Dr. Stefan Traeger, der Vorstandsvorsitzende der Jenoptik AG, ist ein wichtiger Impulsgeber für Ostdeutschland. Er setzt sich ein für Vergewisserung, Verständigung und Versöhnung. Mit diesem Beitrag ist er auch in dem Sammelband „Denke ich an Ostdeutschland ...“ vertreten.
Denke ich an Ostdeutschland, dann sehe ich Transformation, Umbrüche und Verunsicherung. Aber auch Ausdauer und Zuversicht. Ich war als gebürtiger Jenenser schon früh mit Zeiss verbunden, mit der Geschichte des Unternehmers, der die Stadt Jena maßgeblich geprägt hat, aber auch mit dem Kombinat, in dem viele Tausende Menschen in der Region arbeiteten. Ich selbst habe bei Zeiss einen Beruf gelernt, wurde zunächst Elektronikfacharbeiter, weil ich nach dem Abitur zunächst nicht studieren durfte. Dass ich mal Vorstandsvorsitzender eines ostdeutschen Konzerns werde, habe ich damals im Leben nicht gedacht.
Optik und Photonik als Möglichmacher
Beim Mauerfall war ich 22 Jahre alt. Mit der Wende begann mein zweites Leben – und ich wollte in die Welt, die neue Freiheit genießen. Ich habe in Hannover studiert und bin als Postdoc nach Stanford gegangen. Das hat mein Leben kulturell enorm bereichert. Diese Chance hatten nicht alle in meiner Thüringer Heimat. Viele erlebten eine zum Teil recht schmerzhafte Transformation mit Arbeitsplatzverlust und Ungewissheiten in einem neuen politischen System. In der Stadt Jena ist die Wende gelungen – im Rückblick, muss man heute sagen, und sicher auch dank glücklicher Umstände –, weil die Stadt besonders war, weil dort viele gut ausgebildete Menschen lebten und viele fast rebellisch dem vermeintlichen Schicksal der Abwicklung entgegenwirkten, darunter auch der erste Geschäftsführer von Jenoptik, Lothar Späth.
Dank ihres Engagements und ihrer Beharrlichkeit ist Jena heute eine moderne Stadt mit Tradition und starken Wurzeln in der optischen Industrie, für die im 19. Jahrhundert mit Carl Zeiß, Ernst Abbe und Otto Schott die Grundlagen entstanden. Diese Industrie bietet heute einer Vielzahl von Unternehmen, von KMU bis zu Konzernen wie Jenoptik, die Chance, auf den Weltmärkten mitzuspielen und die Megatrends unserer Gesellschaft mitzugestalten. Denn Optik und Photonik sind ein massiver „Enabler“ für die Digitalisierung, für den Fortschritt in der Medizintechnik, für mehr Nachhaltigkeit, bessere Mobilität und effi zientere Produktion. Selbst auf dem Mars können wir dank optischer Systeme heutzutage autonom fahren und Forschung ermöglichen!
Diese Transformationserfahrung in Ostdeutschland wird bis heute, so scheint es mir, nicht so gewürdigt, wie es die vielen Menschen mit ihren Lebensbrüchen verdient hätten. Die Menschen in Ostdeutschland mussten in ihrem Job, in ihrem Alltag und gesellschaftlichen Umfeld hohe Anpassungsfähigkeit und Belastbarkeit – heute würde man vielleicht Resilienz sagen – zeigen.
Eigentlich sollte es egal sein, ob man aus Ost- oder Westdeutschland stammt. Davon bin ich tief überzeugt. Die Umbrüche in meinem Leben waren vermutlich nicht so einschneidend wie bei vielen anderen, die ich sozusagen aus der Ferne beobachtete. Mich haben meine Stationen im Ausland, in international ausgerichteten Unternehmen, anders geprägt. Ich war schon früh erfolgshungrig, weltoffen und nicht risikoscheu. Ohne diesen Antrieb wäre ich heute nicht Vorstandsvorsitzender – aber eben als Rückkehrer. In einem modernen, erfolgreichen, börsennotierten Konzern mit Hauptsitz in Jena. Wir treff en Entscheidungen mit internationaler Tragweite in einer ostdeutschen Stadt. Wie viele andere Konzerne neben Jenoptik können das für sich beanspruchen?
Aus den Erfahrungen lernen
Denke ich an Ostdeutschland, sehe ich wenig Repräsentanz. Führende Positionen in Wirtschaft, Politik und Kultur sind statistisch mit unterproportional wenigen Ostdeutschen besetzt. Warum? Nach der Wende sind viele Ambitionierte wie ich weggegangen, haben anderswo Wurzeln geschlagen und Netzwerke aufgebaut und sind nicht wieder zurückgekehrt. Doch Partizipation ist wichtig. Sie kann der Gefahr der Radikalisierung und der (gefühlten) Ausgeschlossenheit, vor allem in Ostdeutschland, entgegenwirken. Wobei mir wichtig ist zu betonen: Nicht ganz Ostdeutschland ist radikal. Wenn man sich vor Ort umschaut, ergibt sich schnell ein differenziertes Bild. Jena als größere Stadt steht sicher nicht sinnbildlich für Ostdeutschland. Aber ich freue mich immer, wenn Politiker zu Besuch kommen, wenn sie sich in Thüringen selbst ein Bild machen, statt nur auf Berlin oder Paris zu schauen.
Wir müssen uns off en für das interessieren, was Ostdeutschland in den letzten dreißig Jahren geprägt hat. Die Menschen haben eine Diktatur erlebt und erfolgreich überwunden. Mitteldeutschland war ein hoch industrialisiertes Gebiet, heute ist es überwiegend ländlich geprägt – und das änderte sich in einer relativ kurzen Zeit. Es gab vielerorts massive Abwanderung, viel Leerstand, gepaart mit real existierenden Unterschieden wie geringeren Verdiensten bei teils höherer Arbeitszeit. Diese Erfahrungen wären in vielen westdeutschen Regionen in den 1990er-Jahren unvorstellbar gewesen.
Wir als Unternehmen arbeiten stetig daran, diese Bedingungen zu beeinflussen: Wir sind bewusst mit den Tarifpartnern in den Flächentarif zurückgekehrt. Wir wollen attraktive Arbeitsplätze bieten, und dabei sind die Gehälter nur eine von vielen sozialen Komponenten und „Benefits“, mit denen wir als Arbeitgeber eine bessere Mitarbeiterbindung, Work-Life-Balance und Zufriedenheit ermöglichen können.
Wir müssen uns offen für das interessieren, was Ostdeutschland in den letzten dreißig Jahren geprägt hat.”
Innovation braucht Vielfalt
Die Region ist für mich in den letzten Jahren immer mehr zu einem Identitätsstifter geworden. Weg von Ost vs. West, hin zu einem Bewusstsein für regionale Unterschiede, die es auch zwischen Hannover und Stuttgart gibt. Dafür sollten wir offen sein! Meine Sorge ist jedoch, dass sich der gesamtgesellschaftliche Diskurs verschiebt, dass wir gesellschaftliche Entwicklungen sehen, hin zu mehr Intoleranz und radikaleren Botschaften, weniger Bereitschaft zum Zuhören und Verständnis gegenüber anderen Meinungen. Zum Glück leben wir in einer Demokratie mit gewissen Spielregeln. Die Meinungsfreiheit ist dabei ein sehr hohes Gut.
Die Tendenz zum Extremen macht mich nicht nur persönlich betroffen, sie beeinträchtigt auch unser Unternehmen. Es wird schwieriger, Menschen für Thüringen zu gewinnen – die wir aber brauchen. Denn unser wichtigstes Asset im Unternehmen sind unsere Mitarbeitenden. Und ich bin zutiefst davon überzeugt, dass für Innovationen ein offener Austausch zwischen verschiedenen Menschen nötig ist. Mit der Forderung nach mehr Offenheit war ich Ende des Jahres 2023 sicher nicht der einzige, wohl aber einer der ersten Firmenchefs in Deutschland, die sich öffentlich positionierten. Wir haben als Firma nicht nur einen wirtschaftlichen Auftrag, sondern auch einen gesellschaftlichen. Deshalb entschieden wir uns: Es ist Zeit, etwas zu tun – bei einem Thema, das uns alle angeht, nicht nur in Thüringen an unserem Hauptstandort, sondern global.
Aus meinem persönlichen Anliegen wurde eine Unternehmenskampagne, die Mitmenschen dazu ermutigen soll, tolerant zu sein und sich für Diversität einzusetzen. Die Motivation für #BleibOffen ließ sich auch an unseren Unternehmenswerten ablesen: open, driving, confident. Dabei steht open, also Offenheit, nicht umsonst am Anfang dieses Wertekanons. Wir wollen offen sein für neue Ideen, neue Ansätze, aber auch für andere Menschen, egal welcher Herkunft oder Hautfarbe, welchen Glaubens oder Geschlechts. Wir sind offen für alle möglichen Lebensentwürfe und das soll auch so bleiben! Wir lehnen jede Form von Rassismus, Antisemitismus oder Ausgrenzung ab!
Jenoptik beschäftigt global rund 4.600 Menschen, die den Konzern mit ihren Innovationen für die Halbleiterindustrie, Medizintechnik oder Smart Mobility vorantreiben. Allein in Thüringen kommen sie aus rund 30 Nationen. Das geht nur mit dem richtigen gesellschaftlichen Umfeld. Ich bin überzeugt, dass diverse Teams und eine offene Arbeitsatmosphäre die Grundlagen einer erfolgreichen Unternehmenskultur sind.
Natürlich ist der Fachkräftemangel ein Teil der Diskussion, aber das greift zu kurz. Wir brauchen als Firma eine offene Gesellschaft, ein weltoffenes Land, um erfolgreich zu bleiben. Dafür wollen wir einstehen. Ich selbst habe in anderen Ländern gelebt und dort viel Gastfreundschaft erfahren. Das will ich auch in meiner ostdeutschen Heimat erleben und weitergeben.
Als Unternehmen müssen wir aber klar verdeutlichen, welche Rahmenbedingungen wir brauchen: Nur mit Fachkräften aus aller Welt können wir unsere Innovationskraft erhalten, wettbewerbsfähig bleiben und den Wirtschaftsstandort Deutschland stärken. Innovation gedeiht nur im globalen Austausch. Talente kennen keine Grenzen. Unsere Stärke liegt in der Vielfalt.
Mit Zuversicht in die Zukunft
Was wünsche ich mir für die nächsten Jahre? Für Jenoptik hoffe ich, dass wir weiter wirtschaftlich erfolgreich sein können. Wir wollen die Transformation hin zu einem global führenden, reinen Photonik-Konzern fortsetzen. Wir verfügen in unseren Kernmärkten „Halbleiter & Elektronik“, „Life Science & Medizintechnik“ sowie „Smart Mobility“ über starke Wachstumsplattformen. In diese werden wir weiter investieren, unter anderem durch den Ausbau unserer Produktionskapazitäten – auch in Ostdeutschland. In Dresden, mitten im sogenannten Silicon Saxony, investieren wir in eine neue Hightech-Fabrik für die Halbleiterausrüstung, um dem steigenden Bedarf an Hochpräzisions- und Mikrooptiken gerecht zu werden. Ohne solche Mikrooptiken wäre eine moderne Chipherstellung unvorstellbar. Und ohne Jenoptik gäbe es dann auch keine Smartphones, wie wir sie heute kennen.
Die Rahmenbedingungen für diese Entwicklung müssen wir in Deutschland, nicht zuletzt in Ostdeutschland setzen. Hier wünsche ich mir mehr Zuversicht und weniger „Nabelschau“. Wir sollten realitätsnäher bewerten, wie wir eine wirtschaftliche Wachstumslokomotive sein können, welche Stärken wir haben und wie wir damit nach vorn gehen. Dass wir dafür auch mehr Toleranz und mehr Offenheit brauchen, ist für mich selbstverständlich.
Wer Offenheit einschränkt, setzt unseren Erfolg als Unternehmen, als Region und als Gesellschaft aufs Spiel. Deshalb mein Appell: Bleiben Sie offen – für Fortschritt, für andere Perspektiven, für Unterschiede und Vielfalt!
Dr. Stefan Traeger
GEBOREN: 1967/Jena
WOHNORT (aktuell): Jena
MEIN BUCHTIPP: Christa Wolf: „Kassandra“, 1983
MEIN FILMTIPP: „Wir können auch anders“, 1993
MEIN URLAUBSTIPP: Wanderweg „Saale-Horizontale“ rund um Jena
BUCHTIPP:
„Denke ich an Ostdeutschland ...“In der Beziehung von Ost- und Westdeutschland ist auch 35 Jahre nach dem Mauerfall noch ein Knoten. Dieser Sammelband will einen Beitrag dazu leisten, ihn zu lösen. Die 60 Autorinnen und Autoren geben in ihren Beiträgen wichtige Impulse für eine gemeinsame Zukunft. Sie zeigen Chancen auf und skizzieren Perspektiven, scheuen sich aber auch nicht, Herausforderungen zu benennen. Die „Impulsgeberinnen und Impulsgeber für Ostdeutschland“ erzählen Geschichten und schildern Sachverhalte, die aufklären, Mut machen sowie ein positives, konstruktiv nach vorn schauendes Narrativ für Ostdeutschland bilden. „Denke ich an Ostdeutschland ... Impulse für eine gemeinsame Zukunft“, Frank und Robert Nehring (Hgg.), PRIMA VIER Nehring Verlag, Berlin 2024, 224 S., DIN A4. Als Hardcover und E-Book hier erhältlich. |