Repräsentation gilt als wichtige Stütze der Demokratie. Wer seinesgleichen nicht bei denen „da oben“ sieht, fühlt sich nicht nur nicht vertreten, sondern zweifelt auch daran, es selbst dorthin schaffen zu können. Die Ergebnisse der „Ostwahlen 2024“ werden auch auf die Unterrepräsentanz der Ostdeutschen in unserer Elite zurückgeführt. Kürzlich ist eine neue Studie dazu erschienen.
Zusammen mit dem Ostbeauftragten Carsten Schneider (SPD) haben Mitte September 2024 Dr. Lars Vogel (Universität Leipzig) und Prof. Dr. Marion Reiser (Friedrich-Schiller-Universität Jena) aus dem Forschungsprojekt „Elitenmonitor“ erste Ergebnisse des Elitensurveys 2023 vorgestellt.
Über alle Führungsebenen hinweg sei der Anteil Ostdeutscher (mit Berlin) in den 24 obersten Bundesbehörden von 13,9 Prozent im Jahr 2022 auf 15 Prozent im Jahr 2024 gestiegen. Staatsminister Carsten Schneider betonte: „Eines der wichtigen Ziele der Bundesregierung besteht darin, dass Menschen überall in ganz Deutschland gut leben können, dass sie die gleichen Chancen haben und ihre Stimme das gleiche Gewicht hat.“ Ein ungleicher Anteil von Ostdeutschen in Entscheidungspositionen deute auf eine ungleiche politische und gesellschaftliche Teilhabe hin. „Das wirkt sich auch aus auf das Vertrauen in unsere Institutionen und damit auf die Stabilität unserer Demokratie“, so Schneider.
Der Elitenmonitor und das Problem der personellen Unterrepräsentation
Der Elitensurvey erfolgte im September bis Dezember 2023. 685 Inhaberinnen und Inhaber von Elitenpositionen nahmen an der telefonischen Befragung teil, die von den Universitäten Leipzig und Jena sowie der Hochschule Zittau/Görlitz durchgeführt wurde. Grundlage war die Leipziger Elitendatenbank, welche 2.788 Eliten umfasst und deren Ergebnisse bereits 2023 im Bericht zum Stand der Deutschen Einheit veröffentlicht wurden.
Die personelle Unterrepräsentation sozialer Gruppen in den wichtigsten Gestaltungs- und Entscheidungspositionen einer Gesellschaft (Eliten) wird weithin als gesellschaftliches und politisches Problem betrachtet. Sie kann die Partizipation und den Einfluss der so benachteiligten Gruppen einschränken und dazu beitragen, problematische gesellschaftliche Machtverhältnisse zu reproduzieren. Auch kann sie das Gefühl von kollektiver Benachteiligung und fehlender Repräsentation in diesen Gruppen verstärken. Dies stellen die Studienmacher Dr. Lars Vogel, Volker Brandy, Justus Junkermann und Prof. Dr. Marion Reiser in der Veröffentlichung ihrer Ergebnisse vorab fest. Mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung seien Ostdeutsche in den wichtigsten Führungspositionen in Deutschland, mit Ausnahme der Politik, weiterhin unterrepräsentiert, was bei Politikern und in der Bevölkerung zunehmend als problematisch bewertet werde.
Zentrale Ergebnisse des Elitensurveys
Es besteht ein Problembewusstsein unter den Eliten für die Unterrepräsentation der Ostdeutschen: Sie werden von den befragten Eliten spontan am dritthäufigsten als eine der Bevölkerungsgruppen genannt, die in Spitzenpositionen unterrepräsentiert sind – nach Menschen mit Migrationshintergrund und Frauen. Ostdeutsche Eliten äußerten dies häufiger als westdeutsche.
Die befragten Eliten sehen dabei mehrere Problemdimensionen als relevant an. Ostdeutsche Eliten sehen das größte Problem der Unterrepräsentation darin, dass die Belange der Ostdeutschen durch Ostdeutsche am besten vertreten werden könnten (85 Prozent Zustimmung). Westdeutsche Eliten bewerten mit 68 Prozent am häufigsten als problematisch, dass Unterrepräsentation dazu beiträgt, dass Ostdeutsche sich als Bürger zweiter Klasse fühlen.
Hinsichtlich der Ursachen für die Unterrepräsentation sind sich die Befragten einig darin, dass der Elitentransfer aus Westdeutschland seit der Wiedervereinigung eine wichtige Rolle gespielt hat und immer noch spielt. So sehen von den ostdeutschen Eliten 88 Prozent den Transfer direkt nach der Wiedervereinigung und 81 Prozent das fortlaufende Nachrücken von Westdeutschen in Spitzenpositionen als ursächlich an. Bei den westdeutschen Eliten sind es 86 Prozent bzw. 66 Prozent. Fehlende Ambitionen und Qualifikationen von Ostdeutschen werden als unwichtigste Faktoren angesehen.
Bezüglich der Gegenmaßnahmen sind die Eliten mehrheitlich der Meinung, dass die Stimmen Ostdeutscher in der öffentlichen Debatte mehr gehört werden sollten. Diese Forderung trifft bei 84 Prozent der ostdeutschen und 67 Prozent der westdeutschen Eliten auf Zustimmung. Konkretere Maßnahmen, wie etwa Quoten für Ostdeutsche in Spitzenpositionen, werden nur von einer Minderheit gefordert. Diskrepanzen zeigen sich jedoch in der Bewertung der Notwendigkeit von Maßnahmen, um der Unterrepräsentation entgegenzuwirken. 55 Prozent der westdeutschen Eliten vertreten die Ansicht, dass sich der Anteil von Ostdeutschen in Führungspositionen von allein erhöhen wird, während dies nur 29 Prozent der ostdeutschen Eliten teilen.
Bei der Bewertung, welche Merkmale für den Aufstieg in eine Spitzenführungsposition allgemein wichtig sind, stimmen Eliten in Ost und Westdeutschland größtenteils überein. Am häufigsten werden Auftreten, Eloquenz und Charisma, Leistungs- und Verzichtsbereitschaft sowie Fachkenntnisse als wichtig bewertet. Ostdeutsche Befragte bewerten mit 66 Prozent häufiger als westdeutsche (42 Prozent) die regionale Verankerung als wichtigen Faktor. Unterschiede zeigen sich ebenfalls in der Bewertung der Faktoren für den letzten Schritt in der eigenen Karriere. Hier nannten ostdeutsche Eliten (50 Prozent) seltener als westdeutsche Eliten (68 Prozent) das fachliche Wissen als einen der drei wichtigsten Faktoren. Dafür wurden von Ostdeutschen häufiger Verzichtsbereitschaft (38 zu 25 Prozent) und Kontakte zu beruflich höhergestellten Personen (36 zu 25 Prozent) angeführt.
Auf die Frage nach persönlichen Erfahrungen auf dem Karriereweg geben 50 Prozent der westdeutschen aber nur 25 Prozent der ostdeutschen Befragten an, dass sie überhaupt keine Benachteiligungen erfahren haben. 18 Prozent der ostdeutschen Eliten sehen ihre ostdeutsche Herkunft als starken oder sehr starken Nachteil für ihre Karriere an. Ein deutlich größerer Anteil von 40 Prozent sieht die ostdeutsche Herkunft hingegen als Vorteil an. Beachtet werden sollte dabei, dass im Elitensurvey nur die Perspektive der Personen berichtet werden kann, die erfolgreich eine Elitenposition erreicht haben. Ostdeutsche Eliten identifizieren sich mit dem eigenen Landesteil deutlich häufiger als die westdeutschen Eliten. 27 Prozent der ostdeutschen Eliten nennen Ostdeutschland als ihren zentralen Identifikationspunkt, während Westdeutschland für nur vier Prozent der westdeutschen von Bedeutung ist.
Wird neben Herkunft und Erfahrung die Identifikation mit Deutschland oder dem eigenen Landesteil betrachtet, werden signifikante Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Eliten deutlich. Auf die Frage „Mit welcher der folgenden Regionen fühlen Sie sich am stärksten verbunden?” antworten 42,6 Prozent der westdeutschen Befragten mit „Deutschland als Ganzem“, während es bei den ostdeutschen 27,6 Prozent sind. Die ostdeutschen Eliten geben dagegen sehr viel häufiger als die westdeutschen den eigenen Landesteil als primären Identifikationspunkt an (27 Prozent vs. vier Prozent). Damit spiegeln die Ergebnisse des Elitensurveys Erkenntnisse für die Bevölkerung, die zeigen, dass Westdeutschland für Westdeutsche keine relevante Kategorie ist, während für viele Ostdeutsche Ostdeutschland ein wichtiger Identifikationspunkt ist.
Dabei macht es einen Unterschied, ob die Eliten eine gewisse Zeit im jeweils anderen Landesteil gelebt oder gearbeitet haben. Unter den Ostdeutschen, die nie in Westdeutschland gearbeitet haben, gibt knapp jeder Dritte (32,3 Prozent) an, sich am stärksten mit Ostdeutschland zu identifizieren, während es bei denen, die auch in Westdeutschland gelebt oder gearbeitet haben nur jeder Fünfte ist (19,9 Prozent). Bei den westdeutschen Befragten macht es für diese Frage keinen Unterschied, ob die Person bereits in Ostdeutschland gelebt oder gearbeitet hat.
Durchschnittlich eine niedrigere Schätzung wurde hingegen im Sektor Politik abgegeben. Hier wird der Anteil Ostdeutscher in der Bundespolitik auf 10,2 Prozent geschätzt, wobei der tatsächliche Anteil bei 12,7 Prozent liegt. Auch bei den Gewerkschaften wurde ein niedrigerer Wert angenommen (11,1 Prozent vs. 13,2 Prozent) und die Unterrepräsentation überschätzt.
Die Eliten wurden anschließend über das tatsächliche Ausmaß der Unterrepräsentation Ostdeutscher in ihrem Sektor informiert. Nach den Ursachen für diese Unterrepräsentation gefragt, sehen ost- und westdeutsche Eliten den Elitentransfer von West nach Ostdeutschland infolge der deutschen Wiedervereinigung als bedeutendsten Faktor an. Weiter sehen 81 Prozent der Ostdeutschen aber nur 66 Prozent der Westdeutschen eine Ursache darin, dass weiterhin vor allem Westdeutsche auf Spitzenführungspositionen nachrücken.
Auffällig ist weiterhin, dass die ostdeutschen Eliten die Unterrepräsentation sehr häufig auf habituelle Unterschiede (43 Prozent) sowie die konkrete Benachteiligung von Ostdeutschen (43 Prozent) zurückführen, während diese Aussagen bei den westdeutschen Eliten auf signifikant weniger Zustimmung stoßen, wenngleich auch in dieser Gruppe 24 bzw. 25 Prozent der Befragten zustimmen.
Um die Ursachen für die Unterrepräsentation Ostdeutscher näher zu ergründen, wurden die Eliten auch nach persönlichen Erfahrungen mit Benachteiligungen gefragt. Hier zeigt sich, dass – verglichen mit denen, die Benachteiligungen für Ostdeutsche wahrnehmen – weitaus weniger Befragte von persönlicher Diskriminierung berichten. 17,6 Prozent der ostdeutschen und 12,1 Prozent der westdeutschen Eliten geben an, auf ihrem Karriereweg Benachteiligungen erfahren zu haben. Dass sie eher oder überhaupt keine Benachteiligungen erfahren haben, äußern hingegen 87,9 Prozent der westdeutschen und 82,5 Prozent der ostdeutschen Eliten.
Beachtet werden sollte dabei, dass im Elitensurvey nur die Perspektive der Personen berichtet werden kann, die erfolgreich eine Elitenposition erreicht haben. Dennoch ist auffällig, dass mit 49,4 Prozent der westdeutschen Eliten ein deutlich größerer Anteil überhaupt keine Benachteiligungen erfahren hat, während es bei den ostdeutschen in dieser Kategorie nur 26,7 Prozent sind. Durchschnittlich nehmen die ostdeutschen Eliten demnach signifikant häufiger Benachteiligungen auf dem Karriereweg wahr.
Diesen Werten entsprechend bewerten 17,7 Prozent der ostdeutschen Eliten ihre Herkunft als starken oder sehr starken Nachteil für ihre Karriere. Ein deutlich größerer Anteil (39,5 Prozent) sieht die ostdeutsche Herkunft hingegen sogar als Vorteil an. 42,9 Prozent der ostdeutschen Spitzenführungskräfte sind der Ansicht, dass ihre Herkunft keinen Einfluss auf ihre Karriere gehabt hat.
Ostdeutsche Eliten unterstützen Maßnahmen zum Abbau der Unterrepräsentation Ostdeutscher stärker. Über alle Befragten hinweg erfahren konkrete Maßnahmen jedoch geringe Unterstützung.
Der weichen Forderung, dass die Stimmen von Ostdeutschen in der öffentlichen Diskussion mehr Gehör geschenkt werden sollte, unterstützen 84 Prozent der ostdeutschen und 69 Prozent der westdeutschen Eliten. Eine Quote für Ostdeutsche in Führungspositionen fordern lediglich zwölf Prozent der Ostdeutschen und drei Prozent der Westdeutschen. 55 Prozent der westdeutschen Eliten (28 Prozent der ostdeutschen) gehen davon aus, dass sich das Problem der Unterrepräsentation mit der Zeit von allein lösen wird und 36 Prozent (vs. zehn Prozent der Ostdeutschen) denken, dass keine Notwendigkeit besteht den Anteil der Ostdeutschen in Führungspositionen zu erhöhen.