Stefan Kapferer, Vorsitzender der Geschäftsführung von 50Hertz, ist ein wichtiger Impulsgeber für Ostdeutschland. Er setzt sich ein für Vergewisserung, Verständigung und Versöhnung. Mit diesem Beitrag ist er auch in dem Sammelband „Denke ich an Ostdeutschland ...“ vertreten.
Denke ich an Ostdeutschland, dann denke ich zuerst an Energie, genauer gesagt: an elektrische Energie. Das liegt auf der Hand. 50Hertz ist dafür verantwortlich, im Osten Deutschlands rund um die Uhr Strom dorthin zu transportieren, wo er gebraucht wird. Außerdem halten wir als einer von vier deutschen Übertragungsnetzbetreibern in unserer sogenannten Regelzone die Einspeisung und die Entnahme von Strom jederzeit im Gleichgewicht. System- und Netzstabilität sind die Grundvoraussetzung für eine sichere und stabile Stromversorgung der Bevölkerung und der Wirtschaft.
Im Einklang mit europäischen und deutschen Klimaschutzzielen haben wir bei 50Hertz das strategische Ziel, bis zum Jahr 2032 den Jahresstromverbrauch in unserem Netzgebiet zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energieträgern zu decken. Wir selbst erzeugen keinen Strom. Wir können jedoch durch Netzausbau, Digitalisierung, kluge Systemintegration und vor allem durch Kooperationen mit anderen Akteuren in Politik und Wirtschaft an wichtigen Stellschrauben drehen. Dabei sind wir auf einem guten Weg. 2023 lag der Anteil des Stroms aus erneuerbaren Energien in der Regelzone von 50Hertz bereits bei 72 Prozent. Das ist weltweit ein Spitzenwert, was insbesondere die Integration der schwankenden Stromerzeugung aus Windkraft- und Fotovoltaikanlagen betrifft.
Der Osten Deutschlands ist bereits heute ein „Grünes Kraftwerk“ in Europa. An vielen Tagen im Jahr werden hier Überschüsse erzeugt, die über Kuppelstellen in benachbarte Regelzonen fließen. Der Ausbau der erneuerbaren Energien wird und muss sich beschleunigen, denn mit Hilfe von Strom sollen auch andere Sektoren dekarbonisiert werden, die derzeit noch für hohe CO2-Emissionen verantwortlich sind.
Wer hätte so etwas für möglich gehalten in den Jahren nach der deutschen Wiedervereinigung? Strom fast ausschließlich aus Windrädern und Solaranlagen? Verrückt! Spinnerei! Utopie! Damals war die Braunkohle der dominierende Energieträger im Osten Deutschlands. Die Kraftwerke im Lausitzer und im Mitteldeutschen Revier liefen auf Hochtouren. Aus den Tagebauen schürften gewaltige Bagger die Braunkohle nicht nur zur Verstromung. Der energiearme Brennstoff wurde auch in Millionen von Öfen und Gemeinschaftsheizungen verfeuert. Heute wirken die rauchenden Schornsteine der letzten verbliebenen Braunkohlekraftwerke in Jänschwalde, Boxberg, Schwarze Pumpe, Schkopau und Lippendorf wie Industrieveteranen. Auch wenn wir auf ihre Stromerzeugung derzeit noch angewiesen sind – ihre Lebensjahre sind gezählt.

In den fünf Regionalzentren und im Berliner Netzquartier arbeiten Menschen aus 37 Nationen. Abbildung: 50Hertz
Umbrüche und Aufbrüche
Das ist für mich nur der eine – von meinem Berufsleben geprägte – Aspekt. Wenn ich an Ostdeutschland denke, dann denke ich aber auch an die Verwerfungen, die das Leben vieler Menschen im Osten geprägt haben. Ich selbst stamme aus Karlsruhe, einer beschaulichen Stadt in einer sonnigen Gegend. Wir haben dort das Staatsweingut Durlach und das Bundesverfassungsgericht. Das größte Unternehmen ist die Universität mit dem Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Massenarbeitslosigkeit, Zusammenbruch von Strukturen, Abwanderung, Perspektivlosigkeit – das kennt man dort nur aus dem Fernsehen.
Im Osten ist das anders. Der Osten ist geprägt vom Umbruch der Systeme. Viele der älteren Kollegen sind „Netzer“ aus Leidenschaft. Manche kennen sich bereits aus dem Kindergarten. Schon ihre Eltern arbeiteten im VEB Verbundnetz Elektroenergie, in der Hauptlastverteilung oder angegliederten volkseigenen Betrieben. Nach der Wende wurden viele von ihnen in die von der Treuhandgesellschaft gegründeten Vereinigten Energiewerke (VEAG) übernommen. 2002 kamen sie zur Vattenfall Transmission. Im Zuge der Liberalisierung der europäischen Strommärkte und der Entflechtung von Erzeugung, Vertrieb und Transport erfolgte 2010 die Umfirmierung zu 50Hertz Transmission mit dem neuen Haupteigentümer, der Elia Group aus Belgien.
Auf diesem langen Weg haben viele Menschen ihre Jobs verloren. Der Übertragungsnetzbetrieb schrumpfte in den Nachwendejahren auf das, was noch unbedingt nötig war. Netze zu betreiben, das galt in der Energiebranche der 1990er-Jahre als wenig sexy. Totes Kapital, keine Dynamik – schon gar nicht im Osten. Die Groß- und Schwerindustrie der DDR war fast vollständig zusammengebrochen. Viele Menschen verließen ihre Heimat und zogen in den Westen – wozu brauchte es da noch viele Stromverbindungen?
Freileitungen wurden abmontiert, Trassenrechte aufgegeben, Transformatoren sowjetischer Bauart wurden verschrottet. Der Niedergang der Wirtschaft im Osten fand seine Entsprechung im Niedergang der Übertragungsnetze.
Wenn unsere älteren Kollegen bei 50Hertz davon berichten, dann hört sich das für die Jüngeren an wie Geschichten aus Willi Schwabes Rumpelkammer, einer beliebten Serie des DDR-Fernsehens: Improvisieren, wenn mal wieder Material für Reparaturen fehlte. Die Zitterpartien, wenn in einem harten Winter der Braunkohlenachschub ins Stocken und damit die Stromversorgung in Gefahr geriet. Die Angst vor Jobverlust in den Jahren nach der politischen und 1995 erfolgten elektrotechnischen Wiedervereinigung. Die Ungewissheit, wie es mit dem Energiestandort Ostdeutschland weitergeht. Das sind Geschichten, die das Leben von vielen Mitarbeitenden bei 50Hertz geprägt haben.
Grünes Wachstum und ein neuer Spirit
Die neue Generation, die jetzt bei uns arbeitet, trägt Hoodies, Sneaker und Tattoo. Keiner von ihnen ist jemals auf einen 50 m hohen Strommasten geklettert und hat – unter Höchstspannung! – Wartungsarbeiten an einer Freileitung durchgeführt. Stattdessen entwickeln die jungen Frauen und Männer Apps für Flugdrohnen oder Roboterhunde, um die Wartung unserer Assets zu erleichtern. Sie chatten mit dem Silicon Valley und arbeiten nicht nach strikten Anweisungen in Hierarchien, sondern in agilen Sprintteams. Der kulturelle und demografische Wandel, den unser Traditionsunternehmen durchläuft, ist enorm.
50Hertz ist ein wachsendes, nach Europa orientiertes Unternehmen mit rund 1.800 Mitarbeitenden. In Kürze werden es über 2.000 sein. Der Anteil von Frauen in Führungspositionen beträgt 25 Prozent – Tendenz steigend. Unser Personal kommt von überall her: Für uns arbeiten Menschen aus 37 Nationen, sei es im Berliner Netzquartier oder in einem unserer fünf Regionalzentren.
Dieser unternehmensinterne Wandel spiegelt wider, was im Netzgebiet selbst passiert. Der Osten Deutschlands entwickelt sich zu einem der interessantesten Wirtschaftsstandorte Europas. Ein Grund für die Attraktivität ist der sichere Zugang zu grüner Energie. In einer vom Helmholtz-Zentrum Potsdam durchgeführten aktuellen Studie gaben 92 Prozent der befragten 300 Manager der 50 größten Chemie- und Stahlunternehmen weltweit an, dass die Nutzung von erneuerbaren Energien der wichtigste Faktor bei Investitions- und Standortentscheidungen sei.
Solche Zahlen lassen uns als Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) aufhorchen. Die Realisierung von Netzinfrastrukturprojekten hat einen großen planungs- und genehmigungsrechtlichen Vorlauf. Daher müssen wir möglichst frühzeitig den Strombedarf und die potenziellen Erzeugungskapazitäten in einzelnen Regionen kennen, um darauf eine möglichst effiziente Bauplanung mit Umspannwerken, neuen oder stärkeren Leitungen sowie innovativen netztechnischen Betriebsmitteln aufzusetzen. Der Netzentwicklungsplan Strom (NEP Strom), der alle zwei Jahre gemeinsam von den vier ÜNB erstellt wird, ist eine solche Grundlage.

Der Ausbau der erneuerbaren Energien wird und muss sich beschleunigen. 50Hertz treibt den Netzausbau voran. Abbildung: 50Hertz
Neue Trassen und Transformatoren
Als unsere Netzplaner Anfang 2023 ihren ersten Entwurf für den aktuellen NEP vorlegten, der erstmals ein sogenanntes Klimaneutralitätsnetz mit den Bezugsjahren 2037 und 2045 skizzierte, war das Erstaunen unter den Fachleuten groß. Bei den Lastflussberechnungen, die mithilfe komplexer Algorithmen durchgeführt und ständig gegengecheckt werden, tauchte plötzlich eine leistungsstarke Gleichstromverbindung auf, die nicht in gewohnter Nord-Süd-, sondern in Nord-Ost-Richtung verlief: von der niedersächsischen Nordseeküste bis nach Sachsen. Auch im zweiten Entwurf und in der Überprüfung durch die Bundesnetzagentur (BNetzA) hat sich der Bedarf für diese Leitung bestätigt, sodass sie aller Voraussicht nach im Bundesbedarfsplan gesetzlich verankert wird. Allein dieses Beispiel zeigt, dass sich in den Industrieregionen des Ostens eine wirtschaftliche Entwicklung anbahnt, von der wir bisher nur Vorboten sehen. So wuchs das Bruttoinlandsprodukt in Mecklenburg-Vorpommern im Jahr 2023 um 3,3 Prozent – so stark wie in keinem anderen Bundesland. An zweiter und dritter Stelle rangieren Brandenburg und Berlin. Dagegen verzeichneten die Statistiker einen bundesweiten Rückgang um 0,3 Prozent.
Als Übertragungsnetzbetreiber stellen wir uns darauf ein, den zukünftigen Strombedarf in diesen Wachstumsregionen jederzeit – möglichst mit Strom aus erneuerbaren Energien – decken zu können. Es wäre fatal, wenn eine wirtschaftliche Entwicklung an fehlenden Anschlusskapazitäten oder Leitungen scheitert. Denn Stromnetze und wirtschaftliches Wachstum sind zwei Seiten einer Medaille.
Leistungsstarke neue Gleichstromverbindungen werden zukünftig Strom von den Zentren der Erneuerbaren-Produktion in die Zentren des Verbrauchs transportieren. Und der Osten Deutschlands wird beides zugleich sein – Erzeugerland und Verbrauchsland. Aufgrund von Bedarfsabfragen in Industrie und Wirtschaft sowie bei Kommunen und Stadtwerken können wir schon heute sehen, dass es im Osten Deutschlands zukünftig einen großen Bedarf an Strom und an Wasserstoff und damit an Elektrolysekapazitäten geben wird.
Um diesen zukünftigen Bedarf decken zu können, sind in unserem Netzgebiet allein an Land rund 2.000 km neue oder verstärkte Leitungen in bestehenden Trassen erforderlich. Wir bauen in Kooperation mit den Verteilnetzbetreibern neue Umspannwerke, damit die neuen Chipfabriken bei Magdeburg und Dresden überhaupt produzieren können. Wir schaffen also die Voraussetzung für ein nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum im Osten Deutschlands.
Denke ich an Ostdeutschland, dann denke ich also an eine Region, die sich mithilfe der erneuerbaren Energien und anderer innovativer Technologien zu einem international geprägten Wirtschaftsstandort entwickelt und die dadurch noch lebenswerter wird, als sie das heute schon ist. Ich glaube, dass diese Region eine gute Zukunft vor sich hat.

Der kulturelle und demografische Wandel, den das Traditionsunternehmen 50Hertz durchläuft, ist enorm. Abbildung: 50Hertz
50Hertz
GEGRÜNDET: 2010 (vorher Vattenfall Transmission)
STANDORT: Berlin
MITARBEITENDE: über 1.800
WEBSITE: 50hertz.com
Stefan Kapferer
GEBOREN: 1965/Karlsruhe
WOHNORT (aktuell): Berlin
MEIN BUCHTIPP: Ulrich Plenzdorf: „Die neuen Leiden des Jungen Werther“, 1972
MEIN FILMTIPP: „Die Spur der Steine“, 1966
MEIN URLAUBSTIPP: Biosphärenreservat Schorfheide
![]() „Denke ich an Ostdeutschland ...“In der Beziehung von Ost- und Westdeutschland ist auch 35 Jahre nach dem Mauerfall noch ein Knoten. Dieser Sammelband will einen Beitrag dazu leisten, ihn zu lösen. Die 60 Autorinnen und Autoren geben in ihren Beiträgen wichtige Impulse für eine gemeinsame Zukunft. Sie zeigen Chancen auf und skizzieren Perspektiven, scheuen sich aber auch nicht, Herausforderungen zu benennen. Die „Impulsgeberinnen und Impulsgeber für Ostdeutschland“ erzählen Geschichten und schildern Sachverhalte, die aufklären, Mut machen sowie ein positives, konstruktiv nach vorn schauendes Narrativ für Ostdeutschland bilden. „Denke ich an Ostdeutschland ... Impulse für eine gemeinsame Zukunft“, Frank und Robert Nehring (Hgg.), PRIMA VIER Nehring Verlag, Berlin 2024, 224 S., DIN A4. Als Hardcover und E-Book hier erhältlich. |