Dr. Adriana Lettrari, Mitgründerin des Netzwerk 3te Generation Ost sowie Geschäftsführerin & Vorständin der Ehrenamtsstiftung Mecklenburg-Vorpommern, ist eine wichtige Impulsgeberin für Ostdeutschland. Sie setzt sich ein für Vergewisserung, Verständigung und Versöhnung. Mit diesem Beitrag ist sie auch in dem Sammelband „Denke ich an Ostdeutschland ...“ vertreten.

Dr. Adriana Lettrari, Mitgründerin Netzwerk 3te Generation Ost, Geschäftsführerin & Vorständin Ehrenamtsstiftung Mecklenburg-Vorpommern. Abbildung: Juliane Dunckel
Wir können warten, bis etwas geschieht, oder selbst etwas tun.
Denke ich an Ostdeutschland, dann denke ich an diejenigen, die sich für die zweite Alternative entscheiden. Ich denke an die vielen bürgerschaftlich Engagierten, die ich seit meiner beruflichen Rückkehr nach Mecklenburg-Vorpommern kennengelernt habe und die sich einbringen, um das Leben in Gemeinschaft schöner zu machen. Ich denke an die Ehrenamtlichen, die Orte schaffen, um Jung und Alt zusammenzubringen, und an diejenigen, die anderen in Notlagen helfen. Allein in meinem Bundesland Mecklenburg-Vorpommern gibt es mehr als 600.000 Ehrenamtliche – das sind fast 40 Prozent der Bevölkerung. 35 Jahre nach friedlicher Revolution und Mauerfall leben wir in unruhigen Zeiten – politisch und gesellschaftlich. Die Demokratie sei generell in der Krise, so sagen einige, weil Staat und Bürger nicht mehr im vertrauensvollen Austausch seien. Wir hören einander nicht mehr zu, fühlen uns entfremdet, behaupten andere. So entstünden Misstrauen, Frust, Konflikte. Dieser Tenor prägt viele der politischen Debatten in und um Ostdeutschland in diesem Sternjahr der Demokratie. Ohne die Herausforderungen in Abrede zu stellen: Ich bin dankbar, dass ich jeden Tag ein vielschichtigeres Bild sehe. Ich erlebe engagierte Menschen, die den Blick auf Lösungen lenken. Die ihre Gestaltungsmacht annehmen und sie für die inklusive Gemeinschaft einsetzen. Das Ehrenamt prägt zahlreiche Bereiche unseres Lebens und sorgt maßgeblich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Der freiwillige Einsatz der Engagierten ist nicht selbstverständlich. Umso wichtiger ist, herauszufinden, an welchen Stellen Ehrenamtliche der Unterstützung bedürfen und wie wir diese anbieten können. Dafür müssen wir zunächst die DNA der Leidenschaft von Ehrenamtlichen gut verstehen.
Die Erfahrung, etwas gemeinsam zu bewegen, kann Menschen stärken und Zuversicht schaffen. Denn im Ehrenamt sind Menschen Gestalter, Entscheider, mündige Bürgerinnen und Bürger.”
Durch das Ehrenamt wachsen
Ehrenamtliches Engagement prägt den Raum zwischen Familie und Beruf. Hier kann man über sich hinauswachsen und Rollen übernehmen, die beruflich (noch) nicht möglich sind. Ehrenamt bedeutet dabei oft ein Wachsen über sich selbst hinaus. Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren, bauen vorhandene Kompetenzen aus und erlernen neue. Die Jugendlichen, die eine Skatehalle für Kinder einrichten, die Dorfbewohner, die einen überwucherten Pfarrgarten wieder zu einem Begegnungsort machen: Sie planen Projekte, arbeiten im Team, suchen Unterstützung und überzeugen andere. Die Kompetenzen, die in diesen Gestaltungsprozessen erworben werden, sind universell und genauso im beruflichen wie im privaten Bereich nützlich. Im Ehrenamt kann man sie in jedem Lebensalter weiterentwickeln. Ein ganz besonderer Kompetenzbooster ist dabei die Führung eines Vereins. Vorstände agieren als Gleiche unter Gleichen. Sie müssen sich allein durch Führungskompetenzen behaupten, um den Verein erfolgreich leiten zu können. Wie sehr bürgerschaftliches Engagement das eigene Leben beeinflussen kann, habe ich selbst erlebt. Nach der Schule verschlug es mich von Rostock zu Ausbildung, Studium und Beruf nach Hamburg, Berlin, Tansania, Zürich und wieder zurück nach Berlin. Mit 30 Jahren gründete ich zusammen mit anderen das „Netzwerk 3te Generation Ost“. Unser Ziel war es, der jüngsten noch in der DDR geborenen Generation eine Stimme zu geben und in der Debatte um Ostdeutschland neue Impulse zu setzen. Es ging uns darum, erfolgreiche ostdeutsche Lebenswege zu zeigen und die Transformationskompetenz dieser „3ten Generation Ost“ sichtbar zu machen.
Die Idee zündete. Viele Hunderte Ostdeutsche aus allen Ländern, in die sie abgewandert waren, und aus Ostdeutschland selbst schlossen sich dem Netzwerk an. Zusammen galt es für uns nun, geeignete Strukturen der Zusammenarbeit zu finden, attraktive Formate zu entwickeln, unsere Idee in die Öffentlichkeit zu tragen, Presseinterviews gelungen zu meistern, Mitglieder und Fördernde zu finden und vieles mehr. Das war bereichernd, oft auch ordentlich herausfordernd. Aber in diesem Prozess bin ich über mich hinausgewachsen und mehr geworden, als ich es für möglich gehalten hätte. Ich glaube, vielen geht es in der persönlichen Geschichte ihres Ehrenamtes genauso. Auch wenn ich heute nur noch ein Mitglied des Netzwerks bin: Die Erfahrung ehrenamtlichen Engagements hat mich persönlich und beruflich tief geprägt. Heute lebe ich in Berlin und Güstrow. In Güstrow habe ich als geschäftsführende Vorständin der Ehrenamtsstiftung Mecklenburg-Vorpommern meinen Gestaltungsraum gefunden und kann Menschen in ihrem Ehrenamt unterstützen. Mit einem professionellen Team stehen wir bürgerschaftlich Engagierten mit Know-how, juristischer Beratung, Weiterbildung, Vernetzung und finanziellen Mitteln so zur Seite, dass sie ihr nächstes Level der Vereinsarbeit erreichen können.

Befragung zum Ehrenamt in Mecklenburg-Vorpommern 2022. Abbildung: Ehrenamtsstiftung Mecklenburg-Vorpommern
Unterstützung Ehrenamtlicher
Davon wird rege Gebrauch gemacht. Denn viele der über 12.150 Vereine in Mecklenburg-Vorpommern sind klein und rein ehrenamtlich organisiert. Gerade im ländlichen Raum gehört es für viele dazu, sich vor Ort zu engagieren. Hier entsteht das Wir-Gefühl, hier kommt man zusammen, um Sport, Kunst, Kultur oder neue, solidarische Formen der Landwirtschaft zu organisieren. Fragt man Ehrenamtliche, warum sie sich engagieren, lauten die häufigsten Antworten: Spaß haben, einen Ausgleich finden, etwas Sinnvolles tun. Etwas gemeinsam zu tun, das verbindet. Einige Ehrenamtliche finden in dieser Gemeinschaft ein emotionales Zuhause und eine zweite Familie – ein schöner Gegenentwurf zur grassierenden Einsamkeitspandemie in Deutschland. Das Gefühl, gebraucht zu werden und positive Veränderungen zu bewirken, trägt maßgeblich zu einem erfüllten Leben bei. Die Erfahrung, etwas gemeinsam zu bewegen, kann Menschen stärken und Zuversicht schaffen. Denn im Ehrenamt sind Menschen Gestalter, Entscheider, mündige Bürgerinnen und Bürger. Diese (Selbst-)Wirksamkeit kann auch eine Antwort sein, auf die von einigen Menschen in Ostdeutschland gefühlte Ohnmacht gegenüber der Politik und dem allgemeinen Weltgeschehen. Es überrascht daher nicht, dass Menschen, die sich bereits in frühen Jahren als selbstwirksam im Ehrenamt erleben, laut Studien der Demokratie zugewandter sind und ein Grundgefühl von demokratischem Miteinander entwickelt haben. Zusammen mit dem Team der Ehrenamtsstiftung Mecklenburg-Vorpommern kann ich vor Ort daher gelebte Demokratie unterstützen und das wiederum begeistert mich.
Wie unterstützen wir in der Ehrenamtsstiftung Mecklenburg-Vorpommern ehrenamtliches Engagement konkret? Indem wir uns in der Vereinslandschaft umschauen und fragen: Wo drückt der Schuh ganz spezifisch? Und für diese Probleme bieten wir Unterstützung an. Wir ermöglichen den Blick „Wie gehen andere mit diesem Problem um?“, indem wir lokalen und regionalen Austausch von Akteuren ermöglichen. Wir machen die Wirkung von Engagement sichtbar und tragen dazu bei, die gesellschaftliche Wertschätzung von Ehrenamt zu erhöhen. Nicht zuletzt unterstützen wir Vereine auch finanziell, zum Beispiel bei der Anschaffung neuer Kleidung für die Kinderfeuerwehr oder der Renovierung eines Kinderbuchraums in einer Stadtbibliothek.

Was sind die dringlichsten Herausforderungen in Ihrer Organisation? Abbildung: Ehrenamtsstiftung Mecklenburg-Vorpommern
Förderung mit Kopf, Herz und Evidenz
Bislang gab es nur wenig Forschung, die die aktuelle Lage des Ehrenamts in Mecklenburg-Vorpommern widerspiegelt. Keine gute Grundlage, um passgenaue Unterstützungsleistungen zu entwickeln. Mit dem Ehrenamtsmonitor Mecklenburg-Vorpommern erheben und identifizieren wir die drängenden Bedürfnisse der Ehrenamtlichen und kreieren entsprechende Angebote. Zusammen mit der OstseeSparkasse Rostock (OSPA) haben wir beispielsweise jüngst ein Führungskräfteprogramm für Vereinsvorstände entwickelt. Es richtet sich insbesondere an junge Vereinsvorstände und diejenigen, die es werden möchten. Die Erkenntnisse aus unserem Ehrenamtsmonitor zeigen, dass 90 Prozent der Vereine in Mecklenburg-Vorpommern Probleme haben, neue Engagierte zu gewinnen und 65 Prozent den Generationswechsel als große Herausforderung sehen. Vereinsengagement muss also attraktiver werden und für Vorstände ist es wichtig, über die notwendigen Führungsfähigkeiten zu verfügen. Das zehnmonatige, kostenfreie Programm ist ein Persönlichkeitsentwicklungsprogramm. Es bietet eine kontinuierliche Begleitung mit dem Fokus auf Führungskompetenzen, Entscheidungsfindung und Strategieentwicklung. Gleichzeitig müssen sich Vereine zukunftsfähig aufstellen, wenn sie neue Mitglieder begeistern wollen. Dazu haben wir mit dem Wirtschaftsmagazin Neue Narrative einen neuen Beratungsansatz entwickelt. Dieser findet sich in einem Toolbook für die Organisationsentwicklung wieder, von dem zukünftig alle Vereine profitieren können. Zusätzlich bekommen 40 Vereine von uns ein Jahr lang eine Förderung, um das Thema mit externer Beratung umzusetzen.
Und wir möchten den vielen bürgerschaftlich Engagierten danken und ihre Arbeit öffentlich wertschätzen. Die Ehrenamtskarte Mecklenburg-Vorpommern, die für bisher 10.000 Ehrenamtliche bei über 300 Partnern Vergünstigungen oder ein Dankeschön bereithält, unterstützt jene, die sich mit Zeit, Kraft, Ideen und Herz engagieren. Wann immer es geht, werden die Ehrenamtskarten in einem würdigen Rahmen übergeben, um den oft hinter den Kulissen agierenden Engagierten eine Bühne zu bieten. Ja, wir können warten, bis etwas geschieht, oder selbst etwas tun. 2025 wird die Ehrenamtsstiftung Mecklenburg-Vorpommern zehn Jahre alt. Seit fast einem Jahrzehnt unterstützen wir mit Leidenschaft alle, die sich für die zweite Alternative entscheiden. Zusammen mit den vielen Vereinen wollen wir weiter die Zukunft von Mecklenburg-Vorpommern mitgestalten. Unseren Beitrag sehen wir darin, bürgerschaftliches Engagement und Ehrenamt innovativ und evidenzbasiert mit maßgeschneiderten Angeboten im Rahmen einer 360-Grad-Beratung zu fördern und zu entwickeln. Dieser Leidenschaft gehen wir mit der Ehrenamtsstiftung Mecklenburg-Vorpommern nach und laden ein, sich nicht nur in Ostdeutschland von dieser zeitgemäßen Engagementförderung inspirieren zu lassen.

So viel Engagementförderung nehmen Organisationen in Anspruch. Abbildung: Ehrenamtsstiftung Mecklenburg-Vorpommern
Dr. Adriana Lettrari
GEBOREN: 1979/Neustrelitz
WOHNORTE (aktuell): Berlin, Güstrow
MEIN BUCHTIPP: Lettrari, Nestler, Troi-Boeck: „Die Generation der Wendekinder: Elaboration eines Forschungsfeldes“, 2015
MEIN FILMTIPP: „Alle reden übers Wetter“, 2022
MEIN URLAUBSTIPP: Ostseebad Ahrenshoop
![]() „Denke ich an Ostdeutschland ...“In der Beziehung von Ost- und Westdeutschland ist auch 35 Jahre nach dem Mauerfall noch ein Knoten. Dieser Sammelband will einen Beitrag dazu leisten, ihn zu lösen. Die 60 Autorinnen und Autoren geben in ihren Beiträgen wichtige Impulse für eine gemeinsame Zukunft. Sie zeigen Chancen auf und skizzieren Perspektiven, scheuen sich aber auch nicht, Herausforderungen zu benennen. Die „Impulsgeberinnen und Impulsgeber für Ostdeutschland“ erzählen Geschichten und schildern Sachverhalte, die aufklären, Mut machen sowie ein positives, konstruktiv nach vorn schauendes Narrativ für Ostdeutschland bilden. „Denke ich an Ostdeutschland ... Impulse für eine gemeinsame Zukunft“, Frank und Robert Nehring (Hgg.), PRIMA VIER Nehring Verlag, Berlin 2024, 224 S., DIN A4. Als Hardcover und E-Book hier erhältlich. |