Dr. Stephan Lowis, der Vorstandsvorsitzende der envia Mitteldeutsche Energie AG, ist ein wichtiger Impulsgeber für Ostdeutschland. Er setzt sich ein für Vergewisserung, Verständigung und Versöhnung. Mit diesem Beitrag ist er auch in dem Sammelband „Denke ich an Ostdeutschland ...“ vertreten.

Dr. Stephan Lowis, Vorstandsvorsitzender envia Mitteldeutsche Energie AG. Abbildung: enviaM
„Ziehst du mit deiner Familie in den Osten?“ Das war immer wieder die erste Frage, die mir Freunde oder Kollegen gestellt haben, als sie erfuhren, dass ich meine neue Aufgabe in der enviaMGruppe übernehme. Manchmal kam die Frage wertfrei, manchmal konnte man die Vorurteile hinter der Frage allerdings schon im Gesicht des Gegenübers ablesen. Aufgewachsen im Westen, mit jetzigem Lebensmittelpunkt mitten im Osten, war es für mich schon sehr früh eine wichtige Erfahrung, wie sehr das Thema „Ostdeutschland“ Menschen beschäftigt.
Mein Name ist Stephan Lowis. Ich bin seit 2018 CEO der enviaMGruppe. Als führender regionaler Energiedienstleister in Ostdeutschland versorgen wir mehr als 1,2 Millionen Kunden mit Strom, Gas, Wärme und Energiedienstleistungen. Zur Unternehmensgruppe mit rund 3.800 Beschäftigten gehören die envia Mitteldeutsche Energie AG (enviaM) mit Sitz in Chemnitz sowie weitere Gesellschaften, an denen enviaM mehrheitlich beteiligt ist. Anteilseigner von enviaM sind mehrheitlich die E.ON SE sowie rund 650 ostdeutsche Kommunen. Unser Netzgebiet erstreckt sich über Teile von Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. An unser rund 71.000 Kilometer langes Stromnetz sind rund 2,2 Millionen Einwohner angeschlossen. Kurz: Wir sind der Osten!
Ich bin seit fast 20 Jahren in der Energiewirtschaft tätig. Bereits vor der Zeit bei enviaM war ich bei einem Vorgängerunternehmen von E.ON in Nordrhein-Westfalen tätig. Dort bin ich aufgewachsen, habe studiert und gearbeitet. 2018 bin ich bewusst nach Ostdeutschland gegangen, denn ich kenne die enviaM-Gruppe als relevanten Wachstumsträger und effizienten Gestalter der Energiewende vor Ort. Für mich war wesentlich, was ich für die Gruppe erreichen kann und wie ich das Unternehmen bei der Transformation in Energiewendezeiten begleiten darf. Was ich hier liebe: Die Mischung stimmt und es ist nicht so anonym. Da wohnt Herr Meier neben Frau Müller und man redet ganz normal miteinander. Viel weniger „Bling-Bling“ als in Berlin, Düsseldorf oder München, ohne jemandem zu nahe zu treten. Der Osten ist eher bodenständig, so wie das Ruhrgebiet oder auch Köln. Dafür spürt man mehr echtes Interesse. Wer hier herzieht, kann wirklich ankommen und sich zu Hause fühlen, ohne die Heimat zu verleugnen. Meine Familie lebt mit mir hier vor Ort, mitten in unserem Versorgungsgebiet.
Der demografische, aber auch der strukturelle Wandel sind gerade in Ostdeutschland stark zu spüren. [...] Die Herausforderungen sind immens, aber immer spannend.”
Wir sitzen auf einem Schatz
Mein Ziel als CEO war von Anfang an, die Energiewende in Ostdeutschland voranzutreiben und eine nachhaltige Energieversorgung zu gewährleisten. Die erste Erneuerbare-Energien-Anlage, eine Solaranlage, wurde übrigens bereits 1992 in Harzgerode in Sachsen-Anhalt an unser Stromnetz angeschlossen. Sie funktioniert immer noch. Inzwischen haben wir die 111.111. Erneuerbare-Energien-Anlage an unser Stromnetz gebracht. Mehr als 100.000 Biomasse-, Fotovoltaik-, Wasserkraft- und Windkraftanlagen speisen inzwischen ihren Strom in das Stromnetz der enviaM-Gruppe ein. Wir sehen auch, dass jeder Einzelne zur Energiewende beitragen kann und will. Denn aktuell verzeichnen wir enorme Anstiege bei Balkonanlagen, Wärmepumpen, Batteriespeichern und Ladeboxen. Die Menschen aus der Region sind offen für erneuerbare Energien. Der daraus erzeugte Strom liegt je nach Jahr in unserem Netzgebiet bei über 100 Prozent – und zwar gemessen am Letztverbraucherabsatz. Das heißt, wir können uns rechnerisch nur aus erneuerbaren Energien versorgen.
Mithin: Wir sitzen in unserer Region auf einem Schatz! Diesen Schatz müssen wir stärker für bestehende und potenzielle Ansiedlungen nutzen. Ich sehe die Energiewende als industriepolitische Chance für Ostdeutschland und die enviaM-Gruppe!
Nichtdestotrotz steht das Stromnetz seit der Energiewende im Fokus. Denn der Ausbau der Stromnetze, für den allein die enviaM-Gruppe inzwischen rund 400 Millionen Euro pro Jahr bereitstellt, muss mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien Schritt halten. Während ein Fotovoltaikpark binnen fünf Monaten in Betrieb geht, kann das bei einer Hochspannungsleitung fünf bis zehn Jahre dauern. Erschwerend kommt hinzu, dass der in den dünn besiedelten ländlichen Räumen in Ostdeutschland im Überfluss erzeugter Strom aus erneuerbaren Energien hier bei weitem nicht verbraucht wird und in andere Regionen im In- und Ausland transportiert werden muss. Drohen die Stromleitungen an wind- und sonnenreichen Tagen überzulaufen, bleibt uns nichts anderes übrig, als Wind- und Fotovoltaikparks vorübergehend abzuschalten. Die Weiterentwicklung der Energiewende von der Strom- zur Wärme- und Verkehrswende sehe ich daher gerade für unsere Region als große Chance.
Neben dem „Energieschatz“ herrscht im Osten eine unglaubliche energiewirtschaftliche Erfahrung vor, allerdings auch eine große Bescheidenheit. Unsere Mitarbeitenden haben nie die Aufmerksamkeit auf ihre großartige Arbeit, ihr Wissen und ihre Erkenntnisse gelenkt. Dabei liegt hier ein wahrer Schatz an Expertise.
Die vielen Erkenntnisse mit dem Ausbau der Stromnetze und der zunehmenden Digitalisierung und Smartifizierung sind daher auch hier erwähnenswert. Als Beispiel nenne ich unsere schnelle Netzanschlussprüfung (SNAP). Mit SNAP hat unser Netzbetreiber Strom, die Mitteldeutsche Netzgesellschaft Strom mbH (MITNETZ STROM), den Auskunftsprozess für größere Netzanschlüsse drastisch verkürzt. Seit 2020 ist die Plattform im Einsatz. Sie liefert Aussagen zu den Anschlussmöglichkeiten nahezu in Echtzeit und gleichzeitig Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen der gesamten Anschlussinfrastruktur inklusive optimierter Trassenvorschläge für den Leitungsverlauf. SNAP ist nicht nur ein voller Erfolg, wir wüssten auch gar nicht, wie wir die seit 2019 rasant steigenden Zahlen an Anfragen größerer Erzeugungsanlagen bei den Erneuerbaren ohne diese Anwendung hätten beantworten können. Die Reise ist aber noch lange nicht zu Ende. Das System wird weiterentwickelt und soll hier auch nur stellvertretend für viele digitale Lösungen stehen, die im Labor der Energiewende in Ostdeutschland entstehen. Ganz nebenbei wurde diese tolle Idee bei einem internen Wettbewerb in der Unternehmensgruppe geboren. Oftmals sehe ich die Innovation in den Köpfen der Mitarbeitenden und versuche sie zu bestärken, neue Dinge anzugehen – auch wenn sie scheitern. Vielleicht ist das auch so ein Ostphänomen. Wir müssen stärker an uns glauben!

2023. Gründung des enviaM-Jugendbeirats für neue, innovative Ideen junger Menschen. Abbildung: enviaM
Die Perspektiven liegen vor der Haustür
Die Aufmerksamkeit beim Thema Versorgungssicherheit ist in den vergangenen Jahren mit dem Ausbruch der Coronapandemie, dem Angriffskrieg auf die Ukraine, der Energiekrise und den verbundenen Ängsten gestiegen. Zudem hat der Ausstieg aus Kernkraft und Kohle dafür gesorgt, dass sich die gesamte Bevölkerung neu orientieren muss. Und dabei ist der Osten manchmal in seiner Mentalität einfach skeptischer gegenüber großen politischen Versprechungen. Das mag an der Vorgeschichte liegen, aber das müssen wir überwinden. Beispielsweise muss der Strukturwandel im Osten gerade für die Lausitzer und das Mitteldeutsche Revier vorankommen. Die Menschen hier wollen sehen, dass die Energiewende wirklich voranschreitet und nicht auf wolkige Versprechen vertröstet werden, die weit in der Zukunft liegen.
Gerade für die Energiewende ist die Infrastruktur entscheidend und muss mit hohen Investitionen ausgebaut werden. Dafür müssen aber die gesetzlichen Rahmenbedingungen angepasst und Ressourcen bereitgestellt werden. Ich kann die Leute gut verstehen. Als Vorstandsvorsitzender bin ich mit meinen Vorstandskollegen bei politischen Diskussionen immer dabei, um Verständnis zu schaffen, aufzuklären und zu informieren. Das große Nadelöhr sind die Planungs- und Genehmigungsverfahren. Sie müssen vor allem in den Behörden vor Ort beschleunigt werden. Viele Verfahren können dort gar nicht bearbeitet werden, weil es zu wenig Personal und keine digitalen, effizienten Prozesse gibt. Hier brauchen die Länder und Kommunen dringend Unterstützung. Wir als enviaM-Gruppe arbeiten mit Hochdruck daran, die Ziele des sogenannten Osterpakets umzusetzen. Konkret nehmen wir bis 2026 rund zwei Milliarden Euro in die Hand, beispielsweise für den Ausbau unserer Netzinfrastruktur. Dies ist ein Wachstumsmotor für die enviaM-Gruppe und für die Region.
Kommt in den Osten
Der demografische, aber auch der strukturelle Wandel sind gerade in Ostdeutschland stark zu spüren. Wenn wir auf die Bundesländer in unserem Netzgebiet schauen, finden wir hier die älteste Bevölkerung Deutschlands. Die Frage ist, wie wir die jungen Menschen für unser Unternehmen oder die Energiebranche überhaupt begeistern können. Bei der Ansprache junger Leute für die Ausbildung können wir dabei wirklich punkten: mit unserem gesellschaftlichen und politischen Auftrag im Rahmen der Energiewende und unseren Digitalisierungsinitiativen. Der Wettlauf um Nachwuchskräfte hat längst begonnen. Fachkräftesuche beginnt schon in der Schule. In unserer Kommunikation binden wir daher auch neue Kanäle wie Twitch ein. Hier folgen wir einem komplett neuen Weg, um junge Leute für Ostdeutschland und für unsere Unternehmensgruppe zu begeistern. Natürlich sind wir auch auf lokalen und regionalen Messen, aber es verbietet sich hier, nur ostdeutsch zu denken. Wir brauchen viele neue Hände.
Die Weiterentwicklung des Ostens zu einem noch stärkeren wirtschaftlichen Standort ist Teil unserer Unternehmensstrategie. Wir sind stolz darauf, dass wir einen Beitrag zum Auf- und Ausbau einer nachhaltigen Infrastruktur in der Region leisten können. Wir sorgen für 1,9 Milliarden Euro Wertschöpfung pro Jahr und sichern damit 17.000 Arbeitsplätze in der Region.
Mein persönliches Fazit: Die Herausforderungen sind immens, aber immer spannend. Der Osten ist lebens- und liebenswert. Ich bin hier angekommen und zu Hause.

2024. Die 111.111. Erneuerbare-Energien-Anlage geht an das Stromnetz in Sachsen. Abbildung: enviaM
envia Mitteldeutsche Energie AG
GEGRÜNDET: 2002
STANDORT: Chemnitz
MITARBEITENDE: 3.800
WEBSITE: enviam-gruppe.de
Dr. Stephan Lowis
GEBOREN: 1969/Erkelenz (Nordrhein-Westfalen)
MEIN BUCHTIPP: Martin Seligman: „Der Glücks-Faktor“, 2003
MEIN FILMTIPP: „Good Bye, Lenin!“, 2003
MEIN URLAUBSTIPP: Freyburg (Unstrut)
![]() „Denke ich an Ostdeutschland ...“In der Beziehung von Ost- und Westdeutschland ist auch 35 Jahre nach dem Mauerfall noch ein Knoten. Dieser Sammelband will einen Beitrag dazu leisten, ihn zu lösen. Die 60 Autorinnen und Autoren geben in ihren Beiträgen wichtige Impulse für eine gemeinsame Zukunft. Sie zeigen Chancen auf und skizzieren Perspektiven, scheuen sich aber auch nicht, Herausforderungen zu benennen. Die „Impulsgeberinnen und Impulsgeber für Ostdeutschland“ erzählen Geschichten und schildern Sachverhalte, die aufklären, Mut machen sowie ein positives, konstruktiv nach vorn schauendes Narrativ für Ostdeutschland bilden. „Denke ich an Ostdeutschland ... Impulse für eine gemeinsame Zukunft“, Frank und Robert Nehring (Hgg.), PRIMA VIER Nehring Verlag, Berlin 2024, 224 S., DIN A4. Als Hardcover und E-Book hier erhältlich. |