Dr. Knuth Baumgärtel, Geschäftsführender Gesellschafter der Micro-Hybrid Electronic GmbH, ist ein wichtiger Impulsgeber für Ostdeutschland. Er setzt sich ein für Vergewisserung, Verständigung und Versöhnung. Mit diesem Beitrag ist er auch im zweiten Sammelband „Denke ich an Ostdeutschland ...“ vertreten.

Dr. Knuth Baumgärtel, Geschäftsführender Gesellschafter Micro-Hybrid Electronic GmbH. Abbildung: Micro-Hybrid
Denke ich an Ostdeutschland, dann entsteht schnell ein komplexes Gedankenkonstrukt: Ich sehe Aspekte meiner eigenen Lebensgeschichte und ich sehe Ostdeutschland als wirtschaftlich, geistig und kulturell zu formende Region. Mein Stimmungsbild hierbei könnte heterogener nicht sein! Dann denke ich an mein Thüringen, aber auch an mein Heranwachsen als Kind und Jugendlicher in der DDR. Eine unbeschwerte Zeit zwischen Stadt und Land.
Natürlich mache ich mir sehr viele Sorgen über die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung, denn die Herausforderungen für den Osten sind riesig: Alterung der Gesellschaft, schwaches Wirtschaftswachstum, antidemokratische Tendenzen, um nur einige Aspekte zu nennen. Am Ende mag ich aber meinen Osten und seine Leute und ich freue mich, auch selbst ein Stückchen Ostdeutschland zu sein.
Manchmal bin ich genervt davon, dass wir hier in unserer Region Ostthüringen wichtige Zukunftsprojekte nicht oder nicht schnell genug umsetzen können. Gefühlt mangelt es den Entscheidungsträgern oft an Risikobereitschaft und Verantwortungsübernahme. Die Selbstwirksamkeit ist sicherlich durchschnittlich geringer ausgeprägt als im Westen – auch eine Spätfolge der kommunistischen Diktatur bis 1989. Deshalb ist bei uns der Ruf nach einem Staat, der alles regeln soll, besonders ausgeprägt. Ich sehe aber auch weiterhin die Mentalität, dass der Investor bzw. das Unternehmen nur aus dem Ausland oder aus Westdeutschland kommen kann. Die Idee eines endogenen – also aus eigenen ostdeutschen Wirtschaftsstrukturen erzeugten – Wachstums ist kaum vorhanden.
Nur als Ostdeutscher […] war es mir möglich, den Transformationsprozess auch für Micro-Hybrid anzustoßen.”
Transformationserfahrung
Gerade 18 Jahre geworden, lebte ich bis zur Wende im Herbst 1989 wirtschaftspolitisch desinteressiert als Jugendlicher in der DDR. Ich erlebte, wie mit dem Mauerfall meine sicher geglaubten sozioökonomischen Verweisbeziehungen nicht mehr taugten und ich mich im Kontext westdeutscher Maßstäbe neu vermessen musste. Zwei Erlebnisse illustrieren das ganz gut.
Nur wenige Tage nach der innerdeutschen Grenzöffnung wollte ich unbedingt nach Westberlin fahren, um mir eine Lederjacke zu kaufen. Damals machte ich eine Ausbildung zum Betriebs-, Mess-, Steuer- und Regeltechniker in einem Chemiefaserwerk in der deutsch-polnischen Grenzstadt Guben. Ich nahm den Abendzug nach Ostberlin und fuhr mit der S-Bahn zur Kurfürstenstraße. Als ich dort das erste Mal westdeutschen Jugendlichen begegnete und die Straßenszene auf mich wirkte, spürte ich intuitiv eine große Distanz. Es machte mich ein wenig traurig und auch verlegen, weil die Leute anders redeten, sich anders bewegten und kleideten. Sie wirkten selbstbewusster und schöner. Hatte ich bis dahin ein robustes Selbstwertgefühl, beschlich mich ein Gefühl des Mangels und des Defizits.
Am 1. Juli 1990 wurde die Wirtschafts- und Währungsunion vollzogen und damit die D-Mark in der Ostzone eingeführt. Mein Vater schickte mich Hals über Kopf zu einem Sprachtraining nach Torquay in Südengland. In den drei Wochen spürte ich, wie die westliche Welt tickt und welches Lebensgefühl dort vorherrscht. Dabei wurde mir bewusst, dass ich aufgrund meiner Lebenswirklichkeit und meiner Erfahrungen einen anderen Weltzugriff habe als die Westler – und das nicht nur wegen meines im Vergleich deutlich schlechteren Englischs.
In den folgenden Jahren habe ich meine geistigen, materiellen und familiären Ressourcen genutzt, um mich selbst zu entwickeln und zu verändern, um mein Potenzial in der offenen Gesellschaft und der freien Welt zu nutzen. Ich machte mein Abi, studierte an drei Universitäten, davon ein Jahr in Galway an der Westküste Irlands, jobbte in London. Schließlich promovierte ich an der Bauhaus- Universität in Weimar. An meiner Fakultät, der Fakultät für Medien an dieser ostdeutschen Hochschule, war ich selbst 2005 – also 15 Jahre nach der Wende – der erste ostdeutsche Doktorand und wissenschaftliche Mitarbeiter. Ohne die Erbschaft der Unternehmensanteile (50 Prozent) an der Micro-Hybrid Electronic GmbH (Micro-Hybrid) wäre ich keinesfalls nach Ostthüringen zurückgekehrt. Vielmehr hätte ich versucht, in der Berliner Musikindustrie Fuß zu fassen. Aber so entstand das Unwahrscheinliche und ich fand mich 2005 in der Thüringer Kleinstadt Hermsdorf wieder, um ein kleines Elektronikunternehmen zu führen.

Unternehmensgründer Werner Baumgärtel (rechts) und Karl Wißpeintner um 2010. Abbildung: Micro-Hybrid
Überleben und Neustart
Micro-Hybrid wurde zu dem Zeitpunkt von meinem Vater Werner Baumgärtel allein geführt. Es gab seit der Gründung im April 1992 aus dem Betrieb Mikroelektronik der Keramischen Werke Hermsdorf einen strategischen westdeutschen Partner. Während mein Vater jahrzehntelange ostdeutsche Führungserfahrung einbrachte, steuerte der langjährige geschäftsführende Gesellschafter der Micro-Epsilon Messtechnik – Karl Wißpeintner – Expertise in marktwirtschaftlicher Unternehmensführung bei. Es wurden elektronische Module hergestellt. Hierbei trat Micro-Hybrid vornehmlich als Fertigungsdienstleister ohne eigene Produktentwicklungsmöglichkeiten auf. Abschätzig wurden diese Unternehmen damals als Lohndienstleister bezeichnet und punkteten auch preislich im „Billiglohnland Thüringen“.
Dementsprechend sah das Unternehmen auch aus, als ich 2005 als Assistent der Geschäftsleitung alle Bereiche kennenlernen sollte: Mein erstes Büro war das „Aquarium“ – ein innen liegender Raum ohne Fenster. Lediglich eine Glaswand zu einem Produktionsraum gab es. Rechts an der Wand vor dem Raum hing noch ein uraltes Telefon aus DDR-Zeiten, mit Wählscheibe, aber natürlich nicht mehr funktionsfähig. Die gesamte Möblierung stammte aus den 1970er-Jahren. Das Firmengebäude war in den 1960er-Jahren gebaut, und produziert wurde vornehmlich mit gebrauchten oder bereits abgeschriebenen Maschinen und Anlagen, teils noch aus der Zeit vor dem Mauerfall.
Nur als Ostdeutscher, der die ersten achtzehn Lebensjahre in diesem Umfeld verbracht hatte, war es mir möglich, den Transformationsprozess, den ich ja längst durchlaufen hatte, auch für Micro-Hybrid anzustoßen. Denn nicht nur das Gebäude, die Maschinen und Anlagen waren kaum zukunftsfähig, sondern auch die Belegschaft war monokulturell und eindimensional aufgestellt.

Headquarters der Micro-Hybrid Electronic GmbH und Welcome-Center des Tridelta Campus e.V. Abbildung: Micro-Hybrid
Genese der Transformationsidee
Ich wollte ein Unternehmen führen, das eine wirklich relevante Leistung für die Gesellschaft erbringt. Ich wollte sinnstiftende Dinge tun und auch langfristig erfolgreich sein. Später habe ich dieses Denken in die Unternehmensvision „Nachhaltiges, profitables Wachstum“ gegossen. Und ich wollte für „unsere Leute“, also die Angestellten und ihre Familien, ein stolzes Gefühl, bei Micro-Hybrid zu arbeiten. Die Umsetzung dieser Unternehmensphilosophie erforderte allerdings zwei Dekaden. Die Transformation war zu umfangreich, als dass sie hätte in kurzer Zeit stattfinden können. Zahlreiche Hemmnisse waren im Unternehmen zu finden, aber auch außerhalb vorhanden. Auch ich war als Alleingeschäftsführer mit damals 32 Jahren sicherlich nur wenig erfahren und musste quasi im Trial-and-Error-Verfahren einige Schleifen der Veränderung mehr drehen.
Als junger Wilder brachte ich natürlich meine Erlebnisse und Erfahrungen aus der westlichen Welt mit. Allerdings war ich schon immer gerne theoretisch unterwegs und mein Weltzugriff erfolgte damals größtenteils wissenschaftlich fundiert. Ich war fest davon überzeugt, dass mit brillanten und widerspruchsfreien Ansätzen eine Unternehmensführung gelingen kann und Wachstum – gerade aus der ostdeutschen Aufholsituation heraus – durchaus möglich ist.
Eine weitere wichtige Säule für die positive Unternehmensentwicklung war die Beteiligung der Firma Micro-Epsilon Messtechnik aus Bayern. Insbesondere Karl Wißpeintner ist als Persönlichkeit wichtig gewesen. Er wollte gemeinsam mit meinem Vater Werner Baumgärtel vor allem Technologien und Produkte entwickeln und vermarkten. Es ging beiden passionierten Elektrotechnikern vor allem um gute Technik und wie man technische Lösungen für aktuelle und zukünftige Probleme anbieten kann. Zumindest habe ich erfahren, dass beide oft bis nach Mitternacht gefachsimpelt haben.

Geburtsstunde der Micro-Hybrid Electronic GmbH im Mai 1992. Abbildung: Micro-Hybrid
Der Marktführer
2025 ist Micro-Hybrid ein internationalisiertes Unternehmen mit weltweit führenden Produkten und Technologien. Es gibt Beteiligungen und Tochtergesellschaften in Deutschland, China und den USA. Insgesamt arbeiten knapp 300 Personen aus 14 Nationalitäten für uns. Unsere Produkte und Technologien werden in über 40 Ländern der Erde genutzt. Über die letzten zehn Jahre sind internationale Patente und darüber hinaus eine Fülle von Wissen und Know-how entstanden. Damit kann eine wirklich nachhaltige Unternehmensentwicklung in Ostdeutschland gesichert werden. Zentrale Wertschöpfungsbestandteile entstehen somit nicht mehr durch Produktion, sondern durch Produkt- und Technologieentwicklung sowie internationalen Vertrieb.
Die Transformation von Micro-Hybrid vom Lohndienstleister zu einem eigenständigen Premiumproduktanbieter, der nachhaltiges, profitables Wachstum am Standort Ostdeutschland sicherstellt, könnte ein Vorbild für die zukünftige Ausrichtung der Wirtschaftspolitik für den Osten sein. Wird Ostdeutschland noch vordergründig als billiges Produktionsland gesehen, in dem internationale Konzerne Produktionsstätten errichten (zum Beispiel Tesla, Intel, GlobalFoundries), kann genau diese Wirtschaftsstruktur keine weiteren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wachstumspotenziale hervorbringen. Anstatt Ostdeutschland nur in Relation zu Westdeutschland zu sehen, müssen wir es als Region in Europa und der Welt verstehen.
In der Stärkung der Ertragskraft und Wachstumsfähigkeit ostdeutscher Unternehmen sehe ich ein Fundament für einen nachhaltigen Wohlstands- und Wachstumspfad. Deshalb plädiere ich für die massive Förderung der Produktentwicklung von bereits (international) erfolgreichen, von Ostdeutschen geführten Unternehmen. Dann könnte auch in der Breite ostdeutsches Kapital akkumuliert werden, das für weiteres Wachstum reinvestiert werden kann. Und dann bekommen wir es auch mit der so wichtigen Selbstwirksamkeit hin, um endlich endogenes, aus sich und seinen Leuten selbst heraus geschaffenes Wachstum hier zu ermöglichen.

Verleihung des Ernst-Abbe-Preises für innovatives Unternehmertum, 2021. Abbildung: Ernst-Abbe-Hochschule
Micro-Hybrid Electronic GmbH
GEGRÜNDET: 1992/Hermsdorf (Thüringen)
STANDORTE: Deutschland, China, USA
MITARBEITENDE: 300
WEBSITE: microhybrid.com
Dr. Knuth Baumgärtel
GEBOREN: 1972/Sondershausen
WOHNORT (aktuell): Bad Klosterlausnitz
MEIN BUCHTIPP: Uwe Tellkamp: „Der Turm – Geschichte aus einem versunkenen Land“, 2008
MEIN FILMTIPP: „Das Leben der Anderen“, 2006
MEIN URLAUBSTIPP: Weimar, Oberhof
![]() „Denke ich an Ostdeutschland ...“In der Beziehung von Ost- und Westdeutschland ist 35 Jahre nach dem Mauerfall noch ein Knoten. Auch dieser zweite Sammelband will einen Beitrag dazu leisten, ihn zu lösen. Die weiteren 60 Autorinnen und Autoren geben in ihren Beiträgen wichtige Impulse für eine gemeinsame Zukunft. Sie zeigen Chancen auf und skizzieren Perspektiven, scheuen sich aber auch nicht, Herausforderungen zu benennen. Die „Impulsgeberinnen und Impulsgeber für Ostdeutschland“ erzählen Geschichten und schildern Sachverhalte, die aufklären, Mut machen sowie ein positives, konstruktiv nach vorn schauendes Narrativ für Ostdeutschland bilden. „Denke ich an Ostdeutschland ... Impulse für eine gemeinsame Zukunft“, Band 2, Frank und Robert Nehring (Hgg.), PRIMA VIER Nehring Verlag, Berlin 2025, 224 S., DIN A4. Als Hardcover und E-Book hier erhältlich. |