Dr. Reiner Haseloff, der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, ist ein wichtiger Impulsgeber für Ostdeutschland. Er setzt sich ein für Vergewisserung, Verständigung und Versöhnung. Mit diesem Beitrag ist er auch in dem Sammelband „Denke ich an Ostdeutschland ...“ vertreten.
Denke ich an Ostdeutschland … – dann denke ich spontan an Heinrich Heines „Nachtgedanken“. Hier findet sich der berühmte Eingangsvers „Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht.“ Heines Verhältnis zu seinem Vaterland war ambivalent. Einerseits war sein Verdruss über das reaktionäre Deutschland und die politischen Zustände groß. Andererseits hatte Heine im Innersten eine tiefe Sehnsucht nach seinem Vaterland: nach einem anderen, aufgeklärten Deutschland.
Wie würde Heinrich Heine heute über Deutschland denken? Wir können das nicht wissen. Aber ich glaube, sein Urteil würde bestimmt positiver, sehr viel weniger verbittert, wenngleich auch nicht gänzlich unkritisch sein. Heine würde ganz sicher das Neue und Einzigartige an unserer Republik, das heißt ihre Entstehung, würdigen. Denn sie verdankt sich einer demokratischen Revolution. Vor allem die Kirchen boten den Menschen in der DDR in den 1980er-Jahren Frei- und Schutzräume, und sie waren Impulsgeber. Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Dass unsere Revolution gewaltfrei blieb, war vor allem ein Verdienst der Kirchen. Diese friedliche Revolution war gleichermaßen ein nationales, vor allem aber ein ostdeutsches, und auch ein europäisches Ereignis. Leider prägt diese Erfolgsgeschichte viel zu wenig unser Selbstbewusstsein.
Schwierigkeiten des Zusammenwachsens
Wer über Ostdeutschland nachdenkt, der muss seinen Blick auf die deutsche Nachkriegsgeschichte lenken, und dieser Blick ist ein doppelter: auf zwei Staaten und dabei gleichzeitig auf zwei Gesellschaftssysteme. Deutschland war 40 Jahre geteilt. Zwar war die Geschichte der alten Bundesrepublik und der DDR miteinander verflochten. Aber in dieser Zeit haben sich auch unterschiedliche Erinnerungskulturen und mentale Dispositionen herausgebildet. Das kulturelle und mentale Zusammenwachsen gestaltete sich jedenfalls schwieriger als 1990 vermutet. Liberale und totalitäre Sozialisationserfahrungen wirken bis heute nach. Und während sich für die meisten Bürger der alten Bundesrepublik nach 1989 nichts veränderte und grundsätzlich alles beim Alten blieb, kam es in den Biografien von vielen ehemaligen DDR-Bürgerinnen und -Bürgern zu einschneidenden Veränderungen und Brüchen. Darüber wurde kaum und mit viel zu wenig Empathie gesprochen. Viele Menschen empfanden das zu Recht als Entwertung ihrer Biografien und mangelnden Respekt gegenüber ihren Lebensleistungen. Wo blieb der wertschätzende Blick?
Ich selbst habe die Enttäuschungen vieler Menschen hautnah in den 1990er-Jahren als Arbeitsamtsdirektor in Wittenberg erlebt. Damals mussten wir große und ineffiziente Betriebe und Kraftwerke schließen. Von einem zum anderen Tag verloren Menschen ihren Arbeitsplatz, und wir mussten an manchen Tagen gleichzeitig mehreren Tausend Menschen ihren Antrag auf Arbeitslosengeld aushändigen. Davon hat man im Westen nur wenig mitbekommen.
Hier sprach man lieber vom Wirtschaftswunder der Nachkriegsjahre. Nie zuvor war ein Teil der Deutschen schneller wohlhabend geworden als in dem Vierteljahrhundert nach 1950. Die „Trente Glorieuses“, die „30 glorreichen Nachkriegsjahre“, brachten der Bundesrepublik und vielen anderen westlichen Industriestaaten Wohlstand, Bildung und Stabilität in einem bis dahin nicht für möglich gehaltenen Ausmaß. Wer ähnliche Erwartungen nach 1990 hegte, musste enttäuscht werden.
Die friedliche Revolution war auch ein europäisches Ereignis. Leider prägt diese Erfolgsgeschichte viel zu wenig unser Selbstbewusstsein.”
Denn bei näherer Betrachtung ließ sich das vermeintliche Wirtschaftswunder sehr gut erklären. Es war das Resultat eines abrupten Wandels der wirtschaftlichen Leitideen, der Wirtschaftsordnung, der internationalen Institutionen und der Wirtschaftspolitik nach 1945. Auch trugen die ökonomischen Impulse des Marshallplans wesentlich zum wirtschaftlichen Aufschwung bei. Vergleichbares gab es für die Länder unter sowjetischem Einfluss nicht. Zudem waren der Koreakrieg und die Liberalisierung des Weltmarktes – mit Ausnahme der kommunistischen Einflusssphäre – entscheidend für den wirtschaftlichen Aufschwung der Bundesrepublik, der hauptsächlich ein exportbasierter Boom blieb. Das alles waren singuläre Voraussetzungen.
Ganz anders war die Situation in der DDR. Ihre soziale Schichtung unterschied sich markant von der bundesrepublikanischen. Ein Mittelstand und eine Kultur der Selbstständigkeit existierten in der DDR nicht. Das Bürgertum als Sozialformation war in der DDR zerschlagen worden. Vom Bildungsbürgertum blieben nur Reste. Das Leben war durchstaatlicht: 9,6 Millionen Menschen gehörten dem FDGB an und fast jeder fünfte Erwachsene war Mitglied der SED.
Die neuen Länder standen nach 1990 vor allem gesellschaftlich wie ökonomisch vor enormen Herausforderungen. Besonders schwierig war die wirtschaftliche Ausgangssituation in unserem Bundesland. Enttäuschungen blieben nicht aus. Wir haben im Osten Schrumpfung und Wachstum in vielen Regionen sowie den Niedergang und Aufstieg von ganzen Industriezweigen erlebt. Aber wir haben auch gelernt, mit diesem Wandel umzugehen und ihn erfolgreich zu gestalten. Trotz aller Probleme gelang der Sprung von Marx zum Markt.
Der Blick nach vorn
Sachsen-Anhalt hat sich unbestritten als starker und innovativer Wirtschaftsstandort etabliert. Unser Land ist attraktiv für Investoren und Forschungseinrichtungen. Ich will zwei aktuelle Beispiele nennen: Am 15. März 2022 hat Intel offiziell sein Ansiedlungsvorhaben in Magdeburg bekannt gegeben. Die Investitionen in Magdeburg sind Teil des Europäischen Investitionsprogramms von Intel. Europas digitale und grüne Zukunft wird auch in Magdeburg gestaltet. Nicht zu unterschätzen ist hier der Multiplikatoreffekt. Von der Intel-Ansiedlung werden nicht nur die Stadt, die umliegenden Regionen und zahlreiche heimische Unternehmen profitieren. Auch der Standort Sachsen-Anhalt wird für potenzielle Investoren noch attraktiver. Dafür sind mittlerweile wichtige Weichen gestellt worden.
Ein anderes Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit ist das Center for the Transformation Chemistry (CTC). Seine Standorte werden Merseburg und das sächsische Delitzsch sein. Das Großforschungszentrum wird einen wichtigen Beitrag zum Strukturwandel im Mitteldeutschen Revier leisten. Mit Blick auf den Braunkohleausstieg und die Klimakrise soll es die Resilienz der Chemieindustrie stärken und helfen, die Branche zukunftssicher umzubauen, und zwar hin zu einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft.
Neben den ökonomischen Herausforderungen hatte Sachsen-Anhalt auch mit gravierenden ökologischen Problemen zu kämpfen. Ich habe selbst vor 1990 im Umweltschutz gearbeitet. Mein früheres Institut ist nach der Wiedervereinigung in das Umweltbundesamt eingegliedert worden. Vor 1990 befanden sich Flüsse und Luft in einem sehr bedenklichen Zustand. Sachsen-Anhalt gehörte zu den am stärksten verschmutzten Regionen Europas. Bei der Bewältigung dieser ökologischen Hinterlassenschaften sind wir überraschend schnell sehr gut vorangekommen.
Heute ist vor allem der Ausbau erneuerbarer Energien der Schlüssel zur Energiewende und zum Klimaschutz. Bei der installierten Leistung im Bereich Windenergie und Biomasse belegt Sachsen-Anhalt bundesweit vordere Plätze. Sehr positiv gestaltet sich auch der Zubau der Solarleistung. Denke ich an Ostdeutschland, dann denke ich auch an blühende Landschaften. Diese bildhafte Vision ist zu einem geflügelten Wort geworden, das nach wie vor polarisiert. Aber es gibt keinen Anlass zur Häme: im Gegenteil. Wer heute die Situation in Ostdeutschland mit von 1989/90 vergleicht, erkennt, wie viel sich nachhaltig und positiv verändert hat.
Nach schwierigen Jahren wird Sachsen-Anhalt heute als Aufsteigerland wahrgenommen. Hier existieren Gestaltungsräume, um kreative und innovative Ideen umzusetzen. In unserer Kampagne #moderndenken werden kleine und große Ideen sowie ihre Protagonisten vorgestellt: Menschen, Unternehmen, Institutionen, Vereine, die vordenken, handeln und die Zukunft gestalten. Modernes Denken ist ein besonderes Markenzeichen Sachsen-Anhalts.
Aber der Blick auf (Ost-)Deutschland ist trotz aller Erfolge und Fortschritte nicht ungetrübt. Noch immer ist die Repräsentanz von Ostdeutschen in Führungspositionen äußerst unbefriedigend. Die Elite tickt westdeutsch. Spitzenpositionen sind mit Westdeutschen besetzt. Deren Netzwerke erweisen sich für Ostdeutsche nach wie vor als Karrierekiller. Darauf weise ich seit vielen Jahren dezidiert hin. Geändert hat sich aber leider fast gar nichts.
Eine Herausforderung für unsere Demokratie bleibt die AfD. Die AfD ist nicht das, was sie mit ihrem Namen vorgibt zu sein. Ursprünglich war sie, was heute oft übersehen wird, ein westdeutsches Projekt marktliberaler Eurokritiker. Von ihren Ursprüngen hat sich die Partei weit entfernt. Sie hat sich in den letzten Jahren immer stärker radikalisiert. Und dieser Radikalisierungsprozess setzt sich weiter fort. Wählerinnen und Wähler der AfD pauschal anzugreifen läuft aber ins Leere. Wir müssen vielmehr deren Motivation verstehen und uns selbstkritisch fragen: Was haben wir falsch gemacht und was müssen wir künftig besser machen? Die Stärke der AfD beruht zum Allerwenigsten auf eigenen Konzepten, sondern auf Defiziten der aktuellen Politik. Wir müssen aufklären und dürfen nicht schweigen. Hier sehe ich alle demokratischen Parteien in der Pflicht: im Westen und im Osten.
Denke ich an Ostdeutschland, dann denke ich auch immer an die Jahre unmittelbar nach 1990. Sie vor allem haben gezeigt: Große Probleme lassen sich in gemeinsamer Verantwortung bewältigen. Diese Erfahrung macht Mut, die vor uns liegenden großen nationalen und internationalen Herausforderungen selbstbewusst anzunehmen. Sie kann uns Orientierung in schwierigen Zeiten bieten. Deshalb ist mein Blick auf Ostdeutschland – mehr als dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung und trotz mancher Unwägbarkeiten – ein optimistischer und auch ein stolzer.
Dr. Reiner Haseloff
GEBOREN: 1954/Bülzig bei Lutherstadt Wittenberg
WOHNORT (aktuell): Lutherstadt Wittenberg
MEIN BUCHTIPP: Clemens Meyer: „Als wir träumten“, 2006
MEIN FILMTIPP: „Das Leben der Anderen“, 2006
MEIN URLAUBSTIPP: Die Unesco-Welterbestätten in Sachsen-Anhalt
BUCHTIPP:
„Denke ich an Ostdeutschland ...“In der Beziehung von Ost- und Westdeutschland ist auch 35 Jahre nach dem Mauerfall noch ein Knoten. Dieser Sammelband will einen Beitrag dazu leisten, ihn zu lösen. Die 60 Autorinnen und Autoren geben in ihren Beiträgen wichtige Impulse für eine gemeinsame Zukunft. Sie zeigen Chancen auf und skizzieren Perspektiven, scheuen sich aber auch nicht, Herausforderungen zu benennen. Die „Impulsgeberinnen und Impulsgeber für Ostdeutschland“ erzählen Geschichten und schildern Sachverhalte, die aufklären, Mut machen sowie ein positives, konstruktiv nach vorn schauendes Narrativ für Ostdeutschland bilden. „Denke ich an Ostdeutschland ... Impulse für eine gemeinsame Zukunft“, Frank und Robert Nehring (Hgg.), PRIMA VIER Nehring Verlag, Berlin 2024, 224 S., DIN A4. Als Hardcover und E-Book hier erhältlich. |