Franziska Giffey, Bürgermeisterin von Berlin und Senatorin für Wirtschaft, Energie und Betriebe, ist eine wichtige Impulsgeberin für Ostdeutschland. Sie setzt sich ein für Vergewisserung, Verständigung und Versöhnung. Mit diesem Beitrag ist sie auch in dem Sammelband „Denke ich an Ostdeutschland ...“ vertreten.
Zugpferd der deutschen Wirtschaft, Lieblingsziel für Investitionen, aufstrebende Innovationsschmiede – das ist keine träumerische Vision. Das ist Ostdeutschland heute, 35 Jahre nachdem mutige Menschen die Mauer zum Einsturz gebracht und die Freiheit friedlich erkämpft haben. Aber das soll kein Bejubeln von Jubiläen sein und auch keine blinde Lobhudelei. Vielmehr ein Plädoyer für einen selbstbewussten Blick darauf, was wir bisher erreicht haben und was in Zukunft im und für den Osten unseres Landes möglich ist. Unbenommen aller Herausforderungen und bestehender Probleme, von denen es noch genug zu lösen gibt, sprechen die Fakten für sich: Wir sind kein Schlusslicht, sondern die Zukunft. Von der Ostsee bis zum Fichtelgebirge: ein Boomland, kein Buhland. Im Osten geht die Sonne auf, das müssen wir lernen, öfter und deutlicher zu sagen. Erstens, weil es stimmt. Und zweitens, weil wir sonst die Deutungshoheit denen überlassen, die unser Land in eine dunkle Vergangenheit zurückwerfen wollen.
Schauen wir uns also die Fakten an. Die drei besten wirtschaftlichen Performer bundesweit 2023: Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Berlin. In einem von Krisen geprägten Jahr wohlbemerkt, das Deutschland in die Rezession zwang. Schon seit Jahren weisen Berlin und Brandenburg ein überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum auf. Diese Entwicklung ist das Zeugnis neuer Stärke, die nicht plötzlich vom Himmel fiel. Auch insgesamt konnte Ostdeutschland in den vergangenen zehn Jahren im Schnitt eine bessere wirtschaftliche Entwicklung erzielen als der Westen. Die Investitionswellen und die in diesem Zeitraum über 800.000 in Ostdeutschland neu entstandenen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze spiegeln das wider. Wir wachsen zum Land der Hightech-Unternehmen, E-Autobauer, Chiphersteller und Batterieproduzenten.
Die Argumente sprechen für den Osten
Es ist kein Zufall, dass sich globale Player wie Intel, Tesla, CATL oder BASF mit ihren Megafabriken für den Osten entscheiden. Sie folgen dabei einer strategischen Logik: Wo gibt es die richtigen Parameter für die Zukunft, wo stimmt der Mix aus Innovationsumfeld, Fachkräften und Infrastruktur? Die Argumente sprechen für den Osten. Mit ihren Entscheidungen rücken diese prominenten Beispiele unsere gesamte Region ins internationale Scheinwerferlicht. Nicht weniger entscheidend ist eine ganze Schar von Unternehmen aus dem In- und Ausland, deren Namen vielleicht weniger Schlagzeilen machen, deren Ansiedlungen aber genauso für Aufschwung und Arbeitsplätze sorgen. Allein Berlin konnte in den vergangenen zehn Jahren 943 Unternehmen aus der ganzen Welt gewinnen, während die Zahl der in der Hauptstadt gegründeten Start-ups auf mehr als 5.000 Jungunternehmen mit über 100.000 Beschäftigten angewachsen ist.
Im internationalen Wettbewerb hat der Osten heute öfter die Nase vorn. Neben Forschungszentren, Hochschulen und Talenten gibt es hier noch einen weiteren gewichtigen Vorteil. Wir werden immer mehr zur Region der sauberen Energie, die für die Transformation der Wirtschaft eine Schlüsselrolle spielt. Ob Windkraft, Solar oder grüner Wasserstoff – in den Ostländern wurde früher als an manchen anderen Standorten verstanden, dass darin eine Chance besteht und unsere erneuerbaren Ressourcen ein unschlagbarer Standortfaktor sind. Das gilt natürlich insbesondere jetzt. Wir befinden uns mitten in einer neuen industriellen Revolution, die die Wirtschaft in eine nachhaltige und klimaneutrale Zukunft führen soll. Für diese Transformation brauchen wir viel Kraft. Der saubere und sichere Kraftstoff , der dafür nötig ist, ist „Made in Ostdeutschland“.
Wir können Transformation
Wir stehen vor der gewaltigen Aufgabe, unsere Gesellschaft und unser Wirtschaftssystem so zu gestalten, dass wir die Grundlage unseres Lebens nicht zerstören und die Folgen des Klimawandels bewältigen können. Was diese ganz konkret bedeuten, spüren wir im Osten heute schon überdeutlich. Sinkende Wasserpegel in unseren Seen und Flüssen und dann wieder reißende Fluten, vertrocknete Getreidefelder auf dem Land und unerträglich tropische Nächte in den Städten sind die Folgen der Klimakrise. Die müssen wir so gut es geht eindämmen. Wir müssen gegensteuern, was mit vielen weiteren Investitionen und viel Veränderung verbunden sein wird. Aber der Osten kann Transformation, das haben wir in den zurückliegenden 35 Jahren bereits bewiesen.
Die „neuen Bundesländer“, wie viele im Westen nach wie vor sagen, sind schon lange nicht mehr neu. Sie haben eine Geschichte vor November 1989 und eine danach. Dieses Jahr war ein Schicksalsjahr. Der Fall der Mauer und die darauffolgende deutsche Einheit waren der größte Glücksfall des 20. Jahrhunderts. Aber die friedliche Revolution war kein Geschenk, genauso wenig wie die über drei Jahrzehnte des Wandels. Die Freiheit und die heutigen Erfolge hat sich Ostdeutschland, haben sich die Menschen hart erarbeitet. Dabei mussten viele von vorn anfangen, Brüche überwinden oder damit klarkommen, als Deutsche zweiter Klasse betrachtet zu werden. Das erfordert ein besonderes Durchhaltevermögen und Tatkraft.
Und jetzt kommt es eben wieder auf genau dieses Können, auf die Fähigkeit zur Veränderung an. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Menschen, die heute in Ostdeutschland leben, die notwendige Transformation nicht nur gut, sondern sogar schneller und besser meistern können als manch andere Region in Deutschland und Europa. Wichtig ist, dass wir uns das selbst klar machen. We can do it. Wer, wenn nicht wir?
Wir sind kein Schlusslicht, sondern die Zukunft. Von der Ostsee bis zum Fichtelgebirge: ein Boomland, kein Buhland.”
Unsere Erfolgsstory erzählen wir selbst
Ein neues Selbstbewusstsein tut uns gut – kein Verklären oder Schönreden, keine Überheblichkeit oder Abgrenzung. Aber ich wünsche mir eine gesunde Portion Stolz auf das Erreichte und einen guten Blick für das Mögliche. Wir brauchen die Zuversicht, dass wir das Zeug und die notwendigen Voraussetzungen dafür haben, nicht nur die bestehenden Herausforderungen zu lösen, sondern eine der erfolgreichsten Regionen in Europa zu werden. Das bringt uns eher ans Ziel als die mantraartig vorgetragenen Appelle und Forderungen nach mehr Anerkennung für die Leistung der Menschen im Osten. Natürlich ist das mehr als angebracht. Aber wenn andere Menschen das wirklich verinnerlichen sollen, müssen wir es zuerst in unseren Köpfen verinnerlicht haben.
Der Osten als Problem, an der Grenze zwischen Sorgenkind und Schmuddelecke. Es ist ein schiefes Image, das wir im Übrigen auch mit unseren Nachbarn in Mittel- und Osteuropa teilen. In der Vergangenheit hat dieses Bild so viel Raum genommen, dass es nur mühsam gelingt, es Stück für Stück abzutragen und durch eine neue Erzählung zu ersetzen: Der Osten als Ort, an dem Zukunft gemacht wird. Unsere Erfolgsstory müssen wir schon selbst erzählen und mit dem „Wir“ meine ich insbesondere diejenigen, die selbst aus dem Osten kommen und deren Stimme gehört wird.
Auf unsere Stimmen kommt es an
Ich kann mich gut erinnern, als ich einmal als kleines Mädchen vor dem Brandenburger Tor stand. Ich fragte meinen Vater, warum wir nicht auf die andere Seite gehen können. Es war mir nicht begreiflich, dass das nicht möglich sein soll. Wenige Jahre später bewiesen die Menschen, die die Mauer zum Einstürzen brachten, dass nichts unmöglich ist. Ich wuchs im brandenburgischen Briesen (Mark) auf, Polen ein paar Kilometer entfernt, aber Westdeutschland eine ganze Welt weit weg. Die Wiedervereinigung machte aus meiner Polytechnischen Oberschule in Fürstenwalde ein Gymnasium – der Name „Werner Seelenbinder“ blieb, aber um uns herum veränderte sich alles, was ich kannte, rasant.
Wann sage ich, dass ich eine Ostfrau bin? Warum sollte ich das überhaupt betonen? Der frühere Osten war und der heutige Osten ist meine Heimat. Von kürzeren beruflichen Aufenthalten in Brüssel oder London abgesehen, fand mein Leben, mein Bildungs- und mein Berufsweg überwiegend im Osten Deutschlands statt. Ich habe meine Ostbiografie allerdings selbst nie besonders in den Vordergrund gestellt.
Es kommt aber leider immer noch darauf an, aufzuzeigen, wo Ostfrauen und Ostmänner in Verantwortung sind. Nicht zuletzt auch deshalb, weil das bald 35 Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch Seltenheitscharakter hat, wenn man sich Vorstandsetagen von Unternehmen, Hochschulpräsidien oder höchste politische Ämter anschaut. Wir sind noch lange nicht so repräsentiert, wie wir es sein müssten. Das wird zurecht als Armutszeugnis in einem lange wiedervereinten Deutschland gesehen.
Das ist nicht das Einzige, was sich weiter ändern muss. Die Menschen in Ostdeutschland arbeiten immer noch länger für ihren Lohn, der – genauso wie die durchschnittlichen Haushaltseinkommen – weiterhin niedriger ausfällt als im Westen des Landes. Auch die Arbeitslosigkeit, wenngleich in den vergangenen 20 Jahren von 18,4 auf zuletzt 7,6 Prozent abgebaut, wiegt in manchen Landstrichen immer noch schwer. Das nutzen rechte Kräfte gezielt und bieten den Menschen Populismus als vermeintliche Antwort auf ihre Zukunftsängste an.
Es liegt an uns Demokratinnen und Demokraten, immer wieder deutlich zu machen, dass rechte Rezepte die größte Gefahr für die Zukunft des Ostens sind. Sie sind Gift für Investitionen, Fachkräfte und Wohlstand. Sie gefährden das, was mühsam erarbeitet wurde: unseren Rechtsstaat, unseren Sozialstaat, die wirtschaftliche Entwicklung und die Arbeitsplätze.
Einen starken Osten gibt es nur als Paket. Das neue Selbstbewusstsein sollten wir mit einer neuen Phase der Zusammenarbeit verbinden. Wir können noch mehr erreichen, wenn wir als Bundesländer im Osten immer wieder an einem Strang ziehen und uns als gemeinsamen Wirtschaftsraum begreifen. Dabei können wir auch eine Brücke nach Osteuropa sein, wo unsere Nachbarn ebenfalls eine ziemlich starke Entwicklung aufweisen. Denn der Osten wird groß. Das haben noch nicht alle begriffen und es liegt eben an uns selbst, dafür zu sorgen, dass sich das ändert.
Franziska Giffey
GEBOREN: 1978/Frankfurt (Oder)
WOHNORT (aktuell): Berlin
MEIN BUCHTIPP: Jana Hensel: „Zonenkinder“, 2002
MEIN SERIENTIPP: „Der Palast“, 2021
MEIN URLAUBSTIPP: Ostseebad Binz
BUCHTIPP:
„Denke ich an Ostdeutschland ...“In der Beziehung von Ost- und Westdeutschland ist auch 35 Jahre nach dem Mauerfall noch ein Knoten. Dieser Sammelband will einen Beitrag dazu leisten, ihn zu lösen. Die 60 Autorinnen und Autoren geben in ihren Beiträgen wichtige Impulse für eine gemeinsame Zukunft. Sie zeigen Chancen auf und skizzieren Perspektiven, scheuen sich aber auch nicht, Herausforderungen zu benennen. Die „Impulsgeberinnen und Impulsgeber für Ostdeutschland“ erzählen Geschichten und schildern Sachverhalte, die aufklären, Mut machen sowie ein positives, konstruktiv nach vorn schauendes Narrativ für Ostdeutschland bilden. „Denke ich an Ostdeutschland ... Impulse für eine gemeinsame Zukunft“, Frank und Robert Nehring (Hgg.), PRIMA VIER Nehring Verlag, Berlin 2024, 224 S., DIN A4. Als Hardcover und E-Book hier erhältlich. |