Nico Gramenz, der Unternehmer und Gründer von Project Bay Workation und Herofounders Company Building, ist ein wichtiger Impulsgeber für Ostdeutschland. Er setzt sich ein für Vergewisserung, Verständigung und Versöhnung. Mit diesem Beitrag ist er auch in dem Sammelband „Denke ich an Ostdeutschland ...“ vertreten.
Wenn ich an Ostdeutschland denke, dann sehe ich Chancen. Dann schaue ich nach vorn. Vielleicht ist das etwas, was gar nicht so typisch ostdeutsch ist oder war. Aber das kann es sein. Ich glaube, dass wir als junge (dritte) Generation mit ostdeutschen Wurzeln diese Chancen spüren: eine Freiheit, Dinge zu ändern, sowie eine Verpflichtung und Verbindung zur eigenen (ostdeutschen) Heimat.
Wenn ich an Ostdeutschland 2030 denke, dann …
- … sehe ich Mut, Zuversicht und Anpassungsfähigkeit, da die Transformationserfahrung des politischen Umbruchs, die so lange ein Nachteil zu sein schien, ein Vorteil in der sich immer schneller ändernden Welt wurde.
- … sehe ich unternehmerisches Handeln und aufstrebende postindustrielle Vorreiter-Start-ups, die die Chancen der ostdeutschen Regionen nutzen.
- … sehe ich die Vernetzung der ostdeutschen Landkreise, eingebettet in ein Europa der Regionen, als Schlüssel zur Beschleunigung der regionalen Transformation, insbesondere im ländlichen Raum.
Wenn ich an Ostdeutschland 2030 denke, dann sehe ich keine ostdeutsche Identität (mehr). Ich sehe regionale Identität und gleichberechtigten Zugang zu Arbeit, Energie, Kapital und Bildung in Europa.
Mein Wende-Timing
Wo und wann man geboren wird, kann man nicht beeinflussen. Ich würde sagen, dass ich Glück hatte. 1979 auf Rügen auf die Welt gekommen, „erlebte“ ich die DDR noch ein knappes Jahrzehnt vom schönen Ostseestrand aus.
In der ersten Klasse wurde ich von meinen Mitschülern zum Gruppenratsvorsitzenden gewählt, von der Lehrerin aber wegen meiner vorlauten Kommentare zum Stellvertreter degradiert. Einmal musste ich einen Pullover abgeben, weil ich stolz erzählt hatte, dass er von unseren Verwandten aus Hamburg kam. Und ich machte mir Sorgen, als mein Vater zwei Tage lang wegen seiner Äußerungen zur DDR-Politik verhört wurde.
Der politische Umbruch war eine gute Nachricht für mich. Auch wenn ich gerade dabei war, die Bezirksspartakiade in Rostock in 60 m Laufen, Weitsprung und Schlagballweitwurf zu gewinnen, als das Scouting bzw. die Förderung abrupt eingestellt wurde. Aber es gab natürlich viel härtere sogenannte Lebensbrüche, auch in meiner Familie.
Ich hatte Glück, weil ich zum ersten Jahrgang gehörte, der die Fremdsprache Englisch wählen durfte, und ich im neuen Schulsystem Abitur machen konnte, den Schlüssel für eine „neue“ Zukunft. Der Ratschlag meiner Eltern lautete: „Such dir was Sicheres, am besten nicht hier“. Denn was kann man schon werden in einem der ärmsten Landkreise Deutschlands?
Also verließ ich 1998 die Insel und suchte nach einem sicheren Job. Ich ging zur Bundeswehr und wurde Offizier. Wenige Jahre später habe ich das gemeinsame Deutschland am Hindukusch verteidigt. Im 13. ISAF-Kontingent. Auf zwölf Jahre Bundeswehr folgten acht Jahre in der Wirtschaft beim Industriegiganten Siemens, vor allem in Berlin, den USA und in Russland. Dann kamen vier Jahre als CEO der Factory Berlin, dem größten Start-up-Campus in Europa mit über 200 Start-ups in Berlin und Hamburg.
Langfristig wollte ich mich aber wieder in meiner Heimat engagieren. 2022 kehrte ich in meine Heimat zurück. Ich startete mit dem Aufbau von Herofounders, einem Unternehmen, das das Gründen von Start-ups erleichtert. Mit einem starken Team wollen wir die Verantwortung in der nachhaltigen Gestaltung des „#New Business Bundeslandes“ übernehmen. So, dass die nächste Generation der Schulabsolventen den ländlichen Raum bzw. Mecklenburg-Vorpommern nicht verlassen muss und mutig gründet.
Mit unserem zweiten Unternehmen, Project Bay Workation, haben wir den Grundstein für die Verbreitung des unternehmerischen Ansatzes und die Vernetzung der Regionen als Beschleuniger der regionalen Transformation geschaffen. Wir wollen lokale Start-up-Communitys schaffen, insbesondere im ländlichen Raum. Dazu haben wir ein Netzwerk von Coworking Spaces in ländlichen, wirklich schönen Regionen geschaffen. Unsere Coworking Spaces befinden sich in Hotels und so ist neben dem Arbeiten auch ein temporäres Leben an den schönsten Orten möglich. Dort vernetzen wir die Bürger miteinander, aber auch die Gemeinden überregional. So beschleunigen wir die regionale Nachhaltigkeitstransformation von Rügen, Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland und Europa.
Keine Jobs, kein Mut, keine Menschen
In Ostdeutschland ist ein Großteil der Landkreise ländlich kategorisiert. Viele der industriellen Wirtschaftssektoren haben durch die Wende ihre Bedeutung verloren. Konsolidierungen wären da noch das schönste Szenario gewesen.
Das Mindset der Menschen ist als Produkt des politischen Systems der DDR und verstärkt durch die einschneidenden Erfahrungen in der Wendezeit gekennzeichnet durch eine fehlende „interne Kontrollüberzeugung“, also die Wahrnehmung, das Leben weniger durch das eigene Verhalten kontrollieren zu können.
Mecklenburg-Vorpommern war 1991 noch das „jüngste“ der 16 Bundesländer. Heute ist das Durchschnittsalter der Bevölkerung das höchste im Vergleich der Bundesländer. Die Folge fehlender beruflicher Perspektiven und mangelnder „Gestaltungsmentalität“ war und ist Abwanderung.
Aber die Rahmenbedingungen haben sich geändert. Die postindustrielle Digitalisierung verändert alles. Ortsunabhängiges Arbeiten wird möglich, jeder kann mit wenigen Klicks ein Unternehmen gründen, Bildung ist digital verfügbar und alternative Energien sind der große Standortvorteil von ländlichen Räumen. Manche sagen, dass ein Ostseestrand, die Brandenburger Natur oder das Erzgebirge auch einfach die schöneren und lebenswerteren Gegenden sind.
Die ostdeutsche Start-up-Chance
Diese Chance beruht auf drei Säulen. Erstens: Vernetzung. Wir machen lokale Gemeinschaftsorte und überregionale Netzwerke zur Stärke Ostdeutschlands in und für Europa.
Wir entwickeln uns in eine Netzwerkgesellschaft. Dabei ist die regionale Gemeinschaft besonders wichtig. Als CEO der Factory Berlin habe ich gelernt, wie eine Community mit 5.000 Mitgliedern aus 92 Nationen die regionale Wirtschaft verändert. Diese Wirksamkeit von kleinen Gemeinschaften ist der Wert regionaler Vernetzung.
Mit Project Bay schaffen wir derzeit eine Art Gemeindezentrum 4.0: über 150 lokale Gemeinschaftsorte, an denen die Bürger wieder zusammenkommen und ihre Probleme einbringen können. Durch die Vernetzung mit anderen Regionen tauschen wir Lösungsansätze für diese Probleme aus.
Ostdeutschlands Netzwerk-USP: Wir können (noch) Kollektiv.
Zweitens: Gründungsförderung. Strategien aus dem Industriezeitalter versuchen immer noch, das große Unternehmen aus dem Ausland in die Region zu holen – etwa nach Ostdeutschland. Viel sinnvoller ist aber, in der Region Unternehmertum zu fördern bzw. Rahmenbedingungen zu schaffen, die das Gründen vereinfachen.
Dämmmaterial aus Seegras, Lebensmittel aus Beifang, KI-Tools für Wärmeplanung von Gemeinden … Was gerade in der Startup-Szene in Ostdeutschland passiert, ist eine historische Chance. Mit unserem Company-Builder Herofounders sind wir ein kleiner Bestandteil dieser mutigen Szene.
Die Start-up-Chance greift, wenn Start-ups nicht als bunter Begleiter der Industrie, sondern als ernsthafte Strategie für die Zukunft der Region ganzheitlich in allen gesellschaftlichen Bereichen von der Schule bis zur Verwaltung gedacht werden. Entrepreneurial Thinking baut nicht nur Unternehmen, sondern ist adaptiv und kann in Krisenzeiten das Beste draus machen. Klingt ostdeutsch, oder?
Ostdeutschlands Start-up-USP: Keine Großkonzerne, keine trägen Systeme – die Voraussetzungen für Gründungen waren nie besser!
Drittens: Mut, Selbstbewusstsein und Verantwortung. Eine der wesentlichen Ursachen für die schlechte wirtschaftliche Situation in Mecklenburg-Vorpommern bzw. im Nordosten ist die Unzufriedenheit der Menschen. Nicht ohne Grund. Aber nur mit etwas mehr Zuversicht und (unternehmerischem) Mut gelingt es, wieder ein Selbstbewusstsein für die Herkunft und eine Identifikation mit der eigenen Region herzustellen. Ich wünsche mir außerdem genug Unabhängigkeit, um eigene Interessen durchzusetzen und genug Anschlussfähigkeit, um andere Kulturen und Fähigkeiten besser zu integrieren.
Die ostdeutsche Generation Y, also die Jahrgänge 1980 und jünger, ist die große Chance für die Veränderung. Wir sehen die Chancen, die sich bieten. Wir kommen in Führungspositionen, sind international vernetzt. Wir sehen die Möglichkeiten, mit den Fähigkeiten und Voraussetzungen im Osten mutig Dinge verändern zu können. Vielleicht sind wir sogar ein wenig mutiger, was das Thema Veränderungsbereitschaft angeht.
Das ist Chance und Verantwortung zugleich. Die Verantwortung, ältere Generationen davon zu überzeugen, dass Mut und Selbstbewusstsein berechtigt sind. Zu übersetzen, zu moderieren, voranzugehen und einzubeziehen. Die Chance liegt darin, die Voraussetzungen in Ostdeutschland zu nutzen, die Transformation als breite „dritte Generation“ zu gestalten – und damit den Jammer-Ossi zu überwinden.
Ostdeutschlands Mut-USP: Eine transformationserfahrene Wendegeneration, die die Chancen sieht, den Übergang moderiert und Transformation gestaltet.
Mein Fazit
Wir starten im Osten bzw. im ländlichen Raum im letzten Drittel des Starterfeldes in den Transformationsmarathon. Aber uns liegen keine großen Steine im Weg, etwa träge Systeme, die gerade noch erfolgreich sind.
Transformation funktioniert nur mit Menschen, mit uns. Das ist die Chance. Keiner rechnet damit, aber die Voraussetzungen sind hervorragend. 23 Prozent der Menschen in einer Region/Organisation müssen die Veränderung wollen, dann kann der Kipppunkt erreicht werden.
Wir sehen die Chancen und deshalb gilt es, die Gemeinschaft, unser kollektivistisches Erbe der ostdeutschen Herkunft, abzurufen, uns gegenseitig Mut zu machen und daran zu glauben. Die „interne Kontrollüberzeugung“ zurückzugewinnen. Wieder daran zu glauben, dass wir unser Leben, unser Schicksal selbst beeinflussen können.
Der Osten erfindet sich gerade neu. Geführt von einer Generation, die mutig und mit unternehmerischen Methoden lokale Gemeinschaften zusammenbringt und international vernetzt ist. Wir sind integraler Bestandteil eines starken Europas, kennen aber die Vorteile unserer Herkunft.
Wenn ich an Ostdeutschland denke, dann sehe ich Chancen!
Nico Gramenz
GEBOREN: 1979/Bergen auf Rügen
WOHNORTE (aktuell): Berlin, Binz auf Rügen
MEIN BUCHTIPP: Uwe Müller: „Supergau Deutsche Einheit“, 2005
MEIN FILMTIPP: „Das Leben der Anderen“, 2006
MEINE URLAUBSTIPPS: Prora, Ahrenshoop, Heringsdorf, Lietzow, Weimar und viele andere Project-Bay-Standorte
BUCHTIPP:
„Denke ich an Ostdeutschland ...“In der Beziehung von Ost- und Westdeutschland ist auch 35 Jahre nach dem Mauerfall noch ein Knoten. Dieser Sammelband will einen Beitrag dazu leisten, ihn zu lösen. Die 60 Autorinnen und Autoren geben in ihren Beiträgen wichtige Impulse für eine gemeinsame Zukunft. Sie zeigen Chancen auf und skizzieren Perspektiven, scheuen sich aber auch nicht, Herausforderungen zu benennen. Die „Impulsgeberinnen und Impulsgeber für Ostdeutschland“ erzählen Geschichten und schildern Sachverhalte, die aufklären, Mut machen sowie ein positives, konstruktiv nach vorn schauendes Narrativ für Ostdeutschland bilden. „Denke ich an Ostdeutschland ... Impulse für eine gemeinsame Zukunft“, Frank und Robert Nehring (Hgg.), PRIMA VIER Nehring Verlag, Berlin 2024, 224 S., DIN A4. Als Hardcover und E-Book hier erhältlich. |