Katrin Göring-Eckardt, die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, ist eine wichtige Impulsgeberin für Ostdeutschland. Sie setzt sich ein für Vergewisserung, Verständigung und Versöhnung. Mit diesem Beitrag ist sie auch in dem Sammelband „Denke ich an Ostdeutschland ...“ vertreten.
Jeden Montag stehen sie jetzt da und demonstrieren. Sie wollen Haltung zeigen, wollen zeigen, dass es auch anders geht, anders gehen muss. Es sind nicht viele, die sich da an der Salvatorkirche in Gera treffen. Aber dass sie jeden Montag dort stehen, ist ein Lebenszeichen: Die Demokratie ist lebendig, hat Puls.
An der Salvatorkirche sind jeden Montag die zu finden, die zeigen wollen, dass Gera anders ist als das Bild, das viel zu lange von der Stadt im Osten Thüringens nach außen drang. Geraer Vereine und Initiativen haben sich zusammengetan und wollen Gutes über die Stadt erzählen. Sich selbst, aber auch allen anderen. Wollen die andauernde Schwarzmalerei und Negativität der örtlichen Rechtsextremen mit Positivem kontern.
Wenn man von Demonstrationen an Montagabenden in Gera erzählt, darf man die seit Jahren andauernden „Montagsdemonstrationen“ in der Stadt natürlich nicht leugnen. Dort tummelten sich erst Gegner der Willkommenskultur, dann Gegner der Coronamaßnahmen, dann Gegner der Regierungspolitik im Allgemeinen, mittlerweile alle miteinander. Immer mit dabei: die rechtsextreme Szene.
Nun gibt es aber diese zweite Montagsdemonstration. Eine, die dem Namen wirklich gerecht wird, wenn man eine Analogie zu den Demonstrationen 1989 in der DDR bilden will. Denn die Menschen, die sich unter dem Motto „Herz statt Hetze“ in Gera treffen, treten für unsere Demokratie und für Freiheit ein. Nicht nur für die eigene Freiheit, sondern auch für die Freiheit derer, die von menschenverachtender, rechtsextremer Politik in Deutschland besonders betroffen wären.
Ein Ruck geht durchs Land
Gera ist ein Beispiel. Ähnliches findet auch in Zittau oder in Bautzen statt. Entlang der Bundesstraße B96 ganz in der Nähe von Bautzen erhebt sich Widerstand gegen rechte Hegemonie. Überall im Land, im Osten wie im Westen, war Anfang 2024 ein Ruck spürbar. Im ganzen Land gingen die Menschen auf die Straßen, in vielen kleinen und auch großen Städten und Orten, um für unsere Demokratie und gegen Rechtsextremismus einzustehen.
Das macht Hoffnung. Und: Es hat etwas in Gang gebracht. In vielen Orten sind Menschen zum ersten Mal in ihrem Leben auf die Straßen gegangen. Es haben sich neue Netzwerke gebildet. Die demokratische Mitte hat gezeigt, was ihr die Demokratie wert ist, und zwar ausgerechnet dort, wo auf Demonstrationen sonst Populismus, Dagegensein und Sorgen um Spaltung vorherrschten.
Die Demonstrationen waren nicht zu übersehen und zu überhören. Trotzdem darf nicht vergessen werden: Schon lange vorher haben sich Menschen gerade in Ostdeutschland für unsere Demokratie eingesetzt. Mit Ideen, Tatendrang, oft Humor, aber auch mit bewundernswertem Mut angesichts der Gefahr, damit ins Visier rechter Akteure zu geraten. Sie haben unsere Gesellschaft mit ihren Projekten und Initiativen belebt. Sie machen das, weil sie patriotisch sind, weil sie ihr Land lieben, den Flecken Erde, auf dem sie leben oder groß geworden sind.
Doch längst nicht mehr jeder Flecken Erde im Osten gehört noch dem Osten. Zwei Drittel der Grundstücke in guter Lage in ostdeutschen Großstädten gehören westdeutschen Eigentümern, berichtete der MDR in seiner Reihe „Wem gehört der Osten?“ Immer mehr landwirtschaftliche Betriebe und Flächen gehören nicht mehr lokalen Eigentümern, sondern großteils Investorengruppen von außerhalb. Ein Teil der Entfremdung von unserer Demokratie könnte auch damit zu tun haben, dass weder Land noch Raum mehrheitlich Ostdeutschen gehört.
In den ländlichen Regionen Ostdeutschlands sieht man vielerorts noch große Hallen. Überbleibsel der verstaatlichten landwirtschaftlichen Großbetriebe. Oft werden sie weiter von landwirtschaftlichen Betrieben genutzt. Nicht so in Glauchau. In der kleinen Stadt an der Grenze von Thüringen und Sachsen werden die alten Hallen der ehemaligen LPG mit neuem Leben gefüllt. Nach dem Umbau entsteht hier ein Kulturhaus. Mit Veranstaltungsraum, Tonstudios und Kreativwerkstatt. Platz, um Miteinander zu gestalten. Und nicht nur nebenbei stärkt das auch die Demokratie: Das Klackx soll ein Treffpunkt für alle werden, an dem auch kontrovers diskutiert werden darf, über alle Unterschiede hinweg. In einer Gegend, wo es solche Orte längst nicht mehr so oft gibt.
Es braucht einen geweiteten Blick. Einen, der wahrnimmt, dass es in Ostdeutschland so viel mehr gibt, als es das Einmaleins der Klischees sehen will.”
Viel Raum, viele Ideen, viel Engagement
Überhaupt findet man in Ostdeutschland viel Raum, den es wieder zu beleben gilt. Seit 1990 ist landauf landab sichtbar viel passiert. Doch hinter sanierten Fassaden herrscht noch viel zu oft Leerstand. Die LeerGut Agenten in Thüringen wollen das ändern. Sie entwickeln neue Ideen für leerstehende Gebäude, prüfen die Bausubstanz und Machbarkeit und gehen in den Austausch mit den Menschen vor Ort. Ganz nebenbei wird mit der Nutzung von bestehender Bausubstanz auch noch die ein oder andere Emission eingespart. Doch dieser Kampf gegen den Leerstand ist zugleich ein Kampf für die Demokratie. Denn dort, wo Kliniken und Schulen geschlossen werden oder Läden leer stehen, fühlen sich die Menschen abgehängt. Wo ein demokratisches Gemeinwesen sich von den Menschen zurückzieht, ist es kein Wunder, wenn sich auch die Menschen von ihm zurückziehen, ihm zuerst ihr Vertrauen und dann auch ihre Mitwirkung entziehen.
Jeder kreativ genutzte Raum verhindert aber zugleich das, was als rechte Landnahme bekannt ist. Wenn Rechtsextreme gezielt nach leeren Gebäuden in ostdeutschen Orten suchen, um sich dort niederzulassen. Um unter sich sein zu können und ungestört ihr rechtsextremes Netz weiterzuspinnen. Zum Beispiel in Jamel in Mecklenburg-Vorpommern. Seit den frühen 1990er-Jahren ist der kleine Ort immer wieder wegen seiner rechtsextremen Bewohner in den Schlagzeilen. Doch auch dort gibt es Menschen, die dagegenhalten: Mit ihrem jährlich stattfindenden Demokratie-Festival bilden Birgit und Horst Lohmeyer einen deutschlandweit wahrnehmbaren Gegenpol.
Es ist ein Gegenpol der guten Laune. Und den braucht es – nicht nur in Jamel. Im September 2023 wurde in Nordhausen ein neuer Oberbürgermeister gewählt. Unter dem Label „Nordhausen zusammen“ versammelten sich Bürgerinnen und Bürger, Verbände und Unternehmen. Sie wollten auch weiter eine offene, eine tolerante Stadt sein – mit Erfolg: In der Stichwahl siegte der demokratische Kandidat. Bei allen Aktionen, Kundgebungen und Versammlungen war eines immer gleich: Es herrschte gute Laune, die Menschen waren fröhlich. Ich bin überzeugt, das war der Schlüssel für diesen Erfolg.
Ob in meiner Heimat in Thüringen, in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt oder Sachsen, überall merkt man: Das Engagement, die Organisationen, Verbände und Vereine, die Menschen, die sich für unsere Demokratie und unser Land einsetzen – sie sind längst da.da.
Der andere Osten
Ich bin als Politikerin aus Thüringen, aber auch als Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages viel in den ostdeutschen Bundesländern unterwegs. Dabei treffe ich diese Menschen oft, besuche ihre Projekte und Initiativen. Manche engagieren sich schon seit vielen Jahren, andere erst seit Kurzem, für wieder andere waren vielleicht auch erst die Demonstrationen Anfang 2024 der Auslöser. Sie alle eint, dass sie von sich aus gesagt haben: Ich mache etwas für unsere Gesellschaft, für unsere Demokratie, für unser Land. Ich sage es bei jedem Besuch, bei jeder Begegnung und will es auch hier aufschreiben: Dafür von Herzen danke!
2018 sorgte in den sozialen Medien der Hashtag #DerAndereOsten für Aufmerksamkeit. Die Aktion sollte zeigen: Man kann und darf die ostdeutschen Bundesländer nicht nur durch die Klischeebrille sehen. Als den Teil Deutschlands, in dem nur Rechtsextreme und Rassisten leben. Der Hashtag sollte aufräumen mit Vorurteilen. Auch die Initiative „Wir sind der Osten“ erzählt die Geschichten von Menschen, die in Ostdeutschland etwas bewegen. In ihr melden sich Menschen zu Wort, die dortgeblieben, wiedergekommen oder neu dazugekommen sind. Sie stehen für vielfältige Perspektiven und Blickwinkel. Denn es gibt ihn nicht, „den“ Osten.
Und doch gibt es das Ostdeutsch-Sein, gibt es die ostdeutsche Geschichte. Beides ist seit 1990 Teil des wiedervereinten Deutschlands, sollte man denken. Es ist wirklich an der Zeit, dass auch das ganze Land sich damit auseinandersetzt. In Chemnitz hat sich deswegen eine Gruppe junger Menschen aufgemacht und eine Dokumentarfilm-Reihe gedreht. In „(k)Einheit“ erzählen sie davon, was die deutsche Einheit für sie bedeutet und wo sie für sie noch nicht abgeschlossen ist. Mit dem Projekt tragen sie ostdeutsche Perspektiven der Generation Z ins gesamte Land und dazu bei, dass der Prozess der deutschen Einheit nach 35 Jahren weiter geht und im Hier und Heute thematisiert wird.
Ein Land, viele Perspektiven
So viele Menschen in den ostdeutschen Bundesländern setzen sich tagtäglich in Job und Ehrenamt für unser Land ein und engagieren sich für unsere Demokratie. Dabei kämpfen sie viel zu oft allein, sind nicht selten rechten Bedrohungen und rechter Gewalt ausgesetzt. Damit wir als Gesellschaft und Land nicht weiter auseinanderdriften, sondern vielmehr endlich zusammenfinden, sollten wir uns an ihre Seite stellen und sie stärken.
Bei allem, was es noch besser zu machen gilt, bei allen kleinen und großen Unterschieden, ich bin überzeugt: Es braucht einen geweiteten Blick. Einen, der wahrnimmt, dass es in Ostdeutschland so viel mehr gibt, als es das Einmaleins der Klischees sehen will. Und einen, der unverzagt auf die Dinge schaut. Wenn uns das gelingt, können wir mit allen Unterschieden zusammen die Herausforderungen meistern. Nicht nur in Ostdeutschland, sondern als vereintes Land. Unverzagt, mit Zutrauen in uns und in die Zukunft.
Katrin Göring-Eckardt
GEBOREN: 1966/Friedrichroda
WOHNORTE (aktuell): Erfurt, Berlin
MEIN BUCHTIPP: Anne Rabe: „Die Möglichkeit von Glück“, 2023
MEIN FILMTIPP: „Wir sind jung. Wir sind stark.“, 2014
MEINE URLAUBSTIPPS: Alles in Thüringen, aber besonders das Schwarzatal mit Schwarzburg, wo die Weimarer Reichsverfassung unterzeichnet wurde.
BUCHTIPP:
„Denke ich an Ostdeutschland ...“In der Beziehung von Ost- und Westdeutschland ist auch 35 Jahre nach dem Mauerfall noch ein Knoten. Dieser Sammelband will einen Beitrag dazu leisten, ihn zu lösen. Die 60 Autorinnen und Autoren geben in ihren Beiträgen wichtige Impulse für eine gemeinsame Zukunft. Sie zeigen Chancen auf und skizzieren Perspektiven, scheuen sich aber auch nicht, Herausforderungen zu benennen. Die „Impulsgeberinnen und Impulsgeber für Ostdeutschland“ erzählen Geschichten und schildern Sachverhalte, die aufklären, Mut machen sowie ein positives, konstruktiv nach vorn schauendes Narrativ für Ostdeutschland bilden. „Denke ich an Ostdeutschland ... Impulse für eine gemeinsame Zukunft“, Frank und Robert Nehring (Hgg.), PRIMA VIER Nehring Verlag, Berlin 2024, 224 S., DIN A4. Als Hardcover und E-Book hier erhältlich. |