Fränzi Kühne, Co-Gründerin TLGG, Speakerin, Bestsellerautorin und Tandem-CDO der edding AG, ist eine wichtige Impulsgeberin für Ostdeutschland. Sie setzt sich ein für Vergewisserung, Verständigung und Versöhnung. Mit diesem Beitrag ist sie auch in dem Sammelband „Denke ich an Ostdeutschland ...“ vertreten.

Fränzi Kühne, Co-Gründerin TLGG, Speakerin, Bestsellerautorin, Tandem-CDO, edding AG. Abbildung: Meike Kenn Fotografie
Wir brauchen Veränderung! Da wo entschieden wird, in unseren Köpfen und an den ganz langen Hebeln. Denn wir stecken mitten in der Krise – Klimakrise, Post-Covid-Krise, Wirtschaftskrise – und sind nicht krisenfest. Das liegt vor allem daran, dass Veränderungen vielen Menschen immer noch Angst machen. Denn sie sind unbequem, unsicher und ohne Garantien. Trotzdem kommen wir nicht um sie herum. Und genau deshalb müssen wir dringend unsere Türen für Menschen öffnen, die die seltene Fähigkeit besitzen, in und durch Krisen mutig voranzugehen: Ostdeutsche.
Wir müssen dringend unsere Türen für Menschen öffnen, die die seltene Fähigkeit besitzen, in und durch Krisen mutig voranzugehen: Ostdeutsche.”
Ostdeutsche Transformationskompetenz
Das klingt erst mal komisch. Schließlich haben Ostdeutsche hierzulande nicht den allerbesten Ruf. Sie sprechen angeblich kein gutes Englisch, haben einen merkwürdigen Akzent und werden oft als rückschrittlich wahrgenommen. Doch ich behaupte das Gegenteil. Denn viele von ihnen besitzen einen Skill, der heute überall händeringend gebraucht wird: Transformationskompetenz.
Was hier so umständlich klingt, ist im echten Leben überaus praktisch. Denn die Transformationskompetenz beschreibt im Grunde nichts anderes als das Talent, mit offenen Armen auf Veränderungen zuzugehen, um sie aktiv zu gestalten. Menschen mit dieser Fähigkeit sehen in Krisen vor allem Chancen, aus denen man neue Möglichkeiten schöpfen kann. Statt Ungewissheit sehen sie Optionen. Statt einzufrieren, packen sie mit an. Und das ist bis heute leider sehr selten.
Denn auch die Veränderung hat hier keinen guten Ruf. Zum Beispiel in der Wirtschaft. Hier sitzen Unternehmen, die sich in die Zeit zurückwünschen, in der man – einmal etabliert – mit denselben drei Handgriffen für immer großes Geld verdienen konnte. Doch das ist vorbei. Die Welt ist komplexer geworden. Heute müssen wir uns den sich ständig wandelnden Herausforderungen stellen und Probleme, die schon lange warten, endlich anpacken. Denn vieles, was heute brennt, hätten wir schon lange in Angriff nehmen können. Wäre da nicht das schlechte Verhältnis zur Veränderung. Heute haben wir dafür keine Wahl mehr. Wer nicht transformationsfähig ist, wird abgehängt. Durch die Herausforderungen, die künstliche Intelligenz, von den Wettbewerbern und vor allem den jungen Talenten – unserer Zukunft. Und das ist nicht alles. Denn auch das Klima meldet sich, Randgruppen, Flüchtende, Kriege – die ganze Komplexität unserer Welt will gesehen und gehört werden. Zu Recht! Und wir brauchen Leute, die endlich hinschauen.
Aus eigener Erfahrung weiß ich: Das ist ein verdammt anstrengender Job. Denn während man versucht, neue Wege zu gehen, wird man immer wieder von denen aufgehalten, die sich wünschen, dass alles so bleibt, wie es war. Doch wir brauchen vorausdenkende Menschen. Ostdeutsche sind dafür eine Spitzenbesetzung, da ihnen die Veränderung quasi in die Wiege gelegt wurde. Sie haben – ob als Wendekinder oder Elterngeneration – Systembrüche erlebt und sind in einer Zeit aufgewachsen, in der plötzlich nichts mehr sicher war. Was macht das mit einem? Im allerbesten Fall etwas Gutes. Man sammelt die wichtige Erfahrung, dass man der schwierigen Situation gewachsen war und am Ende vor allem eines ganz sicher weiß: Ich komme klar. Und das ist der wichtige Moment. Denn einmal reflektiert, wird dieses Wissen zur Transformationskompetenz. Sie befähigt einen dazu, beim nächsten Mal besser Bescheid zu wissen, mit ähnlichen Situationen noch souveräner umzugehen und vor allem, auf dieses Gefühl zurückgreifen zu können: Dass man das hier meistern wird. Dass man mit der Veränderung gemeinsam wachsen kann. Und zack, plötzlich möchte man diese Zukunft auch aktiv gestalten. Das nennt man dann Selbstwirksamkeit und diese ist einer der stärksten und nachhaltigsten Antriebe des Menschen. Das ist ganz besonders. Und besonders wichtig. Denn was hier so logisch klingt, ist vielen gar nicht klar: Ostdeutsche haben durch ihren besonderen Werdegang diese seltene Fähigkeit in ihrem Skillset. Und genau sie ist es, die wir jetzt überall brauchen – in unseren Chefetagen, an den Hebeln und unserer Seite.
Wieso? Weil die Welt im Wandel ist und sich das so bald auch nicht ändern wird. Wir leben zwischen überlappenden Krisen und haben heute ganz andere Herausforderungen zu bewältigen als noch vor zehn oder 20 Jahren. Damit wird Veränderungsfähigkeit von Führungskräften zum Muss. Denn ohne geht es nicht. Wir müssen uns ökonomisch endlich anders aufstellen, damit uns die Welt nicht untergeht. Gleichzeitig braucht es überall neue Lösungen, die unserer Zeit, unseren Ressourcen und unseren Möglichkeiten gerecht werden. Für eine bessere Zukunft und um ökonomisch wie auch ökologisch nachhaltig zu wirtschaften. Und dann wäre da noch der innere Umbruch. Unternehmensstrukturen sind eingestaubt, Führungsstile und alte Hierarchiesysteme lange nicht mehr zeitgemäß – niemand möchte mehr so arbeiten. Unternehmen, die das nicht ernst nehmen, sehen das in ihrem Jahresbericht genauso wie im Recruitment. Denn die Talente von morgen werden dort hingehen, wo Wandel spürbarer Teil des Geschäftsmodells ist. Um sie zu erreichen, muss innere Arbeit geleistet und gewachsene Struktur aufgebrochen werden. Und dafür braucht man ein ganz schön dickes Fell. Denn ja: Das ist vielen viel zu ungemütlich. Man hat also ständig Gegenwind und versucht gleichzeitig, möglichst viele in die Veränderung mitzunehmen. Das ist am Ende auch unsere soziale Verantwortung. Mitarbeiterzufriedenheit, Diversität, neue Arbeitsmodelle, Vier-Tage-Woche, Baby-Leave für Väter – es gibt unglaublich viel zu tun. Und für all diese großen und kleinen Herausforderungen braucht es Menschen, die sich den damit verbundenen Umbrüchen und Veränderungen annehmen wollen, die Mut mitbringen und hier vor allem eine Chance für unsere Zukunft sehen.
Aufbruch in eine neue Zeit
Vieles davon erinnert mich an meine Kindheit. Als Wendekind war Veränderung fester Teil meines Lebens. Doch im positivsten Sinne. Denn mit dem Mauerfall ist für meine Eltern nicht nur etwas zu Ende gegangen, sondern hat sich auch eine neue Welt eröffnet. Ein absoluter Umbruch. Was macht man da jetzt draus? Meine Eltern haben es als Chance gesehen, die neue Freiheit umarmt und all das getan, was in der DDR nicht möglich war: Sie haben sich selbstständig gemacht, sind viel gereist und haben das Neue als Bereicherung erlebt. Sie sind mit der Veränderung gegangen und haben mir damit gezeigt, wie schön Wandel sein kann. Das ist mir bis heute geblieben. Die Veränderung als stetige Begleiterin und das Mindset, dass darin auch immer eine Chance steckt, die man mitgestalten kann. Für mich ist das völlig normal. Doch natürlich stoße ich immer wieder auf Menschen, die ganz anders ticken. Die Veränderungen als große Bedrohung wahrnehmen, an allem festhalten wollen und immer Angst haben, ihnen nehme jemand etwas weg. Es käme nichts Besseres mehr. Viele Ostdeutsche gehen mit solchen Situationen anders um. Denn wer schon durch Systembrüche gegangen ist, hat gelernt, dass Transformation Teil des Lebens ist. Und dass das Mitgestalten der Zukunft die große Chance ist, die man verpasst, wenn man nicht mitkommt.
Genau diese Fähigkeit, diesen Spirit und Mut braucht es heute in deutschen Führungsetagen. Die Fähigkeit, zu wissen, wie es weiter gehen kann. Den Mut, Strukturen aufzubrechen. Vor allem, wenn man die Macht hat, das zu tun. Doch dafür muss man eben auch am langen Hebel oder richtigen Tisch sitzen. Und hier sieht der Status quo für Ostdeutsche leider gar nicht rosig aus. Ihr Anteil in unseren Führungsetagen liegt bei nur 12,2 Prozent. Rechnet man Berlin heraus, bleiben lediglich 7,4 Prozent übrig. Das heißt ganz konkret: Gerade mal zwei von hunderten Vorständen der Dax-Unternehmen sind aus dem Osten. Und im ganzen Bundesverfassungsgericht sitzt nur eine einzige ostdeutsche Richterin. Eigentlich unglaublich. Doch Ostdeutsche werden bis heute stigmatisiert und die Türen der Chefetagen bleiben ihnen oft verschlossen. Dabei liegt hier vor allem viel unausgeschöpftes Potenzial.

Projektarbeit aus der ersten Klasse: Mauerstücke. Kam nicht gut an. Abbildung: Fränzi Kühne
Die Tür weit auf machen
Das haben natürlich nicht nur Ostdeutsche. Es gibt auch andere Gruppen, deren Lebenslauf zu Transformationskompetenz geführt hat. Zum Beispiel Menschen mit Migrationsbiografie oder Bildungsaufsteiger. Auch sie haben Veränderungen bewältigt, mussten lernen, immer wieder in Räumen zu bestehen, die nicht für sie vorgesehen waren. Und dieser Skill ist absolut Gold wert. Daher liegt es an uns, umzudenken, ihr Potenzial anzuerkennen und endlich alle Türen und Fenster aufzumachen. Und damit das in Zukunft besser klappt, hier ein paar sehr gute Tipps für den Anfang:
- Macht nutzen. Wer schon Macht hat, sollte sie dringend nutzen und bewusst in Vielfalt investieren: diverse Kandidatinnen und Kandidaten anschauen, sich fragen, wieso man niemanden mit zum Beispiel ostdeutschem Hintergrund für die Position findet, und den Stellenwert von Diversität für das Team erkennen.
- Vorurteile bewusst machen. Wir haben sie alle – zum Beispiel genderbezogen, über Ostdeutsche, über Menschen mit Migrationsbiografie und in vielen anderen Bereichen. Sich den eigenen Vorurteilen bewusst werden, ein Unconscious-Bias-Training zu machen – auch als Pflicht für Mitarbeitende – ist der erste Schritt für mehr Vielfalt.
- Potenzial erkennen. Und aufhören, nach Lebenslauf zu rekrutieren. Viele wichtige Skills sind hier gar nicht abzulesen. Transformationskompetenz ist nur eine davon. Deshalb sind neue Recruitmentverfahren eine der wichtigsten Grundlagen für innere Transformation.
- Nachfragen. Frag nach, warum sich bestimmte Gruppen nicht in deinem Unternehmen finden. Vernetze dich, schau, wo zum Beispiel Ostdeutsche bzw. Menschen mit diverseren Hintergründen arbeiten. Was brauchen sie und was fehlt bei euch? Wie könnt ihr es ihnen einfacher machen?
All das ist wichtig. Denn Diversität ist nichts, was zufällig passiert. Gleiches gilt für eine bessere Zukunft. Trotzdem brauchen wir beides dringend. Also lasst uns gemeinsam anpacken, das dicke Fell behalten und unbedingt unbequem bleiben. Dabei empfehle ich von Herzen, einmal die Tür weit aufzumachen und den Osten, aber auch alle anderen Randgruppen endlich hereinzubitten. Es wird sich für alle lohnen. Großes Fränzi-Ehrenwort.
Fränzi Kühne
GEBOREN: 1983/Ostberlin
WOHNORT (aktuell): Ostberlin
MEIN BUCHTIPP: Jeannette Gusko: „Aufbrechen“, 2023
MEIN FILMTIPP: „Berlin – Schicksalsjahre einer Stadt“, 2018
MEINE URLAUBSTIPPS: Marzahn, Darss, Leipzig
![]() „Denke ich an Ostdeutschland ...“In der Beziehung von Ost- und Westdeutschland ist auch 35 Jahre nach dem Mauerfall noch ein Knoten. Dieser Sammelband will einen Beitrag dazu leisten, ihn zu lösen. Die 60 Autorinnen und Autoren geben in ihren Beiträgen wichtige Impulse für eine gemeinsame Zukunft. Sie zeigen Chancen auf und skizzieren Perspektiven, scheuen sich aber auch nicht, Herausforderungen zu benennen. Die „Impulsgeberinnen und Impulsgeber für Ostdeutschland“ erzählen Geschichten und schildern Sachverhalte, die aufklären, Mut machen sowie ein positives, konstruktiv nach vorn schauendes Narrativ für Ostdeutschland bilden. „Denke ich an Ostdeutschland ... Impulse für eine gemeinsame Zukunft“, Frank und Robert Nehring (Hgg.), PRIMA VIER Nehring Verlag, Berlin 2024, 224 S., DIN A4. Als Hardcover und E-Book hier erhältlich. |