Nine-Christine Müller, Kommunikationsexpertin und Podcast-Host von „Ostwärts“, ist eine wichtige Impulsgeberin für Ostdeutschland. Sie setzt sich ein für Vergewisserung, Verständigung und Versöhnung. Mit diesem Beitrag ist sie auch in dem Sammelband „Denke ich an Ostdeutschland ...“ vertreten.

Nine-Christine Müller, Kommunikationsexpertin und Podcast-Host von „Ostwärts“. Abbildung: Jana-Nita Raker
Melodie erklingt. Stimme aus dem Off: „Hallo und herzlich willkommen bei Ostwärts: Gespräche über ostdeutsche Identitäten. Ich spreche hier im Podcast mit Leuten, die sich Gedanken über ihre Herkunft machen, mit Menschen, die sich engagieren und die keinen großen Namen tragen. Ich bin Nine, Thüringerin, Wendekind und immer noch Ossi? Genau DAS finde ich mit euch heraus!“
Was hören wir eigentlich über Ostdeutschland? Wo kommen Ostdeutsche zu Wort? Und was bedeutet es heute noch, ostdeutsch zu sein? Genau diese Fragen stelle ich meinen Gästen bei Ostwärts. Ich lasse Menschen mit Ostbiografie zu Wort kommen, Persönlichkeiten mit verschiedenen Geschichten und Perspektiven.
Während Diversität, Inklusion und Teilhabe omnipräsent diskutiert werden, wird Ostdeutschsein nur selten als Diversitätsmerkmal wahrgenommen. Dabei ist die strukturelle Ungleichheit zwischen Ost und West nach wie vor präsent und auch die traurigen Antworten auf die Fragen: Wo sind die strukturschwachen Regionen? Wo werden die niedrigsten Löhne gezahlt?
Immer mehr Initiativen thematisieren das: ob Legatum, das N5 Symposium oder die 3te Generation Ost. Sie schaffen Aufmerksamkeit, setzen neue Impulse und bieten Vernetzung. Aber mal Hand aufs Herz: Wer kennt diese Netzwerke außerhalb der Bubble? Obwohl 20 Prozent der deutschen Bevölkerung Ostdeutsche sind, bleibt das Thema in der Öffentlichkeit immer noch weitestgehend unterrepräsentiert.
Die meisten Menschen verbinden mit Ostdeutschland Dunkeldeutschland, AfD und Plattenbau. Also stark verkürzte Darstellungen, die einem angemessen differenzierten Bild keinen Raum geben. Da hört es oft auch schon auf, bevor es mit positiven Aspekten losgehen könnte.
Und vielleicht kann man das den Leuten auch nicht verübeln, weil sie ein sehr einseitiges Bild von Ostdeutschland hören und sehen. In den Öffentlich-Rechtlichen dominieren bei der Berichterstattung über den Osten des Landes Themen wie die gefährdete Sicherheitslage, Unfälle und Katastrophen. Das zeigt die Medien-Langzeit-Inhaltsanalyse aus dem Rundfunkrat-Brief, in der die Jahre 2012 bis 2023 ausgewertet wurden. Ostdeutschland bleibt bei ARD, ZDF und DLF auch 30 Jahre nach der Revolution von 1989 eine Region, vor der gewarnt wird. Dabei ist Vielfalt in der Auswahl und Bewertung von Themen ein Qualitätsmerkmal des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und sollte es auch im professionellen Journalismus sein.
Ich frage mich dabei zunehmend beunruhigt: Wie lange können wir es uns leisten, ein geteiltes Land zu sein? Wie sehr kann diese Ungleichheit die Probleme verschärfen? Was sind die Folgen? Sehen wir sie nicht schon? Repräsentation beginnt mit der Möglichkeit, individuelle Positionen und Lebensumstände wahrnehmen zu können. Dazu muss die eigene Stimme hörbar sein.
Meine Vision ist, dass mit der Herkunftsregion keine Stigmatisierung mehr verbunden ist.”
Was macht mich zur Ostdeutschen?
Ich wurde im Revolutionsjahr 1989 in der DDR geboren. Macht mich das zur Ostdeutschen? Ich kam im Frühjahr 1989 in Jena auf die Welt und bin in Ostthüringen, in der kleinen Kreisstadt Eisenberg, aufgewachsen – früher bekannt für die kobaltblaue Strohmuster-Keramik von Jäger. Bedeutet mein dortiges Aufwachsen automatisch, dass ich ostdeutsch bin?
Meine Sozialisation verlief nicht in typisch ostdeutschen Bahnen, denn meine Eltern wollten mich bewusst von der Sozialisation abgrenzen, unter der sie jahrzehntelang gelitten hatten. Kein Kindergarten, stattdessen blieb ich mit meinen drei Schwestern zu Hause. Keine Jugendweihe, was mich traurig stimmte, weil alle Kinder meiner Klasse diesen wichtigen Teil des Erwachsenwerdens miteinander teilten. Ich war stattdessen katholisch, Ministrantin und sonntags regelmäßig in der Kirche. Meine Familie gehörte zu den Wendegewinnern und meine Mutter weinte beim Fall der Mauer – vor Freude.
20 Jahre später, nach meinem Abitur, jobbte ich an einer Tankstelle in der Kleinstadt und kam dabei mit vielen Menschen ins Gespräch, die eine ganz andere Sicht auf die DDR hatten – mal nostalgisch, mal schwärmerisch, oft aber positiv. Ich erinnere mich noch gut daran, wie irritiert ich war. Wie kann das sein? Es war doch eine so unfreie eingeschlossene Gesellschaft. Und die Meinungen standen in krassem Gegensatz zu dem DDR-kritischen Umfeld, in dem ich aufgewachsen bin. Durch diese Gespräche begann ich, mir Fragen zu stellen: Bin ich ostdeutsch? Warum wehre ich mich so vehement gegen dieses Label?
Auf Reisen, im Studium und später während meiner Arbeit in Agenturen wurde ich oft mit Vorurteilen konfrontiert. Mir wurde gesagt, dass ich gar nicht ostdeutsch aussehe oder spreche. Wie sollte ich aussehen als Ostdeutsche? Suchte man vergebens einen sächsischen Dialekt bei mir?
Ich fühlte mich nie explizit diskriminiert. Vielleicht auch, weil ich nicht ostdeutsch „gelesen“ wurde. Kürzlich sagte mir eine Bekannte, dass sie in Zusammenarbeit mit einem Konzern in Süddeutschland die Beschreibung „wie ein Ossi“ hörte. Gemeint war „sich dumm anstellen“ und „inkompetent sein“. Wohlgemerkt im Jahr 2024 – das ist schon krass.
Ich bin als Person aus dem Osten des Landes strukturell benachteiligt. Weniger Netzwerke, weniger Geld, weniger Selbstbewusstsein. All das sind Gründe, weshalb ich beschloss, Ostwärts zu starten. Dieser Podcast sollte nicht nur Antworten auf meine eigenen Fragen liefern, sondern auch das Narrativ über ostdeutsche Identitäten erweitern.
Einladung zum Zuhören
Ich möchte ein differenziertes Bild des Ostens zeigen und Menschen aus dieser Region eine Stimme geben. Ich spreche mit ganz unterschiedlichen Personen, die sich engagieren, sich Gedanken über ihre Herkunft machen, die gegangen, die geblieben oder zurückgekehrt sind. Ich spreche mit Menschen aus verschiedenen Regionen und Berufen, die sehr Unterschiedliches erlebt haben.
Ostwärts thematisiert neben lokalen Herausforderungen auch positive Aspekte und vielversprechende Impulse: Welche inspirierenden Initiativen gibt es? Welche zivilgesellschaftlichen Projekte existieren? Wer engagiert sich und wie? Wer sind die erfolgreichen Menschen mit Ostbiografie? Denn natürlich gibt es sie. Wenn man zuhört und hinschaut.
Der Gesprächspodcast fördert Empathie und Verständnis – sowohl im Osten als auch im Westen. Denn es gibt auch Hörende, die bisher noch keinen Bezug zum Thema hatten und sich nun darauf einlassen wollen, von den individuellen Geschichten zu erfahren. Da ist zum Beispiel der 28-Jährige aus Köln, der mir aufgeregt berichtet, dass es bei ihm förmlich „klick“ gemacht hat und ihm die Geschichten geholfen haben, die ostdeutsche Perspektive und damit viele Freunde zu verstehen.
Ostwärts gibt Einblicke in die unterschiedlichen und oft vielschichtigen Antworten auf die Frage, was es bedeutet, ostdeutsch zu sein. So gibt der Podcast den Menschen Raum, die sich nach 1990 neu erfinden mussten, weil sie dazu gezwungen waren, und die, wie viele Ostdeutsche, einschneidende Lebensbrüche erlebt haben.
Da ist die Gärtnerin, die mit einem Neugeborenen 1990 ein Studium begann, weil sie vorher nicht studieren durfte. Der erfolgreiche Manager, der nun in Boston lebt und das Mentoring-Netzwerk Legatum gründete, das ihm selbst als Studierender fehlte. Das Arbeiterkind der GenZ, das sich im wiedervereinten Deutschland nach 1990 geboren dennoch klar als ostdeutsch definiert. Der Techno-DJ aus Gera, der als Kulturlotse Künstler einlädt, um den Menschen vor Ort kulturelle Angebote zu bieten. Die Wirtschaftsbotschafterin aus Rostock, die im Regierungsflieger mit Robert Habeck und anderen Wirtschaftsdelegierten über Entrepreneurship und einen positiven Blick auf Ostdeutschland debattiert. Die Theaterperformerin, die das Aufwachsen im traumatisierten Ökosystem und den „Abfuck der Wendejahre“ kreativ verarbeitet in Projekten wie TreuhandTechno.

Ostwärts, der Podcast mit Nine-Christine Müller, lässt Menschen mit Ostbiografie zu Wort kommen, Persönlichkeiten mit verschiedenen Geschichten und Perspektiven. Abbildung: Nine-Christine Müller
Die Gegenwart verstehen
Die Homogenisierung des Ostens nervt. Die verkürzte Darstellung der fünf neuen Bundesländer als graue, uniforme Zone lässt so viele Geschichten im Verborgenen. Für mich sind die Gespräche ein Beitrag, um die Vergangenheit und Gegenwart besser zu verstehen. Sie liefern persönliche Perspektiven auf historische Ereignisse – aus einem anderen Land, aus einem anderen Gesellschaftssystem.
Natürlich war die kulturelle Prägung anders – wie auch das Grundverständnis von Gesellschaft. Gerade für meine Generation, die zwar noch die rosa durchscheinende DDR-Geburtsurkunde hat, aber nicht in dem System groß wurde, ist die kritische und selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft sehr erhellend.
Ostwärts ist mein Beitrag, die Vielfalt und Einzigartigkeit der ostdeutschen Identitäten sichtbar zu machen. Es ist nicht nur ein Podcast, sondern eine Plattform für diejenigen, die ihre Geschichten teilen und ihre Stimme hörbar machen möchten, um das Bild von Ostdeutschland zu nuancieren und das Verständnis zwischen den Regionen und Menschen zu fördern.
Seitdem ich mit all den inspirierenden, mutigen und engagierten Personen rede und ihnen zuhöre, hat sich vieles an meiner Wahrnehmung des Ostdeutschseins verändert.
Es geht mir nicht nur darum, das Narrativ zu erweitern oder eine positivere Wahrnehmung zu schaffen. Meine Vision ist, dass keine Stigmatisierung mit der Herkunftsregion verbunden ist und dass alle Menschen, egal ob sie aus dem Norden, Süden, Osten oder Westen kommen, die gleichen Chancen haben und sich mit ihrem Geburtsort so verbunden fühlen können, wie sie es möchten.
Die Frage, ob ich mich denn als ostdeutsch verstehe, kann ich nun folgendermaßen beantworten: Ja, es ist ein Teil meiner Identität, wie auch Thüringerin zu sein, Deutsche, Europäerin, Weltbürgerin.
Literaturnachweis
Zum Thema Rundfunkrat-Brief der Arbeitsgemeinschaft „Informationsqualität in Deutschland“: https://informationsqualitaet.com/blog/rundfunkrat-brief-1/, abgerufen am 25.02.2024.
Nine-Christine Müller
GEBOREN: 1989/Jena
WOHNORT (aktuell): Berlin
MEIN BUCHTIPP: Katja Hoyer: „Diesseits der Mauer: Eine neue Geschichte der DDR 1949-1990“, 2023
MEIN SERIENTIPP: „Kleo“, 2022
MEIN URLAUBSTIPP: Wanderung durch das Eisenberger Mühltal
![]() „Denke ich an Ostdeutschland ...“In der Beziehung von Ost- und Westdeutschland ist auch 35 Jahre nach dem Mauerfall noch ein Knoten. Dieser Sammelband will einen Beitrag dazu leisten, ihn zu lösen. Die 60 Autorinnen und Autoren geben in ihren Beiträgen wichtige Impulse für eine gemeinsame Zukunft. Sie zeigen Chancen auf und skizzieren Perspektiven, scheuen sich aber auch nicht, Herausforderungen zu benennen. Die „Impulsgeberinnen und Impulsgeber für Ostdeutschland“ erzählen Geschichten und schildern Sachverhalte, die aufklären, Mut machen sowie ein positives, konstruktiv nach vorn schauendes Narrativ für Ostdeutschland bilden. „Denke ich an Ostdeutschland ... Impulse für eine gemeinsame Zukunft“, Frank und Robert Nehring (Hgg.), PRIMA VIER Nehring Verlag, Berlin 2024, 224 S., DIN A4. Als Hardcover und E-Book hier erhältlich. |