die „Sibylle“ (Melis 2010). Frauen auf dem Mähdrescher, als Straßenbahnfahrerinnen, als Ärztinnen (meine Mutter) oder im Blaumann im Betrieb (Misselwitz 1988). Nach meinem Dafürhalten ist die „Ostfrau“ noch heute ein wenig anders. Hat sich vielleicht eine spezifisch ostfeminine Art und Weise herausgebildet und bis heute weitergetragen?
Eine ostfeminine Art und Weise
Der Terminus „Ostfeminismus“ irritiert auf den ersten Blick ein wenig und wirft umgehend Fragen auf: Wie viele Feminismen kann es geben und gibt es wirklich einen spezifischen Ostfeminismus? Handelt es sich um ein postsozialistisches Phänomen, welches auch andere Länder und Gesellschaften betrifft (Länder in Mittel- und Osteuropa, Russland, Kuba oder gar China?), oder um ein ostdeutsches Konstrukt? Konstrukt deswegen, weil selbst der Begriff „Ostdeutschland“ ein Begriff der 1990er-Jahre ist, der erst in Abgrenzung zum hegemonialen (West-)Deutschland entstand (Enders/Kollmorgen/Kowalczuk 2021).
Und doch verfängt der Begriff zugleich, obwohl dies 34 Jahre nach der deutschen Einheit deren Unvollendet-Sein auch im Feminismus signalisiert. Der Begriff Feminismus selbst erscheint ein wenig aus der Zeit gefallen, während Genderdebatten die Diskussionen dominieren. Doch gleich zu Beginn: Feminismus als solidarischer Kampfbegriff ist bisher nicht überholt, leider. Gibt es da immer noch eine spezifisch östliche Komponente, trotzdem der Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs schon so lang zurückliegt?
Frauen in Ostdeutschland sind durch ihre weitgehend berufstätige Mütter- und Großmüttergeneration, die Erfahrung von umfangreichen Kinderbetreuungsmöglichkeiten und der Selbstverständlichkeit weiblicher Erwerbsarbeit (auch in weniger weiblich konnotierten Berufen) geprägt. Noch immer ist die Erwerbsquote unter ostdeutschen Frauen im Vergleich zu Frauen in Westdeutschland höher. Junge ostdeutsche Frauen scheinen wirtschaftliche Unabhängigkeit zu schätzen, sind weniger in einem traditionellen Familienbild verhaftet (BiB 2021) und beruflich sehr motiviert.
Wie lebt es sich heute?
Frauen mit ostdeutscher Biografie haben einen langen Prozess von Transformation durchlebt und sind von eben diesem wesentlich geprägt. Ausgehend von dieser Überlegung kann man sich fragen, welchen Einfluss die Transformationserfahrungen der Müttergeneration und die eigenen auf die emanzipatorische Positionierung dieser Frauengruppen haben und welche Aushandlungsprozesse zwischen verschiedenen vorgeprägten Lebensmodellen dabei ausschlaggebend sind. Kurzum: Wie lebt es sich heute als gut ausgebildete Ostdeutsche in einer globalisierten Welt? Wie verhält es sich mit Kindern und Karriere? Welche Formen der Arbeit werden gewählt, was bedeutet Freiheit und wo ist das Zuhause? Welches Geschlechterarrangement wird angestrebt und unterstützt?
Mit welchen Veränderungen und speziellen Herausforderungen werden diese Frauen in der heutigen Gesellschaft konfrontiert, welche sich ebenfalls als Transformationsprozesse fassen lassen? Wie stehen sie diesen gegenüber und welche Rolle spielen dabei alte weibliche Vorbilder? Welche gesellschaftlichen Rollen und Geschlechterarrangements werden gelebt und welche verworfen oder abgelehnt?
Dieser kurze Aufriss zeigt die Vielfalt der Fragen, die sich bezüglich der Frauengenerationen aus dem Osten stellen. Dabei sollten die generationellen Erfahrungen unbedingt beachtet werden. Haben sich womöglich Haltungen und Werte, die sich in 40 Jahren Frauenleben in der DDR anders entwickelt haben als in Westeuropa, in die nächste Frauen- und Mädchengeneration weitergetragen (vgl. Stiftung Ettersberg 2022)?
Frauen in Ostdeutschland sind durch ihre weitgehend berufstätige Mütter- und Großmüttergeneration, die Erfahrung von umfangreichen Kinderbetreuungsmöglichkeiten und der Selbstverständlichkeit weiblicher Erwerbsarbeit (auch in weniger weiblich konnotierten Berufen) geprägt.”
Patriarchale Bedingungen
Wie immer handelt es sich bei jeder Person um individuelle Realitäten, die sich gleichzeitig auf gesellschaftlichen Wandel beziehen. Bisher war es so, dass sich die Frauen aus Ostdeutschland in ihrer Lebensgestaltung von tradierten geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen und Wertemustern unterschieden. Unter Bezugnahme auf ihre persönlichen Transformationserfahrungen und die ihrer Eltern werden Partnerschaft und Familie, Arbeit und persönliche freiheitliche Lebensführung gestaltet. Es hat sich gezeigt, dass ein von männlichen Unterstützern (Partner, Arbeitgeber, Vater) unabhängiges Agieren in den jeweiligen individuellen Lebenssituationen selbstverständlicher ist. Eigenverantwortung und selbstbestimmtes Handeln stellen sich als grundlegendes Paradigma im patriarchalen Geschlechterarrangement heraus. Es liegt die Schlussfolgerung nahe, dass die Transformationserfahrung bzw. das Heranwachsen in Ostdeutschland einen evidenten Beitrag zu diesem emanzipatorischen Verhalten geleistet hat (Enders 2019).
Der Bezug zur ostdeutschen Frauenbewegung ist heute in weiten Teilen nur noch unbewusst durch familiäre weibliche Vorbilder, also transgenerational vorhanden. Die Bedingungen von Diktatur und Mangelwirtschaft sind nicht mehr die prägenden Voraussetzungen des politischen und lebenspraktischen Handelns. Vielmehr müssen sich alle Frauen in Deutschland mit den patriarchalen Bedingungen der Marktwirtschaft auseinandersetzen. Gleichzeitig wird politisches und emanzipatorisches Engagement in der Demokratie nicht mit staatlichen Repressionen wie in der DDR bedroht. So sind sowohl die gesellschaftspolitischen, ökonomischen, institutionellen und sozialen Bedingungen für feministisches Handeln grundsätzlich günstigere als vor 1989. Dementsprechend ist nicht ein „Ostfeminismus“ erkennbar, sondern eher von Akteurinnen mit ostdeutschem Erfahrungshintergrund im globalen feministischen Spektrum zu sprechen. Interessant ist es, die feministischen Aktivitäten in den Ländern Mittel- und Osteuropas dazu in Beziehung zu setzen. Diese haben selbstverständlich eine jeweils spezifische Ausprägung. Beispiele sind die von Frauen angeführte Reformbewegung in Belarus, Erscheinungen wie Pussy Riot oder auch Retraditionalisierung im katholisch geprägten Polen.
Durch solche Vergleiche und Perspektivwechsel können Gemeinsamkeiten erkannt, aber auch der Einfluss der westdeutschen Frauenbewegung auf den Osten sichtbar gemacht werden. „Ich dachte: Normal. Durchschnitt. Nicht besonders aufregend. Das ist das Leben meiner Mutter in der DDR. Bis ich mehr und mehr andere Mütter kennengelernt habe – in meiner neuen Heimat, im Süden Deutschlands“ (Thoms 2018). Das Leitbild der Hausfrauenehe ist im Westen durch eine größere Optionenvielfalt erweitert worden. Im Osten ist das Vollerwerbstätigkeitsideal bei Frauen erhalten geblieben. Dabei sind auch die Mütter häufig vollerwerbstätig. Im Westen dominiert die hinzuverdienende Mutter (BiB 2020). Die Entwicklungen durch die Erfahrungen von Homeschooling und Homeoffice in der Coronakrise haben jedoch gezeigt, wie zäh der Prozess der Annäherung der Verteilung von Sorge- und Erwerbsarbeit zwischen den Geschlechtern verläuft (Ehrenburg 2022). Hier besteht in beiden Teilen Deutschlands weiterhin dringender Handlungs- und Veränderungsbedarf.
Literaturnachweise
1. Enders, J. C., Kollmorgen, R., Kowalczuk, I.(2021): „Deutschland ist eins: vieles. Bilanz und Perspektiven von Vereinigung und Transformation“ Campus Verlag: Frankfurt, New York.
2. Enders, J. C. (2019): „Feminismus und Mütterlichkeit – ein Ost-West Thema?“ In: Femina Politica. Jg. 28, H. 02/2019: 140-146.
3. Ehrenburg, A. (2022): „Pandemie als Selbsterforschung“. In: Czerney, S., Eckert L., et al.: „Mutterschaft und Wissenschaft in der Pandemie: (Un-)Vereinbarkeit zwischen Kindern, Care und Krise“. Leverkusen: Verlag Barbara Budrich.
4. Misselwitz, H. (1988): „Winter Adé“: Film, schwarz-weiß, DDR 1988.
5. Melis, D. (Hrsg.) (2010): „Sibylle. Modefotografien 1962-1994“. Leipzig: Lehmstedt Verlag.
6. Thoms, K. (2018): „Mensch Mutta. Ein Podcast“, https://menschmutta.de/, abgerufen am 03.06.2024.
7. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) (2021): „30 Jahre Deutsche Einheit: DDR-Frauen nach der Wende und im Osten“.
8. https://www.bib.bund.de/DE/Service/Podcast/201027_schneider_deutsche_einheit_frauen.html (24.5.2021).
9. Stiftung Ettersberg (2022): „Horchpost DDR: Frauen in der DDR“, 9.8.2022.
Dr. Judith Christine Enders
GEBOREN: 1976/Altenburg (Thüringen)
WOHNORT (aktuell): Berlin
MEIN BUCHTIPP: Jenny Erpenbeck: „Kairos“, 2021
MEIN FILMTIPP: „Winter adé“, 1988
MEIN URLAUBSTIPP: Brand-Baude (Sächsische Schweiz)
BUCHTIPP:
„Denke ich an Ostdeutschland ...“In der Beziehung von Ost- und Westdeutschland ist auch 35 Jahre nach dem Mauerfall noch ein Knoten. Dieser Sammelband will einen Beitrag dazu leisten, ihn zu lösen. Die 60 Autorinnen und Autoren geben in ihren Beiträgen wichtige Impulse für eine gemeinsame Zukunft. Sie zeigen Chancen auf und skizzieren Perspektiven, scheuen sich aber auch nicht, Herausforderungen zu benennen. Die „Impulsgeberinnen und Impulsgeber für Ostdeutschland“ erzählen Geschichten und schildern Sachverhalte, die aufklären, Mut machen sowie ein positives, konstruktiv nach vorn schauendes Narrativ für Ostdeutschland bilden. „Denke ich an Ostdeutschland ... Impulse für eine gemeinsame Zukunft“, Frank und Robert Nehring (Hgg.), PRIMA VIER Nehring Verlag, Berlin 2024, 224 S., DIN A4. Als Hardcover und E-Book hier erhältlich. |