Ende 1989 wurde von namhaften DDR-Bürgern ein Aufruf veröffentlicht, für Reformen in Eigenregie einzutreten, statt direkt der BRD beizutreten. Dr. Andreas H. Apelt, Beauftragter des Vorstandes der Deutschen Gesellschaft e.V., beschreibt, wie dieser Traum eines „dritten Weges“ von der Realität der Wiedervereinigung eingeholt wurde.
Als vor 35 Jahren, Ende Januar 1990, die bis dahin größte Unterschriftenaktion in der Geschichte Nachkriegsdeutschlands ihr Ende findet, nimmt kaum jemand von den Ergebnissen Notiz. Dabei haben von den gut 16 Millionen DDR-Bürgern über eine Million, genau 1.167.048, den Aufruf unterschrieben. Und das noch per Hand inklusive einer Postverschickung. Eine Erklärung ist einfach: Der Aufruf wurde in den sieben Wochen seines Bestehens von der Geschichte überholt.
Die größte Unterschriftenaktion in der Geschichte Nachkriegsdeutschlands
Was war geschehen? Am 29. November 1989 veröffentlicht ausgerechnet das Zentralorgan der SED, das Neue Deutschland, einen Aufruf von DDR-Oppositionellen und namhaften Künstlern und Intellektuellen. Unter ihnen: Frank Beyer, Volker Braun, Tamara Danz, Sighard Gille, Walter Janka, Friedrich Schorlemmer, Jutta Wachowiak. Unter der Überschrift „Für unser Land“ bekennen sich 31 Erstunterzeichner zur „Eigenständigkeit der DDR“ und fordern, keine zwanzig Tage nach dem Mauerfall, eine „sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln.“
Konzept und Textentwürfe stammen von Konrad Weiß, Filmemacher und Mitglied der oppositionellen Gruppierung „Demokratie Jetzt“, dem Generalsuperintendenten Günter Krusche und Dieter Klein, SED-Philosoph und Prorektor für Gesellschaftswissenschaften der Humboldt-Universität. Die Schlussredaktion übernimmt die Schriftstellerin Christa Wolf, während Stefan Heym, ebenfalls namhafter Autor und zudem ausgewiesener SED-Gegner den Text der internationalen Presse vorstellt. Konrad Weiß bekennt zwar später, dass er „die DDR und die deutsche Zweistaatlichkeit nicht konserviert wissen“ wollte. Doch lässt der Aufruf kaum eine andere Interpretation zu. Dies zeigt die Berliner Pressekonferenz vom 28. November 1989, auf der Stefan Heym sich für den Erhalt der DDR ausspricht und die von Helmut Kohl begonnenen „Ouvertüren zur Vereinnahmung“ ablehnt. „Wenn wir jetzt versuchen, wirklich Sozialismus aufzubauen, eine neue bessere Gesellschaft zu gestalten“, so betont der Schriftsteller, „zeige dies die Stärke des großen Traums, für den so viele Menschen angetreten sind.“
Beifall von der falschen Seite
Zugleich beginnt eine umfangreiche Werbekampagne, getragen von den SED-nahen Staatsmedien. So titelt das Neue Deutschland mit der dem Text entnommenen Überschrift: „Noch haben wir die Chance einer sozialistischen Alternative zur BRD.“ Selbst die Privatadressen der beiden Unterzeichner, denen die zustimmenden Unterschriften zugesandt werden sollen, finden sich im Aufmacher. Auf Seite zwei wird der Aufruf in voller Länge nebst allen Erstunterzeichnern abgedruckt. Er beschreibt ein Entweder-oder-Szenario, wobei der Eigenständigkeit einer „solidarischen Gesellschaft, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit … gewährleistet sind“, der „Ausverkauf materieller und moralischer Werte“ entgegengestellt wird. Der Text ist ein Plädoyer für die weitverbreitete Hoffnung eines „dritten Weges“, obgleich es dafür von Seiten der Oppositionellen nicht einmal eine gemeinsame Definition gibt. Zu unterschiedlich sind die Interpretationen. Die Konzeptlosigkeit beklagt schon Joachim Gauck, damals Neues Forum. Bleibt die diffuse Vorstellung von einem Sonderweg, der die vermeintlichen Vorteile beider Gesellschaftssysteme vereint. Verbunden wird er mit dem Glauben an eine ideale Gesellschaftsform, die Staat und Sozialismus für die Bürger hoffähig und akzeptabel macht. So gesehen ein idealisiertes Gemeinwesen, das unabhängig von den großen Blöcken und politischen Lagern agiert. Der Reiz eines entstalinisierten Landes, so die Vorstellung, könnte selbst für viele Westdeutsche die DDR zum erstrebenswerten Ziel machen.
Neuanfang mit der Vision von einem demokratischen Sozialismus
Der Appell fällt nicht vom Himmel. Vorausgegangen waren zahlreiche Wortmeldungen, wie die vom 4. November bei der Großdemonstration auf dem Alexanderplatz. Schon Anfang Oktober 1989 bekennt Christa Wolf, dass sie einer Alternative mit dem Namen DDR anhängt: „Aber mir scheint, dass es im wohlverstandenen Interesse, zum Beispiel auch der Bundesrepublik, wäre, wenn es auf deutschem Boden, zu den Strukturen, die sich dort entwickelt haben, und die ich jetzt gar nicht weiter kritisieren will, eine Alternative gäbe.“ Damit steht Christa Wolf nicht allein, die bereits am 8. November einen leidenschaftlichen Appell verlas, der DDR nicht den Rücken zu kehren und dazu aufrief, „eine wahrhaft demokratische Gesellschaft zu gestalten, die die Vision eines demokratischen Sozialismus bewahrt“. Auch Jens Reich, einer der namhaften Gründungsmitglieder des Neuen Forums und späterer Bundespräsidentschaftskandidat, stimmt Ende Oktober ein: „Vielleicht gibt es eine Chance, dass wir eine alternative Form eines deutschen Staates aufbauen können.“ Für die Motivation zitiert er eine Studentin: „Wir sind natürlich ärmer, die sind reicher. Aber lustiger, fröhlicher, freier als die Bundesrepublik!“
Unterstützung erhalten Reich und Wolf von Bärbel Bohley, der mächtigen Wortführerin der größten Oppositionsgruppierung. Sie lässt sich mit dem Satz zitieren: „Das Neue Forum wolle die DDR bewahren und inhaltlich ändern.“ Es folgt ein Seitenhieb gegen die Bundesrepublik: „Wir wollen über uns selbst bestimmen und uns das, was uns 40 Jahre verwehrt wurde, auch nicht von der BRD nehmen lassen.“ Assistiert wird ihr ausgerechnet von Walter Momper, dem Regierenden Bürgermeister, der in einer Rede vor dem Abgeordnetenhaus Berlin erklärt: „Die kritischen und oppositionellen Gruppen in der DDR wollen vielmehr soziale Demokratie und den dritten Weg eines demokratischen Sozialismus“.
Momper spricht damit für einen beachtlichen Teil der Opposition. Doch ist das nur die halbe Wahrheit. Deutlich wird dies an den Reaktionen auf ein zweites, die DDR-Gesellschaft nun gänzlich polarisierendes Papier. Es ist Helmut Kohls 10-Punkte-Programm, das seine Ehefrau Hannelore fast zeitgleich auf eine alte Reiseschreibmaschine tippt. Der Text, so heimlich wie privat im heimischen Wohnzimmer erstellt, wird vom Bundeskanzler unabgestimmt mit den Alliierten und den Koalitionspartnern im Bonner Bundestag verkündet. Genscher und die FDP toben, ebenso die SPD-Opposition und die Alliierten. Gorbatschow ist offiziell „überrascht“, während er im kleinen Kreis Kohl das Benehmen eines Elefanten im Porzellanladen attestiert.
Inhaltlich skizziert der Bundeskanzler einen Weg zur deutschen Einheit, der über freie Wahlen, enge Kooperationen und föderative Strukturen geht. Sein Zeithorizont, so gesteht er später, sind fünf bis zehn Jahre. An beiden Papieren, die in ihrer Wirkung gegensätzlicher nicht sein können, scheiden sich die Geister. Vor allem bei den Oppositionsgruppierungen in der DDR, deren frühere Gemeinsamkeiten schnell aufgebraucht sind. Während sich der Demokratische Aufbruch, der später in der Allianz für Deutschland aufgehen soll, hinter den Kohl-Plan stellt und sogar zur Wahl einer „Deutschen Nationalversammlung“ aufruft und die Sozialdemokratische Partei die „Einheit der Nation“ beschwört, aber eine Wiedervereinigung im Sinne eines Anschlusses ablehnt, ist die Ablehnung der Vertreter von Demokratie Jetzt, Neues Forum, Initiative Frieden und Menschenrechte umso deutlicher. Ganz im Sinne dieser Diktion ist der Entwurf einer Programmerklärung des Neuen Forum. Dort heißt es: „Die Zweistaatlichkeit Deutschlands ist für uns eine Chance demokratischer Selbstverwirklichung.“ Reinhard Schult, einflussreiches Gründungsmitglied des Neuen Forum wird deutlicher: „Die Wiedervereinigung ist für uns kein Thema. Wir finden dieses CDU-Gedudel von den Schwestern und Brüdern nervend und widerlich.“
Fremdeln mit dem Kapitalismus
Weniger drastisch bestätigt Jens Reich in einem Interview der BBC, „dass die Mehrheit unserer Anhänger gegen eine kapitalistische Gesellschaft ist. Sie hätten lieber einen Wiederaufbau, eine Reform des Sozialismus, so dass er für die Mehrheit der Bevölkerung akzeptabel ist.“ Reich bestätigt damit eine Befragung des Instituts für Soziologie und Sozialpolitik der Akademie der Wissenschaften, derzufolge es einerseits 87 Prozent der DDR-Bürger vorziehen, in ihrer Heimat zu bleiben, andererseits aber nur 55 Prozent den Aufbau eines demokratischen Sozialismus für möglich halten. Inwiefern die Zahlen belastbar sind, ist fraglich, zumal das Leipziger Jugendinstitut in seiner Umfrage von Ende November 1989 Einheitsbefürworter und Einheitsgegner gleichauf sieht. Auf den Demonstrationen, die, wie spätere Umfragen belegen, den harten Kern der Einheitsbefürworter repräsentieren, hört sich dies anders an. Dort hat die Straße das Thema an sich gerissen, in deren Folge eine deutliche Differenzierung zwischen einem Teil der Bürgerrechtsbewegung und den demonstrierenden Massen beginnt. Allerdings sind auch regionale Unterschiede nicht zu übersehen. Insbesondere in Sachsen und Thüringen ist eine Wiedervereinigung das alles beherrschende Thema, während mit dem ‚Aufruf für unser Land‘ niemand etwas anfangen kann. Auf der Leipziger Montagsdemonstration am 27. November 1989 fordern 200.000 Menschen in Sprechchören ‚Deutschland einig Vaterland‘. Eine Woche später sind bei immerhin 150.000 Menschen bereits zahlreiche schwarz-rot-goldene Fahnen zu sehen. Bezeichnend für die Stimmungslage ist ein Auftritt Vera Lengsfelds, Mitglied der neuen Grünen Partei, auf einer Montagsdemonstration in Leipzig. „Am 6. Dezember 1989“, so Lengsfeld wörtlich, „habe ich für eine eigenständige Entwicklung der DDR geworben. Der Beifall war dünn, die Ablehnung überwältigend.“
Vergeblich stemmen sich die Befürworter einer Alternative gegen die Entwicklungen. Neben der SED, die Anfang Dezember den dritten Weg für sich entdeckt, verteidigen nun ausgerechnet jene politischen Kräfte die DDR, die zu den stärksten Widersachern des SED-Staates gehörten. Während die in der Nationalen Front vereinten einst staatstragenden Blockparteien, allen voran die Ost-CDU, sehr schnell dem Sozialismus abschwören und zugleich die deutsche Einheit nicht mehr ausschließen, vertreten Teile der oppositionellen Gruppen und Vereinigungen weiterhin das „Ideal vom Sozialismus“ und damit die Selbstständigkeit der DDR. Die Entwicklung können sie freilich nicht aufhalten. Dazu zählt auch die Tatsache, dass bis zum Jahreswechsel weitere 344.000 Menschen die DDR verlassen.
Kapitulation vor den Entwicklungen
So bleibt ein Stück Enttäuschung für jene zurück, die sich eine andere Entwicklung vorgestellt hatten. Friedrich Schorlemmer bekennt: „Meine größte Selbsttäuschung war gewesen, dass ich geglaubt hatte, eine relative Mehrheit würde bereit und in der Lage sein, alles daran zu setzen, aus der DDR nicht eine bloße Kopie der Bundesrepublik zu machen“. Auch Christa Wolf, die den Aufruf „Für unser Land“ formulierte, bekennt am 31. Januar 1990 anlässlich einer Dankesrede zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Hildesheim ihre Selbsttäuschung und Niederlage: „Dieser Aufbruch kam wohl um Jahre zu spät, die Schäden in vielen Menschen und im Land gehen zu tief, der zügellose Machtmissbrauch hat die Werte, in deren Namen er geschah, diskreditiert und zersetzt, innerhalb weniger Wochen schwanden vor unseren Augen die Chancen für einen neuen Ansatz zu einer alternativen Gesellschaft, damit auch für den Bestand unseres Landes.“
Der „dritte Weg“ war eine Fiktion, eine Chimäre, geboren, ohne jemals lebensfähig zu sein. Dennoch hat diese Fiktion, bereits todgeweiht, für einige Monate Bestand und zieht viele der Oppositionellen, auch Künstler und Intellektuelle, die an die Überlebensfähigkeit eines „dritten Weges“ glauben, in ihren Bann. Sein Schicksal war mit dem Fall der Mauer und dem Einzug der Freiheit endgültig besiegelt. Er setzte ein hohes Maß an Idealismus voraus. Den aufzubringen waren am Ende nur wenige Intellektuelle bereit, nicht aber die Bevölkerung, die die ersten freien Wahlen auch angesichts der desaströsen wirtschaftlichen Lage zu einem klaren Plebiszit für eine schnelle Vereinigung macht. Auch Konrad Weiß muss in einem Vortrag zehn Jahre später eingestehen: „Mein Konzept war politische Träumerei.“
Der Aufruf „Für unser Land“ von 31 DDR-Bürgern geht auf eine Idee des Pfarrers Dick Boer zurück. Die Endfassung dieses Textes stammt von Christa Wolf. Verlesen wurde sie auf einer Pressekonferenz in Ostberlin am 28. November 1989 von Stefan Heym. Unterstützung erhielt er unter anderem durch den Aufruf „Für Euer Land, für unser Land“ von Gewerkschaftsführern, Kommunalpolitikern, Schriftstellern, Wissenschaftlern und Theologen aus der BRD.
200.000 Personen unterzeichneten „Für unser Land“ innerhalb der ersten zwei Wochen, darunter der SED-Generalsekretär Egon Krenz und Lothar de Maizière, späterer Ministerpräsident der DDR. Nach Beendigung der Unterschriftenaktion durch die Initiatoren am 19. Januar 1990 wurden 1,17 Millionen Zustimmungen und 9.273 Ablehnungen bekannt gegeben. Als Hinderungsgrund für eine noch größere Zustimmung wurde die Unterzeichnung durch Egon Krenz vermutet. Für unser Land Unser Land steckt in einer tiefen Krise. Wie wir bisher gelebt haben, können und wollen wir nicht mehr leben. Die Führung einer Partei hatte sich die Herrschaft über das Volk und seine Vertretungen angemaßt, vom Stalinismus geprägte Strukturen hatten alle Lebensbereiche durchdrungen. Gewaltfrei, durch Massendemonstrationen hat das Volk den Prozeß der revolutionären Erneuerung erzwungen, der sich in atemberaubender Geschwindigkeit vollzieht. Uns bleibt nur wenig Zeit, auf die verschiedenen Möglichkeiten Einfluß zu nehmen, die sich als Auswege aus der Krise anbieten. Entweder Oder Laßt uns den ersten Weg gehen. Noch haben wir die Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln. Noch können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind. Alle Bürgerinnen und Bürger, die unsere Hoffnung und unsere Sorge teilen, rufen wir auf, sich diesem Appell durch ihre Unterschrift anzuschließen. Berlin, den 26. November 1989 Götz Berger, Rechtsanwalt; Wolfgang Berghofer, Kommunalpolitiker; Frank Beyer, Regisseur; Volker Braun, Schriftsteller; Reinhard Brühl, Militärhistoriker; Tamara Danz, Rocksängerin; Christoph Demke, Bischof; Siegrid England, Pädagogin; Bernd Gehrke, Ökonom; Sighard Gille, Maler; Stefan Heym, Schriftsteller; Uwe Jahn, Konstruktionsleiter; Gerda Jun, Ärztin/Psychotherapeutin; Dieter Klein, Politökonom; Günter Krusche, Generalsuperintendent; Brigitte Lebentrau, Biologin; Bernd P. Löwe, Friedensforscher; Thomas Montag, Mediziner; Andreas Pella, Bauingenieur; Sebastian Pflugbeil, Physiker, Ulrike Poppe, Hausfrau; Martin Schmidt, Ökonom; Friedrich Schorlemmer, Pfarrer; Andree Türpe, Philosoph; Jutta Wachowiak, Schauspielerin; Heinz Warzecha, Generaldirektor; Konrad Weiss, Filmemacher; Angela Wintgen, Zahnärztin; Christa Wolf, Schriftstellerin; Ingeborg Graße, Krankenschwester Walter Janka, der - wie bekanntgegeben wurde - aus organisatorischen Gründen an der Pressekonferenz nicht teilnehmen konnte - stimmt dem Aufruf zu, hat diesen noch nicht unterzeichnet. |