Larissa Zeichhardt, Geschäftsführerin LAT Gruppe und Campus Hütte, ist eine wichtige Impulsgeberin für Ostdeutschland. Sie setzt sich ein für Vergewisserung, Verständigung und Versöhnung. Mit diesem Beitrag ist sie auch in dem Sammelband „Denke ich an Ostdeutschland ...“ vertreten.

Larissa Zeichhardt, Geschäftsführerin LAT Gruppe und Campus Hütte. Abbildung: Anne Grossmann
Mit fünf Jahren habe ich meinen ersten Berufswunsch geäußert: Toilettenfrau, „weil die immer so viel Geld haben“. Natürlich – ich bin im Westen geboren. Vor der Wende dachte ich, das Land hinter der Berliner Siegessäule ist das Ende der Welt. Als die Mauer fiel, war ich acht Jahre alt. Es folgten Entdeckungstouren. Andere gingen wandern, wir suchten Lagerflächen. Für sehr große Kabeltrommeln. Mein Vater Heinz war Chef. Er rauchte Kette. Hin und wieder fuhr er rechts ran, um mit dem Camcorder eine Aufnahme zu machen. In Luckenwalde, Hammer, Pasewalk und in Hohenwalde waren wir mehrmals. Letzteres, ein Ortsteil von Frankfurt (Oder), wurde mir in der Jugend zur zweiten Heimat. Durch den Reitsport und die Menschen vor Ort habe ich einen Wert gelernt, der mich bis heute prägt: Zusammenhalt.
Anders als im Westen wurde Sport hier in der Breite gefördert. Die Trainer waren engagiert, streng und rund um die Uhr präsent. Es wurden keine Ausnahmen gemacht, Leistung stand im Vordergrund. Es gab Regeln. Engagement war eine Grundvoraussetzung. Nie wollte ich mehr dazu gehören als zu dieser Zeit. Ich lernte Überpünktlichkeit, mied sämtliche Markenklamotten, achtete penibel auf meine Wortwahl: „Dein Niki fetzt, urst schau“. Von Freitag bis Sonntag war ich ein absoluter Wannabe-Ossi. Denke ich an Ostdeutschland, dann denke ich an Werte. Disziplin, Willenskraft und Durchhaltevermögen verdanke ich meiner Zeit in Frankfurt (Oder).
Denke ich an Ostdeutschland, dann denke ich an Zukunft. Ich denke an eine Generation, die geblieben ist, und an eine, die wiederkehrt. Ich denke an Gewinner.
Mehr weibliche Vorbilder
Vielleicht fühle ich mich mit der Region um Hohenwalde bis heute so verbunden, weil ich jeden Sonntagabend abreisen musste. Manchmal ließ mich mein Vater auffliegen, wenn er mich mit dem Helikopter abholte. Ich war eben doch kein Kind von Honecker, sondern verkörperte den puren Kommerz.
Das ist auch heute noch so, denn ich bin Unternehmerin. Mein erster Ausflug in die Unternehmerwelt war allerdings eher Zufall: Der Bruder eines Freundes überredete mich, es folgte eine steile Lernkurve und ein paar Jahre später ein Streit, der meine Unternehmerkarriere vorerst beendete. Rückblickend hätte ein Business-Coach helfen können – und mehr Liquidität. Für Ostdeutschland wünsche ich mir mehr Fokus auf die weibliche Zielgruppe. Wir brauchen mehr Programme und Vorbilder. Auch eine direkte Ansprache der Zielgruppe 45+ vermisse ich. Dabei helfen Auszeichnungen, die auf Vorbilder aufmerksam machen.
Ich spreche aus Erfahrung, denn vor einigen Jahren setzte ich meine Karriere als Unternehmerin etwas ungewollt fort. Mein Vater verstarb plötzlich, ich wurde über Nacht zur Nachfolgerin. Die Glasfaserkabel im Osten waren längst verlegt, am Gleis fand LAT neue Arbeitsbereiche. Konnte ich das Familienunternehmen weiterführen? Es ging um Arbeitsplätze und an meiner Entscheidung hingen Familien. Gemeinsam mit meiner Schwester wollte ich es versuchen. Gegenstimmen gab es viele. Zwei Frauen in der Elektromontage – das konnte Man(n) sich nicht vorstellen. Dabei hatte ich nach der Wende doch so viele Frauen in technischen Berufen kennengelernt. Wo waren die nur geblieben? Vielleicht hatte die Kinderbetreuung doch einen Einfluss auf die Berufswahl? Warum bekommt aktuell ausgerechnet die Partei, die den Abbau von Kitaplätzen im Wahlprogramm verankert hat, so viel Zuspruch in den neuen Bundesländern? Liest das keiner? Denke ich an Ostdeutschland, dann denke ich an Chancen. Starke Beispiele für das, was mit einer Portion Stolz und Zuversicht möglich ist? Habe ich.
Ärmel werden hochgekrempelt
Besuche ich Berufsschulen in Brandenburg, dann sehe ich moderne Kaderschmieden der Macher. Erkannt hat das zum Beispiel das Oberstufenzentrum Fürstenwalde. Ein Blick auf deren Instagramkanal @Startzeit lohnt sich. Das Ergebnis ist ebenfalls sichtbar: Auf dem Campus Hütte (Eisenhüttenstadt, Brandenburg) bietet ein Verein Coworking für Handwerker. Nutzer sind Schüler des Oberstufenzentrums Oder-Spree. Geteilt werden 3-D-Drucker (Prototypenfertigung) und ein Podcast-Studio, genau wie Werkzeug und Wissen. Zu den Standortvorteilen zählen die Nähe zu Polen und die gute Bahnanbindung. Ich bin überzeugt, dass es auf unserem CO2-neutralen Campus in Zukunft noch mehr Ansiedlungen geben wird.
Auch die Universitäten müssen sich nicht verstecken. Regelmäßig lasse ich mich von der Technischen Hochschule Wildau inspirieren. Aus Alt mach Neu wurde hier architektonisch perfektioniert. In hellen Hallen wird Zukunft nicht nur gedacht, sondern umgesetzt. Unternehmertum wird hier großgeschrieben – und das mitten in Brandenburg! Und die Region? Profitiert zum Beispiel von den kostenfreien Workshops im VinnLab. Dort wird etwa gemeinsam gelernt, wie Prototyping funktioniert. In einer Ecke steht ein gerahmter Leitsatz, der Gesamtdeutschland gut steht: „Failure is always an option.“ Der schleichende Prozess, in dem die vermeintliche Jammerkultur durch eine gesunde Fehlerkultur ersetzt wird, der läuft doch längst. Warum das ausgerechnet in den neuen Bundesländern so sichtbar ist? Weil hier die Ärmel hochgekrempelt werden, und sei es „nur“, um das Dorffest am Anger zu organisieren. Aus nichts viel machen? Diese Fähigkeit haben die Menschen vor Ort bereits lange vor uns Wessis perfektioniert.

Arabelle Laternser und Larissa Zeichhardt wurden mit dem Ostdeutschen Wirtschaftspreis ausgezeichnet. Abbildung: Land der Ideen
Innovationskraft und Erfahrung
Die Zusammenarbeit zwischen Industrie- und Familienunternehmen sollte explizit gefördert werden. Die Erfahrung etablierter Unternehmen erhöht die Erfolgschancen, andersherum profitiert der Mittelstand von der Innovationskraft. Neue Technologien werden häufig erst durch Start-ups in den Markt gebracht. Wie ein gutes Netzwerk entsteht, zeigen Nico Gramenz mit dem Project Bay und das studentische Veranstaltungsformat N5 Symposium.
Auch bei LAT setzen wir auf Innovationskraft und den Austausch mit Universitäten und Start-ups. Wir haben uns den Schuh passend gemacht und unsere eigene Richtung gefunden. Geholfen haben uns Orte, an denen Industrie- und Familienunternehmen mit der Wissenschaft zusammenarbeiten. Gemeinsam erkunden wir, wie Baustellenabläufe stärker automatisiert werden können. Dank der Berliner Hochschule für Technik sind wir auf den Roboter gekommen. Mit dem Tech-Start-up Axo Track testen wir Sensorik für die prädiktive Wartung von Weichen. Die Projekte haben unsere Strahlkraft erhöht und machen uns Mut. Auf dem Radar der großen Beteiligungsfonds ist das Unternehmen angekommen, seit es sich für Ostdeutschland als Standort entschieden hat.
Aus meiner Sicht sind landeseigene Venturecapital-Fonds ein absoluter Vorteil der neuen Bundesländer. Sie prägen die ökonomische Entwicklung der Region und fördern forschungsintensive Industrien wie etwa Softwareentwicklung oder hoch spezialisierte Ingenieurssparten. Die Blaupause liefert Sachsen-Anhalt, das mit den IBG-Fonds eine beeindruckende Infrastruktur für Venturecapital-Investments geschaffen hat. Mit einem Portfolio von rund 45 Unternehmen und einem aktuellen Kapital von 63 Millionen Euro im neuen und aktiven IBG-Risikokapitalfonds RKF IV sind die Voraussetzungen geschaffen, um bestehende Unternehmen zu unterstützen und in neue, vielversprechende Start-ups zu investieren. Tesvolt aus Wittenberg beispielsweise profitiert davon und ist mittlerweile führender Anbieter von Batteriemanagementsystemen im Gewerbebereich. Die Firma zählt zu den größten Arbeitgebern in der Region. Denke ich an Ostdeutschland, dann denke ich an Synergien. Hier werden Werte sichtbar und Mut gefördert. Die Wurzel des Erfolges: Das ist der Sport.

Arbeiten auf einem CO2-neutralen Campus: Der Campus Hütte ist ein Projekt der LAT Gruppe. Abbildung: LAT Gruppe
Sport und Machermut
Ich habe nachgesehen: In den ländlichen ostdeutschen Regionen ist die Neigung, einen Betrieb zu gründen, deutlich geringer. Kaufinteressierte Nachfolger sind daher ebenso rar. Die Konsequenzen sind absehbar: 2023 waren in Sachsen 39 Prozent und in Thüringen 34 Prozent der Unternehmen auf der Suche nach einem Nachfolger (Commerzbank Unternehmerkunden-Studie, 2023). Wie bestehende Werte sichtbar gemacht werden, um Mut zu fördern? Wie wäre es mit Sport? Wird ein Radrennen auf dem Olympiastützpunkt in Frankfurt (Oder) zum Wirtschaftstreff, sind engagierte, pünktliche und teamfähige Fach- und Führungskräfte ein Ergebnis. Beim Boxen nebenan floriert ein Netzwerk aus Investoren. In den ersten Reihen von „Stralsund boxt“ diskutieren Wirtschaft und Politik über anstehende Investitionen. Ausgerechnet ein Hamburger Unternehmer ist für die Veranstaltung verantwortlich: Auf die Frage, was den Geschäftsführer nach Mecklenburg-Vorpommern treibt, sagt er etwas Essenzielles: „Hier wird Zusammenhalt großgeschrieben.“ Sein Geschäftspartner verrät, dass ein engagierter Trainer der örtlichen Jugendmannschaft ihnen das Versprechen abgenommen hat, hier Landesmeisterschaften und Profiboxen zu verbinden. Der Erfolg ist sichtbar: ausverkauftes Haus.
Noch etwas ist an diesem Abend ganz besonders: Max Suske, 21, ist auf dem Weg, Junioren-Weltmeister des World Boxing Council (WBC) zu werden. Alles hat er der Vorbereitung auf diesen Kampf untergeordnet. In Minute 2:35 geht er krachend k. o. Ein Held geht zu Boden und bleibt lange liegen. Die Halle ist still. Es ist, als wenn alle die Luft anhalten. Was folgt, beeindruckt mich nachhaltig: Der Sportler steht auf, berappelt sich und tritt vor die Kamera. Er stellt sich dem Publikum, seinem Stralsunder Publikum, und erklärt, wie hart das Scheitern ist. Er sagt, ich werde daraus lernen. Ich werde weiter machen. Mit dieser Geste sagt er mehr über Haltung und Kultur in Ostdeutschland, als ich in Sätzen auf dieses Papier bringen kann. Er gibt eine Richtung vor und steht zu seinen Werten. Er ist für mich der Inbegriff von Zuversicht und Machermut. Denke ich an Ostdeutschland, dann denke ich an Zukunft. Ich denke an eine Generation, die geblieben ist, und an eine, die wiederkehrt. Ich denke an Gewinner.

LAT fördert Jugendsport und arbeitet mit dem Olympiastützpunkt in Frankfurt (Oder) zusammen. Abbildung: LAT Gruppe
LAT Gruppe
GEGRÜNDET: 1969/Westberlin
STANDORT: Ostberlin
MITARBEITENDE: 130
WEBSITE: lat.de
Larissa Zeichhardt
GEBOREN: 1981/Westberlin
WOHNORT (aktuell): Berlin
MEIN BUCHTIPP: Issio Ehrich, Jakob Springfeld: „Unter Nazis. Jung, ostdeutsch, gegen rechts“, 2022
MEIN FILMTIPP: „Das schweigende Klassenzimmer“, 2018
MEIN URLAUBSTIPP: Eisenhüttenstadt
![]() „Denke ich an Ostdeutschland ...“In der Beziehung von Ost- und Westdeutschland ist auch 35 Jahre nach dem Mauerfall noch ein Knoten. Dieser Sammelband will einen Beitrag dazu leisten, ihn zu lösen. Die 60 Autorinnen und Autoren geben in ihren Beiträgen wichtige Impulse für eine gemeinsame Zukunft. Sie zeigen Chancen auf und skizzieren Perspektiven, scheuen sich aber auch nicht, Herausforderungen zu benennen. Die „Impulsgeberinnen und Impulsgeber für Ostdeutschland“ erzählen Geschichten und schildern Sachverhalte, die aufklären, Mut machen sowie ein positives, konstruktiv nach vorn schauendes Narrativ für Ostdeutschland bilden. „Denke ich an Ostdeutschland ... Impulse für eine gemeinsame Zukunft“, Frank und Robert Nehring (Hgg.), PRIMA VIER Nehring Verlag, Berlin 2024, 224 S., DIN A4. Als Hardcover und E-Book hier erhältlich. |