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„Für unser Land“: Wie die Geschichte den Aufruf zu einem dritten Weg überrollte

Ende 1989 wur­de von nam­haf­ten DDR-Bür­gern ein Auf­ruf ver­öf­fent­licht, für Refor­men in Eigen­re­gie ein­zu­tre­ten, statt direkt der BRD bei­zu­tre­ten. Dr. Andre­as H. Apelt, Beauf­trag­ter des Vor­stan­des der Deut­schen Gesell­schaft e.V., beschreibt, wie die­ser Traum eines „drit­ten Weges“ von der Rea­li­tät der Wie­der­ver­ei­ni­gung ein­ge­holt wurde.

Dr. Andreas H. Apelt ist Mitbegründer von Deutsche Gesellschaft e.V.. Abbildung: Yasin Jonathan Kandil

Dr. Andre­as H. Apelt, Mit­be­grün­der der Deut­schen Gesell­schaft e.V. Abbil­dung: Yasin Jona­than Kandil

Als vor 35 Jah­ren, Ende Janu­ar 1990, die bis dahin größ­te Unter­schrif­ten­ak­ti­on in der Geschich­te Nach­kriegs­deutsch­lands ihr Ende fin­det, nimmt kaum jemand von den Ergeb­nis­sen Notiz. Dabei haben von den gut 16 Mil­lio­nen DDR-Bür­gern über eine Mil­li­on, genau 1.167.048, den Auf­ruf unter­schrie­ben. Und das noch per Hand inklu­si­ve einer Post­ver­schi­ckung. Eine Erklä­rung ist ein­fach: Der Auf­ruf wur­de in den sie­ben Wochen sei­nes Bestehens von der Geschich­te überholt.

Die größte Unterschriftenaktion in der Geschichte Nachkriegsdeutschlands

Was war gesche­hen? Am 29. Novem­ber 1989 ver­öf­fent­licht aus­ge­rech­net das Zen­tral­or­gan der SED, das Neue Deutsch­land, einen Auf­ruf von DDR-Oppo­si­tio­nel­len und nam­haf­ten Künst­lern und Intel­lek­tu­el­len. Unter ihnen: Frank Bey­er, Vol­ker Braun, Tama­ra Danz, Sig­hard Gil­le, Wal­ter Jan­ka, Fried­rich Schor­lem­mer, Jut­ta Wacho­wi­ak. Unter der Über­schrift „Für unser Land“ beken­nen sich 31 Erst­un­ter­zeich­ner zur „Eigen­stän­dig­keit der DDR“ und for­dern, kei­ne zwan­zig Tage nach dem Mau­er­fall, eine „sozia­lis­ti­sche Alter­na­ti­ve zur Bun­des­re­pu­blik zu entwickeln.“

Kon­zept und Text­ent­wür­fe stam­men von Kon­rad Weiß, Fil­me­ma­cher und Mit­glied der oppo­si­tio­nel­len Grup­pie­rung „Demo­kra­tie Jetzt“, dem Gene­ral­su­per­in­ten­den­ten Gün­ter Kru­sche und Die­ter Klein, SED-Phi­lo­soph und Pro­rek­tor für Gesell­schafts­wis­sen­schaf­ten der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät. Die Schluss­re­dak­ti­on über­nimmt die Schrift­stel­le­rin Chris­ta Wolf, wäh­rend Ste­fan Heym, eben­falls nam­haf­ter Autor und zudem aus­ge­wie­se­ner SED-Geg­ner den Text der inter­na­tio­na­len Pres­se vor­stellt. Kon­rad Weiß bekennt zwar spä­ter, dass er „die DDR und die deut­sche Zwei­staat­lich­keit nicht kon­ser­viert wis­sen“ woll­te. Doch lässt der Auf­ruf kaum eine ande­re Inter­pre­ta­ti­on zu. Dies zeigt die Ber­li­ner Pres­se­kon­fe­renz vom 28. Novem­ber 1989, auf der Ste­fan Heym sich für den Erhalt der DDR aus­spricht und die von Hel­mut Kohl begon­ne­nen „Ouver­tü­ren zur Ver­ein­nah­mung“ ablehnt. „Wenn wir jetzt ver­su­chen, wirk­lich Sozia­lis­mus auf­zu­bau­en, eine neue bes­se­re Gesell­schaft zu gestal­ten“, so betont der Schrift­stel­ler, „zei­ge dies die Stär­ke des gro­ßen Traums, für den so vie­le Men­schen ange­tre­ten sind.“

Beifall von der falschen Seite

Zugleich beginnt eine umfang­rei­che Wer­be­kam­pa­gne, getra­gen von den SED-nahen Staats­me­di­en. So titelt das Neue Deutsch­land mit der dem Text ent­nom­me­nen Über­schrift: „Noch haben wir die Chan­ce einer sozia­lis­ti­schen Alter­na­ti­ve zur BRD.“ Selbst die Pri­vat­adres­sen der bei­den Unter­zeich­ner, denen die zustim­men­den Unter­schrif­ten zuge­sandt wer­den sol­len, fin­den sich im Auf­ma­cher. Auf Sei­te zwei wird der Auf­ruf in vol­ler Län­ge nebst allen Erst­un­ter­zeich­nern abge­druckt. Er beschreibt ein Ent­we­der-oder-Sze­na­rio, wobei der Eigen­stän­dig­keit einer „soli­da­ri­schen Gesell­schaft, in der Frie­den und sozia­le Gerech­tig­keit … gewähr­leis­tet sind“, der „Aus­ver­kauf mate­ri­el­ler und mora­li­scher Wer­te“ ent­ge­gen­ge­stellt wird. Der Text ist ein Plä­doy­er für die weit­ver­brei­te­te Hoff­nung eines „drit­ten Weges“, obgleich es dafür von Sei­ten der Oppo­si­tio­nel­len nicht ein­mal eine gemein­sa­me Defi­ni­ti­on gibt. Zu unter­schied­lich sind die Inter­pre­ta­tio­nen. Die Kon­zept­lo­sig­keit beklagt schon Joa­chim Gauck, damals Neu­es Forum. Bleibt die dif­fu­se Vor­stel­lung von einem Son­der­weg, der die ver­meint­li­chen Vor­tei­le bei­der Gesell­schafts­sys­te­me ver­eint. Ver­bun­den wird er mit dem Glau­ben an eine idea­le Gesell­schafts­form, die Staat und Sozia­lis­mus für die Bür­ger hof­fä­hig und akzep­ta­bel macht. So gese­hen ein idea­li­sier­tes Gemein­we­sen, das unab­hän­gig von den gro­ßen Blö­cken und poli­ti­schen Lagern agiert. Der Reiz eines ent­sta­li­ni­sier­ten Lan­des, so die Vor­stel­lung, könn­te selbst für vie­le West­deut­sche die DDR zum erstre­bens­wer­ten Ziel machen.

Neuanfang mit der Vision von einem demokratischen Sozialismus

Der Appell fällt nicht vom Him­mel. Vor­aus­ge­gan­gen waren zahl­rei­che Wort­mel­dun­gen, wie die vom 4. Novem­ber bei der Groß­de­mons­tra­ti­on auf dem Alex­an­der­platz. Schon Anfang Okto­ber 1989 bekennt Chris­ta Wolf, dass sie einer Alter­na­ti­ve mit dem Namen DDR anhängt: „Aber mir scheint, dass es im wohl­ver­stan­de­nen Inter­es­se, zum Bei­spiel auch der Bun­des­re­pu­blik, wäre, wenn es auf deut­schem Boden, zu den Struk­tu­ren, die sich dort ent­wi­ckelt haben, und die ich jetzt gar nicht wei­ter kri­ti­sie­ren will, eine Alter­na­ti­ve gäbe.“ Damit steht Chris­ta Wolf nicht allein, die bereits am 8. Novem­ber einen lei­den­schaft­li­chen Appell ver­las, der DDR nicht den Rücken zu keh­ren und dazu auf­rief, „eine wahr­haft demo­kra­ti­sche Gesell­schaft zu gestal­ten, die die Visi­on eines demo­kra­ti­schen Sozia­lis­mus bewahrt“. Auch Jens Reich, einer der nam­haf­ten Grün­dungs­mit­glie­der des Neu­en Forums und spä­te­rer Bun­des­prä­si­dent­schafts­kan­di­dat, stimmt Ende Okto­ber ein: „Viel­leicht gibt es eine Chan­ce, dass wir eine alter­na­ti­ve Form eines deut­schen Staa­tes auf­bau­en kön­nen.“ Für die Moti­va­ti­on zitiert er eine Stu­den­tin: „Wir sind natür­lich ärmer, die sind rei­cher. Aber lus­ti­ger, fröh­li­cher, frei­er als die Bundesrepublik!“

Unter­stüt­zung erhal­ten Reich und Wolf von Bär­bel Boh­ley, der mäch­ti­gen Wort­füh­re­rin der größ­ten Oppo­si­ti­ons­grup­pie­rung. Sie lässt sich mit dem Satz zitie­ren: „Das Neue Forum wol­le die DDR bewah­ren und inhalt­lich ändern.“ Es folgt ein Sei­ten­hieb gegen die Bun­des­re­pu­blik: „Wir wol­len über uns selbst bestim­men und uns das, was uns 40 Jah­re ver­wehrt wur­de, auch nicht von der BRD neh­men las­sen.“ Assis­tiert wird ihr aus­ge­rech­net von Wal­ter Mom­per, dem Regie­ren­den Bür­ger­meis­ter, der in einer Rede vor dem Abge­ord­ne­ten­haus Ber­lin erklärt: „Die kri­ti­schen und oppo­si­tio­nel­len Grup­pen in der DDR wol­len viel­mehr sozia­le Demo­kra­tie und den drit­ten Weg eines demo­kra­ti­schen Sozialismus“.

Mom­per spricht damit für einen beacht­li­chen Teil der Oppo­si­ti­on. Doch ist das nur die hal­be Wahr­heit. Deut­lich wird dies an den Reak­tio­nen auf ein zwei­tes, die DDR-Gesell­schaft nun gänz­lich pola­ri­sie­ren­des Papier. Es ist Hel­mut Kohls 10-Punk­te-Pro­gramm, das sei­ne Ehe­frau Han­ne­lo­re fast zeit­gleich auf eine alte Rei­se­schreib­ma­schi­ne tippt. Der Text, so heim­lich wie pri­vat im hei­mi­schen Wohn­zim­mer erstellt, wird vom Bun­des­kanz­ler unab­ge­stimmt mit den Alli­ier­ten und den Koali­ti­ons­part­nern im Bon­ner Bun­des­tag ver­kün­det. Gen­scher und die FDP toben, eben­so die SPD-Oppo­si­ti­on und die Alli­ier­ten. Gor­bat­schow ist offi­zi­ell „über­rascht“, wäh­rend er im klei­nen Kreis Kohl das Beneh­men eines Ele­fan­ten im Por­zel­lan­la­den attestiert.

Inhalt­lich skiz­ziert der Bun­des­kanz­ler einen Weg zur deut­schen Ein­heit, der über freie Wah­len, enge Koope­ra­tio­nen und föde­ra­ti­ve Struk­tu­ren geht. Sein Zeit­ho­ri­zont, so gesteht er spä­ter, sind fünf bis zehn Jah­re. An bei­den Papie­ren, die in ihrer Wir­kung gegen­sätz­li­cher nicht sein kön­nen, schei­den sich die Geis­ter. Vor allem bei den Oppo­si­ti­ons­grup­pie­run­gen in der DDR, deren frü­he­re Gemein­sam­kei­ten schnell auf­ge­braucht sind. Wäh­rend sich der Demo­kra­ti­sche Auf­bruch, der spä­ter in der Alli­anz für Deutsch­land auf­ge­hen soll, hin­ter den Kohl-Plan stellt und sogar zur Wahl einer „Deut­schen Natio­nal­ver­samm­lung“ auf­ruft und die Sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Par­tei die „Ein­heit der Nati­on“ beschwört, aber eine Wie­der­ver­ei­ni­gung im Sin­ne eines Anschlus­ses ablehnt, ist die Ableh­nung der Ver­tre­ter von Demo­kra­tie Jetzt, Neu­es Forum, Initia­ti­ve Frie­den und Men­schen­rech­te umso deut­li­cher. Ganz im Sin­ne die­ser Dik­ti­on ist der Ent­wurf einer Pro­gramm­er­klä­rung des Neu­en Forum. Dort heißt es: „Die Zwei­staat­lich­keit Deutsch­lands ist für uns eine Chan­ce demo­kra­ti­scher Selbst­ver­wirk­li­chung.“ Rein­hard Schult, ein­fluss­rei­ches Grün­dungs­mit­glied des Neu­en Forum wird deut­li­cher: „Die Wie­der­ver­ei­ni­gung ist für uns kein The­ma. Wir fin­den die­ses CDU-Gedu­del von den Schwes­tern und Brü­dern ner­vend und widerlich.“

Fremdeln mit dem Kapitalismus

Weni­ger dras­tisch bestä­tigt Jens Reich in einem Inter­view der BBC, „dass die Mehr­heit unse­rer Anhän­ger gegen eine kapi­ta­lis­ti­sche Gesell­schaft ist. Sie hät­ten lie­ber einen Wie­der­auf­bau, eine Reform des Sozia­lis­mus, so dass er für die Mehr­heit der Bevöl­ke­rung akzep­ta­bel ist.“ Reich bestä­tigt damit eine Befra­gung des Insti­tuts für Sozio­lo­gie und Sozi­al­po­li­tik der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten, der­zu­fol­ge es einer­seits 87 Pro­zent der DDR-Bür­ger vor­zie­hen, in ihrer Hei­mat zu blei­ben, ande­rer­seits aber nur 55 Pro­zent den Auf­bau eines demo­kra­ti­schen Sozia­lis­mus für mög­lich hal­ten. Inwie­fern die Zah­len belast­bar sind, ist frag­lich, zumal das Leip­zi­ger Jugend­in­sti­tut in sei­ner Umfra­ge von Ende Novem­ber 1989 Ein­heits­be­für­wor­ter und Ein­heits­geg­ner gleich­auf sieht. Auf den Demons­tra­tio­nen, die, wie spä­te­re Umfra­gen bele­gen, den har­ten Kern der Ein­heits­be­für­wor­ter reprä­sen­tie­ren, hört sich dies anders an. Dort hat die Stra­ße das The­ma an sich geris­sen, in deren Fol­ge eine deut­li­che Dif­fe­ren­zie­rung zwi­schen einem Teil der Bür­ger­rechts­be­we­gung und den demons­trie­ren­den Mas­sen beginnt. Aller­dings sind auch regio­na­le Unter­schie­de nicht zu über­se­hen. Ins­be­son­de­re in Sach­sen und Thü­rin­gen ist eine Wie­der­ver­ei­ni­gung das alles beherr­schen­de The­ma, wäh­rend mit dem ‚Auf­ruf für unser Land‘ nie­mand etwas anfan­gen kann. Auf der Leip­zi­ger Mon­tags­de­mons­tra­ti­on am 27. Novem­ber 1989 for­dern 200.000 Men­schen in Sprech­chö­ren ‚Deutsch­land einig Vater­land‘. Eine Woche spä­ter sind bei immer­hin 150.000 Men­schen bereits zahl­rei­che schwarz-rot-gol­de­ne Fah­nen zu sehen. Bezeich­nend für die Stim­mungs­la­ge ist ein Auf­tritt Vera Lengs­felds, Mit­glied der neu­en Grü­nen Par­tei, auf einer Mon­tags­de­mons­tra­ti­on in Leip­zig. „Am 6. Dezem­ber 1989“, so Lengs­feld wört­lich, „habe ich für eine eigen­stän­di­ge Ent­wick­lung der DDR gewor­ben. Der Bei­fall war dünn, die Ableh­nung überwältigend.“

Ver­geb­lich stem­men sich die Befür­wor­ter einer Alter­na­ti­ve gegen die Ent­wick­lun­gen. Neben der SED, die Anfang Dezem­ber den drit­ten Weg für sich ent­deckt, ver­tei­di­gen nun aus­ge­rech­net jene poli­ti­schen Kräf­te die DDR, die zu den stärks­ten Wider­sa­chern des SED-Staa­tes gehör­ten. Wäh­rend die in der Natio­na­len Front ver­ein­ten einst staats­tra­gen­den Block­par­tei­en, allen vor­an die Ost-CDU, sehr schnell dem Sozia­lis­mus abschwö­ren und zugleich die deut­sche Ein­heit nicht mehr aus­schlie­ßen, ver­tre­ten Tei­le der oppo­si­tio­nel­len Grup­pen und Ver­ei­ni­gun­gen wei­ter­hin das „Ide­al vom Sozia­lis­mus“ und damit die Selbst­stän­dig­keit der DDR. Die Ent­wick­lung kön­nen sie frei­lich nicht auf­hal­ten. Dazu zählt auch die Tat­sa­che, dass bis zum Jah­res­wech­sel wei­te­re 344.000 Men­schen die DDR verlassen.

Kapitulation vor den Entwicklungen

So bleibt ein Stück Ent­täu­schung für jene zurück, die sich eine ande­re Ent­wick­lung vor­ge­stellt hat­ten. Fried­rich Schor­lem­mer bekennt: „Mei­ne größ­te Selbst­täu­schung war gewe­sen, dass ich geglaubt hat­te, eine rela­ti­ve Mehr­heit wür­de bereit und in der Lage sein, alles dar­an zu set­zen, aus der DDR nicht eine blo­ße Kopie der Bun­des­re­pu­blik zu machen“. Auch Chris­ta Wolf, die den Auf­ruf „Für unser Land“ for­mu­lier­te, bekennt am 31. Janu­ar 1990 anläss­lich einer Dan­kes­re­de zur Ver­lei­hung der Ehren­dok­tor­wür­de der Uni­ver­si­tät Hil­des­heim ihre Selbst­täu­schung und Nie­der­la­ge: „Die­ser Auf­bruch kam wohl um Jah­re zu spät, die Schä­den in vie­len Men­schen und im Land gehen zu tief, der zügel­lo­se Macht­miss­brauch hat die Wer­te, in deren Namen er geschah, dis­kre­di­tiert und zer­setzt, inner­halb weni­ger Wochen schwan­den vor unse­ren Augen die Chan­cen für einen neu­en Ansatz zu einer alter­na­ti­ven Gesell­schaft, damit auch für den Bestand unse­res Landes.“

Der „drit­te Weg“ war eine Fik­ti­on, eine Chi­mä­re, gebo­ren, ohne jemals lebens­fä­hig zu sein. Den­noch hat die­se Fik­ti­on, bereits tod­ge­weiht, für eini­ge Mona­te Bestand und zieht vie­le der Oppo­si­tio­nel­len, auch Künst­ler und Intel­lek­tu­el­le, die an die Über­le­bens­fä­hig­keit eines „drit­ten Weges“ glau­ben, in ihren Bann. Sein Schick­sal war mit dem Fall der Mau­er und dem Ein­zug der Frei­heit end­gül­tig besie­gelt. Er setz­te ein hohes Maß an Idea­lis­mus vor­aus. Den auf­zu­brin­gen waren am Ende nur weni­ge Intel­lek­tu­el­le bereit, nicht aber die Bevöl­ke­rung, die die ers­ten frei­en Wah­len auch ange­sichts der desas­trö­sen wirt­schaft­li­chen Lage zu einem kla­ren Ple­bis­zit für eine schnel­le Ver­ei­ni­gung macht. Auch Kon­rad Weiß muss in einem Vor­trag zehn Jah­re spä­ter ein­ge­ste­hen: „Mein Kon­zept war poli­ti­sche Träumerei.“

Der Auf­ruf „Für unser Land“ von 31 DDR-Bür­gern geht auf eine Idee des Pfar­rers Dick Boer zurück. Die End­fas­sung die­ses Tex­tes stammt von Chris­ta Wolf. Ver­le­sen wur­de sie auf einer Pres­se­kon­fe­renz in Ost­ber­lin am 28. Novem­ber 1989 von Ste­fan Heym. Unter­stüt­zung erhielt er unter ande­rem durch den Auf­ruf „Für Euer Land, für unser Land“ von Gewerk­schafts­füh­rern, Kom­mu­nal­po­li­ti­kern, Schrift­stel­lern, Wis­sen­schaft­lern und Theo­lo­gen aus der BRD.

200.000 Per­so­nen unter­zeich­ne­ten „Für unser Land“ inner­halb der ers­ten zwei Wochen, dar­un­ter der SED-Gene­ral­se­kre­tär Egon Krenz und Lothar de Mai­ziè­re, spä­te­rer Minis­ter­prä­si­dent der DDR. Nach Been­di­gung der Unter­schrif­ten­ak­ti­on durch die Initia­to­ren am 19. Janu­ar 1990 wur­den 1,17 Mil­lio­nen Zustim­mun­gen und 9.273 Ableh­nun­gen bekannt gege­ben. Als Hin­de­rungs­grund für eine noch grö­ße­re Zustim­mung wur­de die Unter­zeich­nung durch Egon Krenz vermutet.

Für unser Land

Unser Land steckt in einer tie­fen Kri­se. Wie wir bis­her gelebt haben, kön­nen und wol­len wir nicht mehr leben. Die Füh­rung einer Par­tei hat­te sich die Herr­schaft über das Volk und sei­ne Ver­tre­tun­gen ange­maßt, vom Sta­li­nis­mus gepräg­te Struk­tu­ren hat­ten alle Lebens­be­rei­che durch­drun­gen. Gewalt­frei, durch Mas­sen­de­mons­tra­tio­nen hat das Volk den Pro­zeß der revo­lu­tio­nä­ren Erneue­rung erzwun­gen, der sich in atem­be­rau­ben­der Geschwin­dig­keit voll­zieht. Uns bleibt nur wenig Zeit, auf die ver­schie­de­nen Mög­lich­kei­ten Ein­fluß zu neh­men, die sich als Aus­we­ge aus der Kri­se anbieten.

Ent­we­der
kön­nen wir auf der Eigen­stän­dig­keit der DDR bestehen und ver­su­chen, mit allen unse­ren Kräf­ten und in Zusam­men­ar­beit mit den­je­ni­gen Staa­ten und Inter­es­sen­grup­pen, die dazu bereit sind, in unse­rem Land eine soli­da­ri­sche Gesell­schaft zu ent­wi­ckeln, in der Frie­den und sozia­le Gerech­tig­keit, Frei­heit des ein­zel­nen, Frei­zü­gig­keit aller und die Bewah­rung der Umwelt gewähr­leis­tet sind.

Oder
wir müs­sen dul­den, daß, ver­an­laßt durch star­ke öko­no­mi­sche Zwän­ge und durch unzu­mut­ba­re Bedin­gun­gen, an die ein­fluß­rei­che Krei­se aus Wirt­schaft und Poli­tik in der Bun­des­re­pu­blik ihre Hil­fe für die DDR knüp­fen, ein Aus­ver­kauf unse­rer mate­ri­el­len und mora­li­schen Wer­te beginnt und über kurz oder lang die Deut­sche Demo­kra­ti­sche Repu­blik durch die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ver­ein­nahmt wird.

Laßt uns den ers­ten Weg gehen. Noch haben wir die Chan­ce, in gleich­be­rech­tig­ter Nach­bar­schaft zu allen Staa­ten Euro­pas eine sozia­lis­ti­sche Alter­na­ti­ve zur Bun­des­re­pu­blik zu ent­wi­ckeln. Noch kön­nen wir uns besin­nen auf die anti­fa­schis­ti­schen und huma­nis­ti­schen Idea­le, von denen wir einst aus­ge­gan­gen sind.

Alle Bür­ge­rin­nen und Bür­ger, die unse­re Hoff­nung und unse­re Sor­ge tei­len, rufen wir auf, sich die­sem Appell durch ihre Unter­schrift anzuschließen.

Ber­lin, den 26. Novem­ber 1989

Götz Ber­ger, Rechts­an­walt; Wolf­gang Berg­ho­fer, Kom­mu­nal­po­li­ti­ker; Frank Bey­er, Regis­seur; Vol­ker Braun, Schrift­stel­ler; Rein­hard Brühl, Mili­tär­his­to­ri­ker; Tama­ra Danz, Rock­sän­ge­rin; Chris­toph Dem­ke, Bischof; Sie­grid Eng­land, Päd­ago­gin; Bernd Gehr­ke, Öko­nom; Sig­hard Gil­le, Maler; Ste­fan Heym, Schrift­stel­ler; Uwe Jahn, Kon­struk­ti­ons­lei­ter; Ger­da Jun, Ärztin/Psychotherapeutin; Die­ter Klein, Polit­öko­nom; Gün­ter Kru­sche, Gene­ral­su­per­in­ten­dent; Bri­git­te Leben­trau, Bio­lo­gin; Bernd P. Löwe, Frie­dens­for­scher; Tho­mas Mon­tag, Medi­zi­ner; Andre­as Pel­la, Bau­in­ge­nieur; Sebas­ti­an Pflug­beil, Phy­si­ker, Ulri­ke Pop­pe, Haus­frau; Mar­tin Schmidt, Öko­nom; Fried­rich Schor­lem­mer, Pfar­rer; And­ree Tür­pe, Phi­lo­soph; Jut­ta Wacho­wi­ak, Schau­spie­le­rin; Heinz War­zecha, Gene­ral­di­rek­tor; Kon­rad Weiss, Fil­me­ma­cher; Ange­la Wint­gen, Zahn­ärz­tin; Chris­ta Wolf, Schrift­stel­le­rin; Inge­borg Gra­ße, Krankenschwester

Wal­ter Jan­ka, der - wie bekannt­ge­ge­ben wur­de - aus orga­ni­sa­to­ri­schen Grün­den an der Pres­se­kon­fe­renz nicht teil­neh­men konn­te - stimmt dem Auf­ruf zu, hat die­sen noch nicht unterzeichnet.

 

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