Christian Tretbar und Ulrike Teschke, der Chefredakteur des Tagesspiegels und die langjährige Geschäftsführerin der Verlag Der Tagesspiegel GmbH, sind wichtige Impulsgeber für Ostdeutschland. Sie setzen sich ein für Vergewisserung, Verständigung und Versöhnung. Mit diesem Beitrag sind sie auch in dem Sammelband „Denke ich an Ostdeutschland ...“ vertreten.

Christian Tretbar und Ulrike Teschke, Chefredakteur Der Tagesspiegel und Ex-Geschäftsführerin Verlag Der Tagesspiegel GmbH (bis Februar 2024). Abbildung: Nassim Rad
Zwei Ostdeutsche an der Spitze des Tagesspiegels. Geschäftsführerin Ulrike Teschke und Chefredakteur Christian Tretbar im Gespräch über das Ostdeutschsein, Positives im Osten und die Rolle der Medien.
Christian Tretbar (CT): Herzlichen Glückwunsch, liebe Ulrike, acht Prozent der Spitzen von Medienunternehmen sind Ostdeutsche und du gehörst dazu!
Ulrike Teschke (UT): Danke gleichfalls.
CT: Ja, wir sind, wenn man so will, beide ostdeutsche Flüchtlinge. Du bist mit knapp 20 Jahren 1984 aus der DDR ausgereist und ich mit zehn Jahren 1989 kurz vor dem Mauerfall. Was war deine erste Erfahrung im Westen?
UT: Ehrlich gesagt, ein überkorrekter Schaffner. Wenn man die Ausreise genehmigt bekommen hatte, musste man sich darauf vorbereiten, über Nacht das Land zu verlassen, …
CT: War bei uns auch so ähnlich …
UT: … also habe ich alles schnell zusammengepackt und bin mit dem Interzonenzug zur Grenze nach Bebra/Herleshausen gefahren. Meinen Fahrschein musste ich dort nicht zeigen, aber dann auf der Westseite. Und plötzlich merkte ich, dass ich den vor Aufregung zu Hause auf dem Tisch liegen gelassen hatte. Der Schaff ner ließ den Zug nicht weiterfahren und ich musste aussteigen. Zum Glück kam ein älterer Herr, der auf den Schaffner einredete und für mich ein neues Ticket bezahlte. Dann konnte ich weiterfahren nach Gießen ins Auffanglager. Wie war es bei dir?
CT: Eher umgekehrt. Wir waren auch über diesen Weg eingereist und nach Gießen gefahren. Aber uns hatten die DDR-Schaffner Stress gemacht, weil meine Eltern noch etwas Ostgeld bei sich hatten. Das haben wir dann einer älteren Frau im Abteil gegeben und der Zug konnte weiterfahren. Ansonsten hat mich natürlich die bunte Welt geflasht und die Unordnung in den Klassenzimmern – die merkwürdigen Sechser-Tischgruppen. Außerdem stand keiner auf, wenn man dran war und sich gemeldet hatte. Alle fläzten so am Tisch und Ernst Thälmann kannte auch kein Mensch – aber ich habe mich schnell dran gewöhnt. Was bedeutet es denn für dich, heute als Ostdeutsche an der Spitze eines Medienhauses zu stehen?
UT: Es ist mir wieder neu bewusst geworden, weil das Thema lange Zeit keine große Rolle gespielt hat. Ich bin etwa seit 2013 in verschiedenen Führungsrollen, aber das Ost-West-Thema hat da keine Rolle gespielt. Ich habe immer gesagt, dass ich aus dem Osten bin, aber es war eigentlich egal.

Am 4. Oktober 2023 lud der Tagesspiegel zur hochkarätig besetzten Veranstaltung „Der Osten – Chancen und Talente für Deutschland“ ein. Abbildung: Lena Ganssmann
CT: Warum spielt es jetzt wieder eine Rolle?
UT: Ich glaube, dass es wieder einen gefühlten Spalt zwischen Ost und West gibt durch die Debatten rund um den Umfrageaufstieg der AfD, aber auch den Krieg in der Ukraine. Es fühlt sich an, als ginge da ein richtiger Keil durch Deutschland – entlang der alten innerdeutschen Grenze.
CT: Wie erklärst du dir das?
UT: Es hat etwas mit einer gewissen Veränderungserschöpfung zu tun. Denn die Ostdeutschen haben viele Veränderungen hinter sich. Sie haben immer mitgezogen und versucht, ihren Weg zu finden. Aber oftmals entstand der Eindruck, dass die Menschen aus dem Westen den Takt vorgeben. Der Besserwessi war im Osten schon ein gängiger Begriff, weil er kam und alles besser wusste. Und in gewisser Weise setzt sich dieses Gefühl fort.
CT: Aber inwiefern? Denn die Veränderung müssen alle mitmachen in Deutschland. Kann es sein, dass sich Ostdeutsche immer etwas benachteiligt und vergessen fühlen?
UT: Ja, das ist so. Deshalb reagieren sie auch in Teilen extremer auf Flüchtlinge, weil das Gefühl vorherrscht: Wir stehen in Lohn, Rente und einigen anderen Sachen schlechter da als im Westen. Und jetzt kommen auch noch die Flüchtlinge, denen es ja bei uns gut geht. Das ist natürlich ein in Teilen irrationales Gefühl, aber es ist nun mal da und damit müssen wir umgehen.
UT: Das stimmt. Viele wurden aus ihrer DDR-Komfortzone herausgeholt. Die DDR war, wie Günter Gaus mal zu Recht sagte, eine Nischengesellschaft. Darin hat sich jeder eingerichtet und viele haben auch gar nicht schlecht gelebt. Natürlich gab es die Stasi, aber irgendwie bekam jeder eine Wohnung und Arbeit. Geld spielte eine untergeordnete Rolle. Wichtiger war es, dass man etwas zum Tauschen hatte. Viele sind in den Urlaub an die Ostsee gefahren oder mit dem Trabi nach Ungarn oder Bulgarien. Es ging den meisten gut, man hatte sich eingerichtet und dann kam der radikale Wandel. Plötzlich war man für alles selbst verantwortlich, wo einem zuvor der Staat alles abgenommen hat. Ich erinnere mich noch gut, dass das auch für mich im Westen eine Umstellung war.
CT: Und genau das unterscheidet natürlich auch die vielen, die vor oder nach der Wende aus dem Osten weggegangen sind, von einigen, die dageblieben sind. Denn denen, die weggingen, war klar, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen mussten, etwas aufbauen. Grundsätzlich glaube ich, dass es in Ostdeutschland nach wie vor ein ambivalentes Staatsverständnis gibt. Einerseits eine hohe Erwartungshaltung an den Staat, an die Politik, wenn man so will, dass einem alle Lebensrisiken abgenommen werden, dass für alles gesorgt wird. Und andererseits das Streben nach einer großen Unabhängigkeit vom Staat. Auf nichts wird allergischer reagiert, als auf Bevormundung, Einmischung in die persönlichen Lebensverhältnisse und Vorstellungen. Deshalb fällt die Reaktion auf eine vermeintlich verordnete Politik „für Flüchtlinge“, „gegen den Klimawandel“, „gegen Russland“ so heftig aus in Ostdeutschland. Es ist die Sorge davor, wieder eine Meinung übergestülpt zu bekommen. Und interessanterweise wird dieses Spannungsverhältnis vererbt. Denn es ist ja auch bei denen zu spüren, die gar nicht mehr in der DDR geboren wurden.
UT: Absolut. Da unterscheidet sich das gar nicht so sehr von migrantischen Familien. Auch dort werden die Weltbilder und die kulturelle Sicht durchaus von Generation zu Generation weitergegeben. Da gibt es gar keinen unmittelbaren Bezug mehr zur alten Heimat, aber das Weltbild verändert sich nicht groß. Im Gegenteil: Man hat das Gefühl, es wird von Generation zu Generation krasser. Man kann das sicher nicht pauschal sagen, aber es kommt häufig vor.
CT: Glaubst du denn, dass der Osten heute verklärt wird nach dem Motto „Es war doch alles nicht so schlimm“?
UT: Ich glaube schon. Viele vergessen, was das für ein Staat war. Welches Unrecht es da gab. Ich habe selbst viel Stasi-Drangsalierung erleben müssen. Aber es gehört eben auch dazu zu wissen, dass man dort trotz den Umständen entsprechend gut leben konnte, Freunde und Familie hatte und eine Lebensleistung, die anerkannt wurde.
CT: Aber manche machen es sich auch zu einfach. Nur zu sagen, wir wurden so lange benachteiligt und jetzt zeigen wir es euch mal, und zwar mit der AfD, ist etwas dünn.
UT: Natürlich. Man darf das Phänomen aber eben nur nicht auf den Osten begrenzen. Denn Rechtsextremismus gibt es im Westen auch. Der Nährboden für rechtsextreme Parteien ist im Osten auch da, weil die Ostdeutschen einfach schneller zum Protest neigen, schnell das Vertrauen verlieren, weil sie zu oft enttäuscht wurden. Aber wir haben es schon oft gesehen: Umfragen sind noch lange keine Wahlergebnisse. Mir ist wichtig, dass wir auch medial nicht nur das Negative aufzeigen und so tun, als sei dies das Gesamtbild. Der Osten ist eben nicht die AfD. Es gibt so viele tolle Erfolgsgeschichten von mutigen Menschen, die etwas aufgebaut haben, die sich gegen die AfD stellen. Das gehört zum Bild ganz zwingend dazu. Aber es wird allzu schnell alles schlecht geredet. Dass sich jetzt zum Beispiel Chiphersteller im Osten ansiedeln, wird dann in TV-Shows damit abgetan, dass diese Firmen sich ja nur im Osten ansiedeln würden, weil es dort so viele Subventionen gebe. Dabei werden auch Firmen, die sich in westdeutschen Bundesländern ansiedeln, hier und da subventioniert. Und außerdem ist es ja etwas, was letztlich ganz Deutschland zugutekommt. In Amerika wird auch fett subventioniert.
CT: Du hast uns Medien gerade angesprochen. Machen wir es uns zu leicht, den Aufstieg der AfD insbesondere im Osten nur der Schwäche der Bundesregierung zuzuschreiben?
UT: Ein bisschen schon. Die Menschen im Osten, du hast es vorhin auch gesagt, reagieren empfindlich, wenn sie das Gefühl haben, nur noch eine Meinung sei richtig. Und das passiert oft. Dabei geht es ja nicht um die vielen kleinen Regionalzeitungen, sondern auch um die Wahrnehmung der großen Zeitungen, wozu der Tagesspiegel auch zählt, sowie der Öffentlich-Rechtlichen Fernsehsender. Wenn der Eindruck entsteht, dass nur noch eine Richtung richtig ist, nur eine Meinung korrekt, dann begehren die Menschen im Osten mit ihrer 40-jährigen SED-Erfahrung eben auf.
CT: Ich bin bei dir. Das war sicher im Laufe der Coronapandemie ein Problem. Kritische Stimmen zu den Maßnahmen wurden mitunter zu schnell in eine rechte Verschwörungsecke gestellt, und es wurde nicht mehr gut genug unterschieden, was wirklich zurecht dort in der Ecke steht und was einfach nur eine Kritik an den Maßnahmen war. Aber gerade bei den aktuellen Migrationsfragen ist das Meinungsspektrum schon breit. Ich glaube eher, dass wir wirklich einen Teil verloren haben. Einen Teil der Gesellschaft, der nicht mehr erreichbar ist, und von diesem Teil sind eben viele im Osten.

Der zehnte Jahrestag der Maueröffnung – Titelthema im Tagesspiegel. Abbildung: Tagesspiegel
UT: Das kann sein. Meiner Meinung nach kommt die größte Verantwortung den Politikern in den Kommunen und Gemeinden zu. Denn die sind vor Ort und reden mit den Menschen, erleben die Probleme hautnah. Die Menschen vor Ort brauchen die Unterstützung aus Berlin und von uns allen – auch den Medien.
CT: Genau die rufen gerade stark nach Hilfe, aber es drängt sich das Gefühl auf, dass sie zu wenig gehört werden. Glaubst du, dass wir in zehn Jahren immer noch über das Thema Ost-West reden werden?
UT: Ja, weil ich glaube, dass die Zeiten weiter schwieriger werden und viel Veränderungsnotwendigkeit auf die Menschen zukommt, mit der Digitalisierung, mit dem Klimawandel und vielem mehr. Deshalb halte ich es für extrem wichtig, dass die Politik in die Strukturen vor Ort investiert: Kitas, Schulen, Gesundheitssystem, Pflege. Denn dann hoffe ich, dass viele auch in ihre Heimat zurückkehren und sehen, dass es auch in Sachsen-Anhalt sehr lebenswert ist.
CT: Wahrscheinlich hast du recht, dass wir auch dann noch darüber reden, weil es eben diese ostdeutsche Mentalitätsklammer gibt. Aber ich glaube, dass es vielen ostdeutschen Regionen dann wirtschaftlich besser geht und die Debatten eher entlang anderer Konfliktlinien verlaufen.
Ulrike Teschke
GEBOREN: 1962/Halle (Saale)
WOHNORT (aktuell): Aumühle (bei Hamburg)
MEIN BUCHTIPP: Günter de Bruyn: „Der neunzigste Geburtstag“, 2018
MEIN FILMTIPP: „Die Legende von Paul und Paula“, 1973
MEINE URLAUBSTIPPS: Darss, Regenbogencamp Prerow
Christian Tretbar
GEBOREN: 1979/Leipzig
WOHNORT (aktuell): Berlin
MEIN BUCHTIPP: Clemens Meyer: „Als wir träumten“, 2006
MEIN SERIENTIPP: „Weissensee“, 2010
MEIN URLAUBSTIPP: Leipzig
![]() „Denke ich an Ostdeutschland ...“In der Beziehung von Ost- und Westdeutschland ist auch 35 Jahre nach dem Mauerfall noch ein Knoten. Dieser Sammelband will einen Beitrag dazu leisten, ihn zu lösen. Die 60 Autorinnen und Autoren geben in ihren Beiträgen wichtige Impulse für eine gemeinsame Zukunft. Sie zeigen Chancen auf und skizzieren Perspektiven, scheuen sich aber auch nicht, Herausforderungen zu benennen. Die „Impulsgeberinnen und Impulsgeber für Ostdeutschland“ erzählen Geschichten und schildern Sachverhalte, die aufklären, Mut machen sowie ein positives, konstruktiv nach vorn schauendes Narrativ für Ostdeutschland bilden. „Denke ich an Ostdeutschland ... Impulse für eine gemeinsame Zukunft“, Frank und Robert Nehring (Hgg.), PRIMA VIER Nehring Verlag, Berlin 2024, 224 S., DIN A4. Als Hardcover und E-Book hier erhältlich. |