Nach kurzer Babypause hat die Ostbeauftragte Elisabeth Kaiser (SPD) längst ihre Arbeit aufgenommen. Wird sie in ihrem Amt eher den Finger in die Wunde legen oder lieber das Erreichte betonen? Im Wirtschaft+Markt-Interview zeigt die Staatsministerin, dass sie beides kann. Wir trafen sie im Bundesfinanzministerium.

Elisabeth Kaiser (SPD) ist Staatsministerin und Beauftragte der Bundesregierung für Ostdeutschland beim Bundesminister der Finanzen. Abbildung: ostdeutschland.info
W+M: Frau Staatsministerin, am 3. Oktober wurden 35 Jahre deutsche Einheit gefeiert. Wie blicken Sie auf die Feierlichkeiten zurück?
Elisabeth Kaiser: Am Tag der Deutschen Einheit gibt es einiges zu feiern. Es ist viel erreicht worden in Ostdeutschland, zum Beispiel in Bezug auf den Ausbau der Infrastruktur, die erfolgreichen Wirtschaftsansiedlungen und die Verbesserungen der Umwelt. Vor allem aber, dass wir in einem freien, demokratischen Land leben. Das weiß ich auch persönlich sehr zu schätzen: Die Chancen, die sich mir geboten haben, hatten meine Eltern in der DDR so nicht. Ich bin grundsätzlich froh über die Wiedervereinigung und blicke zuversichtlich nach vorn.
Allerdings ist auch noch einiges zu tun. Wir haben nach 35 Jahren noch immer keine gleichwertigen Lebensverhältnisse in Ost und West. Es gibt große Unterschiede bei Vermögen und Löhnen. Die Struktur der Wirtschaft ist in Ostdeutschland kleinteiliger und dadurch weniger resilient. Die starke Abwanderung in den 1990er-Jahren stellt uns heute vor besondere demografische Probleme. Besorgniserregend finde ich auch, dass sich nach wie vor viele Ostdeutsche als Menschen zweiter Klasse behandelt fühlen.
Das sind Themen, die auf die öffentliche Stimmung drücken und die mich intensiv beschäftigen. Unsere Aufgabe als Bundesregierung ist es, mit guter Politik dagegen anzuarbeiten.
Es wurde kritisiert, dass die Ostdeutschen bei den Feierlichkeiten wieder unterpräsentiert waren ...
Es ist natürlich toll, wenn der französische Präsident bei den Einheitsfeierlichkeiten spricht. Das hat noch einmal betont, wie wichtig die europäische Dimension der deutschen Einheit ist. Aber es kam niemand mit ostdeutscher Perspektive zu Wort. Das war schade. Der Festakt war ansonsten sehr schön und würdig gestaltet. Ich hoffe, dass man im nächsten Jahr Ostdeutsche stärker berücksichtigt.
Bei wie viel Prozent sehen Sie das Projekt Wiedervereinigung angekommen?
Ich glaube, hier kommt es ganz darauf an, wen man fragt. Eine erfolgreiche Unternehmerin sieht sicher weniger Probleme. Aber wenn Sie jemanden aus einer Kleinstadt befragen, die früher doppelt so viele Einwohner hatte und wo heute der Einzelhandel verschwindet und die Infrastruktur bröckelt, ist die Bilanz wahrscheinlich weniger positiv.
Natürlich gibt es auch in Westdeutschland strukturschwache Regionen, aber die Ostdeutschen haben die volle Wucht der wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Transformation erlebt, das ist schon einmalig.

Die ostdeutsche Wirtschaft hat einen hohen Stellenwert auf der Agenda der Ostbeauftragten. Besonders wichtig ist ihr aber auch die Stärkung der Zivilgesellschaft. Abbildung: ostdeutschland.info
Was ist seit 1990 besonders gut gelungen?
Einiges habe ich schon genannt. In Bezug auf die Wirtschaft gibt es heute in Ostdeutschland sogar Vorreiterregionen, etwa im Bereich der erneuerbaren Energien oder der Halbleiterindustrie. Auch in anderen Bereichen kann der Westen vom Osten lernen. Zum Beispiel orientieren sich die heutigen Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) am DDR-Konzept der Polikliniken. Auch was das Angebot der Kinderbetreuung betrifft, hat Ostdeutschland noch einen Vorsprung aus DDR-Zeiten.
Wo herrscht der größte Aufholbedarf in Ostdeutschland?
Hier sind die geringeren Löhne und Vermögen sehr wichtige Punkte. Eine stärkere Tarifbindung ist ein Hebel, da haben wir mit dem Tariftreuegesetz schon einen Grundstein gelegt. Aber wir müssen auch über das Vererben sprechen: Welche Rolle kann eine Vermögenssteuer bei der Umverteilung spielen? Auch beim Thema Ostdeutsche in Führungspositionen gibt es noch Aufholbedarf.
Wo möchten Sie in Ihrer Amtszeit Akzente setzen?
Es gilt, den Wirtschaftsstandort Ostdeutschland durch gezielte Ansiedlungen zu stärken, etwa von Unternehmen und Forschungsinstitutionen. Da besteht struktureller Nachholbedarf. Auch über den Industriestrompreis müssen wir sprechen. Außerdem hängt jeder vierte ostdeutsche Arbeitsplatz an der Automobilindustrie, im Westen ist es jeder zehnte. Hier ist es besonders wichtig, dass die Situation der Unternehmen in Ostdeutschland mit Blick auf die Transformation besonders berücksichtigt wird. Das gilt auch für die Chemieindustrie.
Beim Thema Ostdeutsche in Führungspositionen geht es darum, den Anteil zu steigern. Für die Bundesverwaltung hat sich die Bundesregierung dazu selbst verpflichtet. Und zusätzlich unterstützen wir entsprechende Netzwerke. Besonders wichtig ist mir darüber hinaus die Stärkung der Zivilgesellschaft in Ostdeutschland. Denn es ist von unschätzbarem Wert, dass Menschen von sich aus zusammenkommen, um etwas Gemeinwohlorientiertes zu bewegen – für das Dorf, die Kleinstadt, die Gemeinde.
Welchen Stellenwert hat die Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaft auf Ihrer Agenda?
Die ostdeutsche Wirtschaft hat sich sehr gut entwickelt. Jetzt bremsen weltweite Krisen das Wachstum auch bei uns. Deshalb investieren wir mit dem Sondervermögen Infrastruktur in den nächsten Jahren 500 Milliarden Euro. Davon muss auch die ostdeutsche Wirtschaft profitieren. Hier sind die Betriebe oft kleiner und stark vom Handwerk und Mittelstand geprägt. Schwächelt die Konjunktur, merken die das sehr unmittelbar, auch weil die Rücklagen kleiner sind.
Auch was künftige Ansiedlungen betrifft, braucht die Region eine starke Stimme im Kabinett. Das sehe ich als meine Aufgabe.

Frank Nehring (Mitte) und Robert Nehring interviewten die Ostbeauftragte im Bundesfinanzministerium. Abbildung: ostdeutschland.info
In der Beziehung zwischen Ost und West überwiegt für 75 Prozent der Ostdeutschen das Trennende, so eine aktuelle Forsa-Umfrage. Wie weit liegen hier möglicherweise gefühlte Wahrheit und Realität auseinander?
Einige Unterschiede zwischen Ost und West haben wir ja bereits besprochen, gerade die Punkte Einkommen oder Vermögen sorgen natürlich für Unzufriedenheit. Auch merken die Menschen, wenn gerade im ländlichen Raum viele wegziehen und es an Fachkräften fehlt, zum Beispiel im medizinischen Bereich. Durch die fehlende finanzielle Ausstattung haben Ostdeutsche geringere Rücklagen und machen sich daher stärkere Sorgen über die aktuellen und möglichen zukünftigen Krisen. Das wird gezielt von Populisten ausgenutzt und verstärkt.
Laut den aktuellen Zahlen des Elitenmonitors sind ostdeutsche Führungskräfte mit Ausnahme der Politik in nahezu allen Bereichen deutlich unterpräsentiert. Bei der Präsentation des Monitors betonten Sie aber vor allem die Fortschritte ...
Die Zahlen variieren je nach Bereich. Die Selbstverpflichtung der Bundesregierung hat dazu geführt, dass in den oberen Bundesbehörden mehr Ostdeutsche in Führungspositionen gelangt sind. Aber in der Wirtschaft oder Kultur geht der Anteil sogar zurück. Das gibt mir zu denken, deshalb lasse ich die dahinterliegenden Mechanismen erforschen und führe viele Gespräche mit Expertinnen und Experten darüber, wie man das verbessern kann.
„Reiseonkel“, „Jammerossi“ etc. – immer wieder einmal wird die Abschaffung der/des Ostbeauftragten gefordert: Wie eilig haben Sie es mit der Abschaffung des Amtes?
Natürlich muss es das Ziel sein, dass dieses Amt irgendwann nicht mehr nötig ist, aber leider ist es noch nicht so weit. Ein Vorschlag besteht darin, sich nur auf gleichwertige Lebensverhältnisse im ganzen Land zu konzentrieren. Das ist ein wichtiger Aspekt meiner Arbeit. Aber dann würde sich zum Beispiel niemand mit den Folgen der Transformationserfahrung der Ostdeutschen beschäftigen.
Auch bleibt das schlechte Image Ostdeutschlands ein Thema. In Saarbrücken sprachen mich zwei junge Frauen darauf an, dass sie sich grundsätzlich vorstellen könnten, für eine Ausbildung oder ein Studium in den Osten zu gehen. Aber sie hatten Zweifel. Aufgrund der Berichterstattung hatten sie ein vollkommen falsches, übertrieben negatives Bild von Ostdeutschland. Ich finde: Das darf heute nicht mehr sein, Ostdeutschland hat wirklich viel zu bieten. Hier sehe ich ebenfalls Handlungsbedarf.
Die AfD lag in Umfragen zuletzt bei 40 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern und bei 39 Prozent in Sachsen-Anhalt. Was ist Ihr Rezept im Umgang mit dieser Partei?
Ostdeutsche haben leider weniger finanzielle Ressourcen, gerade wenn es um den Umgang mit den aktuellen Krisen geht. Das macht sie dann auch anfälliger für Extremismus und Populismus. Da müssen wir ansetzen – übrigens auch in Westdeutschland. Außerdem ist die Parteienbindung in Ostdeutschland schwächer. Diese Nähe zur Demokratie müssen wir wiederherstellen. Dabei geht es um konkrete politische Vorbilder, aber auch um die Stärkung der Selbstwirksamkeit von Menschen, zum Beispiel durch Engagement vor Ort in den Gemeinden. Für den Umgang mit der AfD geht es um eine konkrete inhaltliche Auseinandersetzung mit den politischen Vorschlägen der Partei.
Eine neue Nationalhymne, eine neue, gemeinsame Verfassung, die Verlegung des Tags der Deutschen Einheit auf den 9. Oktober oder 9. November – wie stehen Sie zu solchen Ideen? Ließe sich mit solchen Symbolen eine gemeinsame Identität stiften?
Von solchen Debatten halte ich nichts. Was aber immer wieder nötig ist: die grundsätzliche Diskussion um die Fragen einer gemeinsamen deutschen Identität vor dem Hintergrund der verschiedenen Erfahrungen seit der Wiedervereinigung. Deshalb planen wir in Halle (Saale) auch das Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation, um dafür einen Debattenraum zu schaffen. Und um zu schauen, was wir aus den besonderen Erfahrungen der Ostdeutschen für den Umgang mit zukünftigen Krisen lernen können. Davon kann dann das ganze Land profitieren.
Vielen Dank für das Gespräch.
Die Fragen stellten Frank Nehring und Dr. Robert Nehring.
Ein Beitrag des Redaktionsnetzwerks Wirtschaft+Markt in Zusammenarbeit mit ostdeutschland.info.




























