Prof. Olaf Jacobs, Journalist, Produzent und Hochschullehrer, ist ein wichtiger Impulsgeber für Ostdeutschland. Er setzt sich ein für Vergewisserung, Verständigung und Versöhnung. Mit diesem Beitrag ist er auch in dem Sammelband „Denke ich an Ostdeutschland ...“ vertreten.
Journalist zu sein verbindet sich mit dem Privileg, jede Frage stellen zu dürfen und immer wieder an Gedanken teilhaben zu können, von Lebensweisen und Lebenssichten zu erfahren, mit denen man sonst kaum in Berührung käme. Ich bin mir dieses Privilegs mit den ersten Schritten in den Beruf sehr bewusst geworden. Letztlich war es sogar das, was aus einem Praktikum im letzten Schuljahr nahtlos einen Beruf werden ließ. Der Umstand, in Leipzig geboren und aufgewachsen zu sein und hier mehr oder minder kontinuierlich zu arbeiten, schien mir lange Jahre kein Grund, die Themen für journalistische Arbeiten auch hier vor der Haustür zu suchen. Im Gegenteil. Die Landkarte mit den Orten, von denen ich Geschichten erzählen durfte, hat Nadeln auf allen Kontinenten der Welt und ich konnte mir lange nicht vorstellen, dass diese nicht jedes Jahr wachsen, sondern tatsächlich einmal kleiner werden könnte.
Wirklich Sorgen machen müssen wir uns um den ostdeutschen Mann.”
Ostdeutsch aus Versehen
Kurz vor der Jahrtausendwende rollte eine erste Ostalgiewelle durch die Medien. Ich hatte nie den Eindruck, das Land, in dem ich meine Kindheit verbracht hatte, verteidigen zu müssen oder zu wollen und konnte mit der Ostromantik, mit Ostprodukten, Ostrock-Partys wenig anfangen. Nach der Jahrtausendwende veränderte sich die Tonlage. Es begann zum ersten Mal eine Vermischung des medialen Bilds mit dem tatsächlichen Erinnern von Menschen. Ich bemerkte, dass sich immer mehr Menschen in meiner Umgebung nicht im gesellschaftlichen Diskurs wiederfanden. Ihre Geschichten und Biografien waren wie abgeschnitten. Der Ausdruck „abgeschlossenes Sammelgebiet“ begegnete mir häufig. Verbunden war es in der Regel mit der Vorstellung, auch abschließend über dieses Stück Geschichte in historischen Dokumentationen erzählen zu können. Ich bekam die Deutung des Lebens von Menschen aus meiner Schule, aus meiner Familie, aus meinem Kreis von Freunden, Nachbarn, Bekannten geliefert und häufig gleich auch die Interpretation. Nie aber ergab das Linien vom Damals in die Gegenwart.
Eine Weile hielt ich mich für einen Sonderling, weil ich mich darin nicht wiederfand, und bemerkte dann doch, dass der Fehler vielleicht nicht – oder zumindest nicht nur – bei mir liegen könnte. Ich erinnere mich, dass es sich wie der Versuch anfühlte, sich der eigenen Geschichte zu bemächtigen, als ich das erste Mal dafür argumentierte, eine neue Geschichte nicht in Amerika oder Russland anzulegen, sondern eine andere Geschichte Ostdeutschlands zu erzählen, eine Innensicht, eine Geschichte, die aus der Vergangenheit die Gegenwart erklärt. Ich war zum Ostdeutschen gemacht worden. Und es war die Skepsis, die dem zunächst entgegenschlug, die mich lange nachdenken ließ, wie viel davon Gefühl und wie viel davon Fakt ist.
Wer beherrscht den Osten
In inzwischen drei Erhebungen haben wir – gemeinsam mit Studierenden und Kollegen der Universität Leipzig – jeweils knapp 800 Elitepositionen hinterfragt, um zu verstehen, wie viele ostdeutsch sozialisierte Personen diese Elitepositionen innehaben. Uns interessierte: Sind sie wirklich nicht vertreten oder ist dies nur eine Behauptung? Bundesweit liegt der Anteil ostdeutsch sozialisierter Menschen bei etwa 17 Prozent, in den untersuchten Elitepositionen fanden sich 2022 gerade einmal 3,5 Prozent. Das waren 1,5 Prozentpunkte mehr als bei einer Erhebung sechs Jahre zuvor, stellt aber weiter eine krasse Unterrepräsentanz dar, wären doch erst 17 Prozent die angemessene Repräsentanz. Innerhalb der ostdeutschen Bundesländer liegt der Anteil der ostdeutsch sozialisierten Wohnbevölkerung bei schätzungsweise rund 80 Prozent. In den Elitepositionen wird auch hier dieser Referenzwert bei weitem nicht erreicht. Noch 2022 waren nur 52 Prozent der Staatssekretäre in den ostdeutschen Bundesländern ostdeutsch sozialisiert, bei allen früheren Erhebungen waren es sogar noch weniger als die Hälfte. In der Wirtschaft, bei den 100 größten Unternehmen in Ostdeutschland, sind nur 23 Prozent der Führungspersonen ostdeutsch sozialisiert und damit sogar weniger als bei früheren Erhebungen. Im Bereich der Justiz dagegen ist ein langsames „Herauswachsen“ der westdeutschen Dominanz aus den Elitepositionen zu beobachten. Allen untersuchten Bereichen ist gemein, dass sich die Entwicklungen langsam vollziehen. Sie werden mit einer weiteren Generation nicht abgeschlossen sein, sondern weiter das gesamte Deutschland prägen.
Die Frage nach Ostdeutschen in den Eliten ist – wie die Unterrepräsentation von größeren Bevölkerungsgruppen generell – in mehreren Problemdimensionen für die Gesellschaft relevant. Die Politikwissenschaften führen diesbezüglich zu interessanten Kategorien:
- Die Legitimität der Demokratie fußt wesentlich darauf, dass es ein Prinzip der Chancengleichheit gibt. Dass Menschen also bei gleicher Motivation und gleicher Leistung die gleichen Chancen haben. Die Chance auf Aufstieg und zum Erreichen einer Eliteposition gehört dazu. Die Unterrepräsentation der Ostdeutschen in diesen Positionen kann auf eine Verletzung dieses Prinzips hinweisen.
- Ein Verzicht auf ostdeutsche Erfahrungen kann die Funktionalität bei Entscheidungsprozessen einschränken. Die Umbruchserfahrungen, die Erfahrungen von Deindustrialisierung und demografischen Herausforderungen, gehören ebenso dazu wie die kleinteiligere Wirtschaftsstruktur in Ostdeutschland und die damit möglicherweise geringere Abhängigkeit von den Weltmärkten, die gesamtgesellschaftlich wertvolle Erfahrungen sein können.
- Die Repräsentation umfasst zwei Komponenten: Die deskriptive Repräsentation stellt die Widerspiegelung der Sozialstruktur einer Gesellschaft bei ihren Entscheidungsträgern dar. Die substanzielle Repräsentation spiegelt die Realisierung gruppenspezifischer Interessen in den politischen Entscheidungen wider. Der in der Berichterstattung über Ostdeutschland häufig zu hörende Vorwurf von Menschen, nicht gehört zu werden, keinen Einfluss zu haben, nicht gesehen zu werden, ist die gesellschaftliche Ausdrucksform, die den politischen Rändern ihren Nährboden verleiht.
- Die Sozialintegration, die beschreibt, inwieweit Gruppen in die Gesamtgesellschaft einbezogen werden oder sich an diese anpassen. Die Unterrepräsentanz der Ostdeutschen könnte hier ein Indiz für die Wahrnehmung von Ungleichheiten sein. Dass spezielle Erwerbsbiografien zu speziellen Rentenfragen führen und das Fehlen von vererbtem und geerbtem Vermögen demografische Folgen hat, muss eine integrierende Gesellschaft erkennen.
Diese Problemdimensionen werden immer wieder berührt, wenn es in Debattenbeiträgen darum geht, warum der Osten anders tickt, anders wählt oder schlicht anders ist als der Westen – der dann wiederum implizit als Referenzpunkt für das „Normale“ herhält. In diesen Beiträgen wird in den letzten Jahren mit hoher Kontinuität hinterfragt, warum sich viele Ostdeutsche noch immer als Bürger zweiter Klasse fühlen, inwieweit die Unterrepräsentation von ostdeutschen Personen und Themen in der Politik an sich ein Problem darstellt oder warum sich die Ostdeutschen noch nicht in allen Einstellungs- und Handlungsmustern an die Westdeutschen angepasst haben.
Eine adäquate Repräsentanz ist dabei eine Antwort. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass diese nicht so ohne Weiteres herzustellen ist. Die Unterrepräsentanz ist keineswegs das Ergebnis eines Vormachtstrebens oder der konsequenten Verweigerung der etablierten Strukturen. Parallel zu dieser Zuwanderung aus den alten Bundesländern erlebte Ostdeutschland eine weit dramatischere Abwanderung, besonders stark in den Jahren nach der Wiedervereinigung und um die Jahrtausendwende. Von den rund eineinhalb Millionen Menschen waren es vor allem die 18- bis 30-Jährigen, die bis zum Jahr 2000 aus dem Osten in den Westen übergesiedelt sind. Mit diesen jungen, gut ausgebildeten Menschen ging Ostdeutschland in den letzten Jahrzehnten ein Potenzial an Führungskräften verloren, welche durch ihr heutiges Alter und durch ihr in der Tendenz höheres Bildungsniveau eigentlich gerade an der Schwelle stehen, für Elitepositionen infrage zu kommen. Ein weiterer Faktor ist das geringere Vorhandensein von Elitepositionen: Selbst die Aufstockung des Dax auf 40 Unternehmen im Jahr 2021 hat nicht dazu geführt, dass ein einziges Dax-Unternehmen seinen Sitz in Ostdeutschland hat. Ein Dax-Vorstand im Osten zu werden ist also nicht möglich. Das nach wie vor geringere Einkommensniveau, die regionale Verteilung der großen Bundesbehörden tun ein Übriges. Zugleich bieten diese Faktoren aber Ansatzpunkte, die ein deutlich größeres Wirkungspotenzial haben könnten, als es die gelegentlich auch geforderte Quote wohl hätte.
Die Beschäftigung mit ostdeutschen Eliten führt immer wieder zu einem Kuriosum, was zugleich zeigt, wie tiefgreifend die Elitenfrage mit der Funktionalität der Gesellschaft verbunden ist: Innerhalb der unterrepräsentierten Gruppe der Ostdeutschen sind die Frauen überrepräsentiert. Von den je nach Erhebungszeit zwei bis drei Vorständen in deutschen Dax-Unternehmen sind die Mehrheit Frauen und selbst den zeitweise ersten, einzigen Generalsrang in der Bundeswehr bekleidete eine Frau. Wirklich Sorgen machen müssen wir uns um den ostdeutschen Mann.

Olaf Jacobs spürt den Besitzverhältnissen in Ostdeutschland nach. Abbildung: Hoferichter & Jacobs GmbH
Neue Linien
Ich bin sicher, dass in einer Gesellschaft, die in einem Ausmaß segmentiert ist, wie es unsere heutige ist, es eine Aufgabe von Journalisten ist, genau hinzuschauen und darauf zu achten, dass möglichst viele Perspektiven und gesellschaftliche Gruppen gehört werden. Jede einzelne Perspektive hat etwas einzubringen und der Austausch ist Voraussetzung für einen notwendigen gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Die Kategorie „ostdeutsch oder nicht“ verliert dabei an Bedeutung, weil sie überlagert wird von Differenzen zwischen Stadt und Land, zwischen arm und reich, zwischen Gehörten und Ungehörten. Doch erstaunlich oft werden diese neuen Trennlinien überlagert von denen der alten deutschen Teilung. Die Umrisse der ehemaligen DDR bleiben auf diesen Karten sichtbar. Wir alle tun gut daran, die Erfahrungen, die Menschen mit dieser Geschichte oder nachfolgend mit dem Erbe dieser Prägungen gemacht haben, als Wert zu verstehen, der Aufmerksamkeit verdient.
Eine Spurensuche der Zukunft in der Gegenwart kann ohne die Kenntnis der Vergangenheit nur halb so gute Ergebnisse liefern. Das aus der ostdeutschen Geschichte nach 1990 Gelernte lässt mich voll Vorfreude und Gelassenheit auf die Zukunft schauen.

Anteil Ostdeutscher in Elitepositionen in Ostdeutschland. Abbildung: Hoferichter & Jacobs GmbH

Anteil Ostdeutscher in Top-Elitepositionen in Deutschland. Abbildung: Hoferichter & Jacobs GmbH
Prof. Olaf Jacobs
GEBOREN: 1972/Leipzig
WOHNORTE (aktuell): Leipzig
MEIN BUCHTIPP: Alexander Osang: „Aufsteiger, Absteiger“, 1992
MEIN FILMTIPP: „DDR ahoi!“, 2010
MEIN URLAUBSTIPP: Kleinseenplatte zwischen Mirow und Wesenberg
![]() „Denke ich an Ostdeutschland ...“In der Beziehung von Ost- und Westdeutschland ist auch 35 Jahre nach dem Mauerfall noch ein Knoten. Dieser Sammelband will einen Beitrag dazu leisten, ihn zu lösen. Die 60 Autorinnen und Autoren geben in ihren Beiträgen wichtige Impulse für eine gemeinsame Zukunft. Sie zeigen Chancen auf und skizzieren Perspektiven, scheuen sich aber auch nicht, Herausforderungen zu benennen. Die „Impulsgeberinnen und Impulsgeber für Ostdeutschland“ erzählen Geschichten und schildern Sachverhalte, die aufklären, Mut machen sowie ein positives, konstruktiv nach vorn schauendes Narrativ für Ostdeutschland bilden. „Denke ich an Ostdeutschland ... Impulse für eine gemeinsame Zukunft“, Frank und Robert Nehring (Hgg.), PRIMA VIER Nehring Verlag, Berlin 2024, 224 S., DIN A4. Als Hardcover und E-Book hier erhältlich. |