In seiner dritten Kolumne widmet sich Daniel Heidrich dem ostdeutschen Mann. Im Diskurs wird dieser Typus gern als im doppelten Sinne Zurückgebliebener beschrieben. Sicher dagegen ist, dass er wesentlichen Einfluss auf das Wahlverhalten in Ostdeutschland hat.
Die illiberale Konterrevolution wird angeführt von ostdeutschen Männern. Es geht um Stolz, Neid, Zorn, Nostalgie und ein streng konservatives Weltbild. Es sind dieselben Männer, die hervorheben, wie modern und fortschrittlich die Frauen im Osten sind.
Eva Illouz hat im letzten Jahr wohl eines der intelligentesten Bücher zum Zustand unserer Gesellschaft geschrieben. Die „Explosive Moderne“ ist ein Ergebnis zumeist männlicher Gefühlslagen und der Osten Deutschlands ist mal wieder das Brennglas dieser Entwicklung. Die Gesellschaften des Ostens sind geprägt durch das Männliche. 2,5 Millionen Menschen sind seit dem Beitritt zur BRD in den Westen ausgewandert. Tschechien, Ungarn, Polen, Bulgarien und Rumänien haben circa 25 Prozent ihrer Bevölkerung verloren. Und es gingen vorwiegend die jungen Frauen. In Ostdeutschland beträgt der Männerüberschuss laut Steffen Mau in den ländlichen Gebieten 100 zu 65. Ostfrauen heiraten Westmänner. Osteuropäische Frauen nur Westeuropäer. Nur ganz selten umgekehrt.
Damit ist das Problem irreversibel. Gesellschaften, die so strukturiert sind, werden aggressiver, zorniger und härter. Die AfD ist eine Männerpartei, gewählt von Männern. Diese Männer erreichte 1990 der Kapitalismus mit voller Härte. Ein Kapitalismus, der ihnen erklärte, dass man alles erreichen kann, was man will. Ein Kapitalismus der ständigen Selbstoptimierung. Jeder muss immer anders sein. Es sind dieselben Männer, die vorher in einem Land lebten, wo alle gleich sein sollten und es auch waren. „Leistungsgerechtigkeit fühlt sich beschissen an, wenn man plötzlich zu den Verlierern gehört“ (Kimmel, Angry White Men). Zorn folgt als Reaktion auf das unerfüllte Versprechen des westlichen Establishments, alles schaffen zu können.
Die Ironie dabei ist, dass der Zorn und die Empörung linke Erfindungen einer modernen Gesellschaft sind. Wer zornig ist, möchte oder kann sich nicht fürchten. Die Furcht ist jedoch ein riesiger Kollateralschaden der Aufmerksamkeitsökonomie unserer Medien und Politik. Klimawandel, Corona, Demografie, Kriege, alles und jeder ist immer dem Untergang geweiht. Der Staat wird zum Hüter des individuellen Schicksals berufen. Zu jeder Nachricht gibt es eine Sondersendung mit Experten. Experten, die immer vor allem und jedem warnen. Selbst unser Bundeskanzler führt nicht, er warnt. Die Weigerung, sich zu fürchten, ist dann wie ein Akt der Befreiung. Eine Befreiung von der Moderne. Ist doch die Moderne eine vorwiegend intellektuelle Erfahrung. Sie wird von Experten beschrieben als dieses und jenes. Zum Beispiel muss der Fortschritt der gendergerechten Sprache durch Experten erklärt und von Studien belegt werden. Er ist nicht von sich aus klar. Die Moderne ist voll von Bildung, Expertise und der Erzählung des Aufstiegs. Der Mann, der den Glauben an die Meritokratie verloren hat, bekämpft alle Experten, welche für dieses System stehen. Seien sie Klimawissenschaftler, Genderprofessoren oder Virologen. Der Fortschritt und die Moderne gelten immer nur den Fortschrittlichen. Die anderen macht er heimatlos. Und seine Heimat zu verlieren, „ohne auch nur einen Zentimeter von zu Hause entfernt zu sein“ (Illouz, Explosive Moderne), ist ein Gefühl, welches in Ostdeutschland besonders stark ist.
Und so gesellt sich zur Wut, dem Zorn und der Weigerung zur Furcht die Nostalgie. Die Rückbesinnung auf das Verbindende der Nationalität, Herkunft und Tradition. Ein Aufstieg der Modernen und Erfolgreichen in dieses Gebilde ist nicht möglich. Ein Wessi kann niemals zum Ossi werden, egal was er tut. Dort die Elite, hier das Volk. Der normale Menschenverstand gegen die Experten. Man ist stolz darauf, nicht alles zu wissen. Stolz auf die nicht vorhandene Bildung. Stolz darauf, nicht fortschrittlich zu sein und die alten Werte zu vertreten. So sind sie der letzte Anker auf der schiefen Ebene des Verlusts von Respekt, Moral und klarer Hierarchie.
Stolz folgt immer der Scham. Denn jahrelang wurden sie beschämt durch die Moderne und die Modernen. Schämt euch für eure Sprache. Schämt euch für euren Grill. Schämt euch für euren Konsum. Schämt euch für euren täglichen Rassismus. Schämt euch für eure Islamkritik. Zur Scham gehören eben auch die Beschämer. Diesmal war es der Westen, der diesen Kulturkampf begann. In den USA und im linken Milieu des Westens gibt es keinen Streit und keine Diskussion mehr, ohne sich für irgendetwas schämen zu müssen. Kritisch schaue ich an mir herab und frage mich, wann ich das letzte Mal jemanden beschämt habe. Ihn kritisiert für sein Nichtwissen und die Sichtweise eines alten weißen Mannes.
Und so führt der Osten die Konterrevolution gegen alles Liberale an. Nicht aus politischen Gründen, sondern den Gefühlen folgend. Eine rechts-libertäre Revolution zurück in eine Welt, wo Männer wussten, was zu tun ist. Das Volk hier, die Eliten da. Jeder darf sagen, was er will. Hauptsache, es trifft die Meinung des Volkes. Auf den Rest wartet die Abrechnung. Ein neues System, das zurück ist aus der Moderne. „Vom Ich zum Wir [...]“ (DDR-Slogan 1950er-Jahre). Vom Ich in die Diktatur der Mehrheit. Eine Diktatur der Arbeiter und des Volkes wäre im Osten nichts Neues.