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Die Wende und die Literatur #4: Wie eine ostdeutsche Schriftstellerin den sozialistischen Realismus elektrisierte

Im vier­ten Teil sei­ner Kolum­ne wid­met sich Dr. Tobi­as Leh­mann dem Roman „Die Geschwis­ter“ von Bri­git­te Rei­mann. Er beleuch­tet die aktu­el­le Wie­der­ent­de­ckung des Werks, des­sen auto­bio­gra­fi­sche Bezü­ge sowie den Ent­ste­hungs­hin­ter­grund im Kon­text des Bit­ter­fel­der Wegs.

Dr. Tobi­as Leh­mann hat an der Uni­ver­si­ty of Ore­gon zum The­ma Wen­de­li­te­ra­tur pro­mo­viert. Gebo­ren 1981 in Eisen­hüt­ten­stadt war er lan­ge Zeit in Süd­ko­rea und anschlie­ßend in den USA tätig.

Bri­git­te Rei­mann nutz­te die ihr zuge­stan­de­ne künst­le­ri­sche Frei­heit und hielt das Leben in der DDR fest – samt ihrer eige­nen zer­ris­se­nen Ver­pflich­tun­gen. In einem ent­waff­nend direk­ten Stil, der von Dia­lo­gen und Details lebt, erweck­te Rei­mann die berau­schen­de, unmög­li­che Ver­su­chung, die eige­nen Idea­le zu leben.

Rei­manns 1963 erschie­ne­ner Roman „Die Geschwis­ter“ (Auf­bau-Ver­lag) wur­de kürz­lich von Lucy Jones ins Eng­li­sche über­setzt, nach­dem das unzen­sier­te Manu­skript und die nach­träg­li­chen Kor­rek­tu­ren der Autorin im ver­gan­ge­nen Früh­jahr zufäl­lig ent­deckt wor­den waren. Es geht um Debat­ten über den sozia­lis­ti­schen Rea­lis­mus und den künst­le­ri­schen Umgang mit ihm, die in einer Koh­le­bri­kett­fa­brik kon­tro­vers geführt wer­den. 1959 ver­kün­de­te die SED näm­lich, ihre Schrift­stel­ler soll­ten dem „Bit­ter­fel­der Weg“ fol­gen. Die­se Initia­ti­ve ziel­te dar­auf ab, Autoren in indus­tri­el­le Umge­bun­gen ein­zu­bin­den, um ihr Eli­te­den­ken zu schwä­chen und gleich­zei­tig der Arbei­ter­klas­se Kul­tur näher­zu­brin­gen. Der Slo­gan „Greif zur Feder, Genos­se; die deut­sche sozia­lis­ti­sche Natio­nal­kul­tur braucht dich!“ brach­te die­sen Auf­ruf zum Ausdruck.

Rei­mann, Toch­ter eines Bank­an­ge­stell­ten aus einer Köl­ner Bürg­erfa­mi­lie, hat­te sich im Alter von 14 Jah­ren, als sie sich von einer Kin­der­läh­mung erhol­te, ent­schlos­sen, Schrift­stel­le­rin zu wer­den. Mit 17 ver­öf­fent­lich­te sie ihr ers­tes Buch mit Thea­ter­stü­cken. Mit 20 hei­ra­te­te sie einen Maschi­nen­schlos­ser, brach­te ein Kind zur Welt, das noch am sel­ben Tag starb, und unter­nahm wenig spä­ter einen Selbst­mord­ver­such. Im Alter von 27 Jah­ren war sie bereits seit vier Jah­ren Mit­glied der Schrift­stel­ler­ge­werk­schaft der DDR und hat­te eini­ge viel­ver­spre­chen­de Novel­len geschrie­ben, wäh­rend sie gleich­zei­tig als Leh­re­rin arbei­te­te, um über die Run­den zu kom­men. Im Jahr 1960 folg­te sie dem Ruf der Par­tei. Nach der Schei­dung von ihrem Mann (dem ers­ten von vier) zog sie in eine abge­le­ge­ne Stadt in Sach­sen, um in einem Koh­le­werk zu arbei­ten. Dort arbei­te­te sie mit ihrem Gelieb­ten, einem Schrift­stel­ler­kol­le­gen, und orga­ni­sier­te unter den Werk­tä­ti­gen eine Kul­tur­bri­ga­de. Sie las ihnen ihre Geschich­ten vor und brach­te ihnen bei, eige­ne zu schrei­ben. Das war der Bit­ter­fel­der Weg.

Sie zog dort­hin zum einen, um ihre Geld­sor­gen zu lösen, zum ande­ren, weil es ein „Aben­teu­er“ war: Es war nicht so, dass sie glaub­te, der Staat wis­se, was er tat, wenn es um Lite­ra­tur ging. Seit Jah­ren, so schreibt sie in ihr Tage­buch, sei­en kaum noch gute Bücher erschie­nen: „Über­all Oppor­tu­nis­ten und Dumm­köp­fe. Das ein­zi­ge The­ma, das es wert ist, in einem Roman behan­delt zu wer­den, scheint die Not­wen­dig­keit zu sein, die Arbeits­pro­duk­ti­vi­tät zu erhö­hen. Mensch­li­che Pro­ble­me lie­gen nicht im Trend.“ Aber die Roma­ne, die sie wäh­rend ihrer Zeit in der Fabrik ent­wi­ckel­te, „Ankunft im All­tag“ (1961), „Die Geschwis­ter“ (1963) und „Fran­zis­ka Lin­ker­hand“ (1974), sind voll von Men­schen mit Pro­ble­men, die zufäl­lig in Fabri­ken oder Werf­ten arbei­ten. Rei­mann hielt sich an die Regeln, was in der DDR ver­öf­fent­licht wer­den durf­te: nur „posi­ti­ve Hel­den“, kei­ne unglück­li­chen Enden, ein Teil spielt in einer Fabrik, und das Gan­ze wird vom staat­li­chen Ver­lags­ap­pa­rat geprüft bzw. zen­siert. Den­noch gelang es ihr, den berau­schen­den, unmög­li­chen Reiz, die eige­nen Idea­le zu leben, zum Leben zu erwecken.

Zu Leb­zei­ten wur­de Rei­mann mit dem Hein­rich-Mann-Preis aus­ge­zeich­net. Ihr letz­ter unvoll­ende­ter Roman „Fran­zis­ka Lin­ker­hand“, der nach ihrem Krebs­tod im Alter von 39 Jah­ren ver­öf­fent­licht wur­de, war Kult. Er schil­der­te die zuneh­men­de Des­il­lu­sio­nie­rung der Prot­ago­nis­tin in Bezug auf Lie­be, Arbeit und die DDR selbst, eine Situa­ti­on, die Rei­manns eige­ne wider­spie­gel­te. Die Ver­öf­fent­li­chung war Ergeb­nis der kurz­le­bi­gen Peri­ode kul­tu­rel­ler Frei­zü­gig­keit, die Erich Hon­ecker nach sei­ner Macht­über­nah­me einführte.

Doch Rei­manns Werk blieb jah­re­lang unbe­ach­tet. Es knüpf­te weder an femi­nis­ti­sche Tra­di­tio­nen an, wie das ihrer Freun­din Chris­ta Wolf. Noch war es Teil der Nach­kriegs­auf­ar­bei­tung, wie das ihres Idols Anna Seg­hers. In Deutsch­land war Rei­mann bis vor Kur­zem viel­leicht am bekann­tes­ten, weil sie von Mar­ti­na Gedeck in „Hun­ger auf Leben“ gespielt wur­de, einem Doku­men­tar­film, der auf ihren mit Sex gefüll­ten, quä­len­den Tage­bü­chern basiert, die ab 1983 in Ost- und West­deutsch­land in immer voll­stän­di­ge­ren Aus­ga­ben erschie­nen. Unter den deut­schen Lesern sind die Tage­bü­cher wegen ihres kla­ren Blicks auf das Leben in der DDR und wegen ihres leben­di­gen Por­träts einer jun­gen Künst­le­rin, die sowohl ver­führt als auch ver­führt wird, sehr beliebt. In die­sem Jahr, ein hal­bes Jahr­hun­dert nach Rei­manns Tod, wur­den ihre Bücher in Deutsch­land neu auf­ge­legt – in Pas­tell­far­ben, wie man sie auch auf einem aktu­el­len Pra­da-Lauf­steg fin­den könn­te. Mensch­li­che Pro­ble­me sind wie­der en vogue.

„Die Geschwis­ter“ spielt kurz nach Ostern 1960, als Rei­manns Hel­din, die 24-jäh­ri­ge Male­rin Eli­sa­beth Are­ndt, ver­sucht, ihren Bru­der Uli davon zu über­zeu­gen, nicht in den Wes­ten zu gehen. Die Ber­li­ner Mau­er wur­de zwar offi­zi­ell erst am 13. August 1961 errich­tet, aber sie exis­tier­te, wenn auch nur in den Köp­fen, schon lan­ge vor­her. Zwei Ostern zuvor war bereits Eli­sa­beths älte­rer Bru­der Kon­rad in ihr Zim­mer gekom­men, um sich zu ver­ab­schie­den. Als sie den „unge­wohn­ten, sto­cken­den“ Ton­fall des Auf-Wie­der­se­hen-Sagens ihrer Mut­ter hör­te, wur­de ihr klar, dass ihr Bru­der nicht wie­der­kom­men wür­de. In Brie­fen aus einem Durch­gangs­la­ger in West­deutsch­land gesteht Kon­rad sei­nen „Ver­rä­ter­kom­plex“, aber das Aus­maß sei­nes ideo­lo­gi­schen Bruchs mit der Fami­lie wird deut­lich, als Eli­sa­beth und ihre Mut­ter ihn nach sei­ner Eta­blie­rung im Wes­ten auf­su­chen. Er lädt sie zum Essen in das Nobel­ho­tel Kem­pinski ein. Kon­rad wirft Eli­sa­beth Roman­tik vor, wenn sie von ihrer Arbeit als Lei­te­rin eines Maler­krei­ses in der ört­li­chen Fabrik erzählt. Eli­sa­beth kon­fron­tiert ihn mit der Ansicht der Fami­lie, dass er ein Gau­ner sei, weil er sein Stu­di­um von der DDR bezah­len ließ, um dann sei­ne Inge­nieurs­kunst in den Wes­ten zu tra­gen. Sie kön­nen sich nicht ein­mal dar­über eini­gen, ob die DDR ein Staat ist: „‚Es heißt nicht Zone. Es heißt DDR. Ich red ja auch nicht von der West­zo­ne. So viel Ach­tung kann ich für unse­ren Staat schon ver­lan­gen.‘ ‚Staat …‘, sag­te Kon­rad. ‚Ein paar Qua­drat­ki­lo­me­ter ärm­li­ches Land; eine Regie­rung, die von den Sowjets aus­ge­hal­ten wird …‘ Wir sahen uns über den Tisch hin­weg an, mit einem Blick, der die gut­wil­lig geheu­chel­te Fami­li­en­ein­tracht zer­schnitt. ‚Du hast doch bei uns gelebt‘, rief ich, ‚du musst es doch bes­ser wissen …‘“

In einem ent­waff­nend direk­ten Stil, der von Dia­lo­gen und Details lebt, ver­bin­det Rei­mann die Wider­sprü­che der DDR mit dem Erbe des Drit­ten Rei­ches – die­se Zonen oder Sek­to­ren wur­den von den Alli­ier­ten im Mai 1945 geschaf­fen –, anstatt zu beschö­ni­gen, was es bedeu­te­te, aus kriegs­zer­stör­ten Trüm­mern eine neue Gesell­schaft zu schmie­den. Als die Mut­ter der Geschwis­ter sie bit­tet, den Streit zu been­den, ver­lässt Eli­sa­beth das Restau­rant und weint „ohne Trä­nen“ bis sie die Gren­ze erreicht: „In die­sem Augen­blick begriff ich, was das hieß: das gespal­te­ne Deutsch­land.“ Sie will kei­ne Tei­lung mehr, sie will nie wie­der den schwan­ken­den Ton­fall ihrer Mut­ter hören, nie wie­der einen Bru­der aus ihrem Leben gehen sehen. Der 25-jäh­ri­ge Uli, ein frisch­ge­ba­cke­ner Diplom­in­ge­nieur, steht auf der schwar­zen Lis­te, weil er für einen in den Wes­ten geflo­he­nen Pro­fes­sor gear­bei­tet hat. Wel­che Zukunft kann er in der DDR haben? Als er Eli­sa­beth sei­nen Ent­schluss mit­teilt, das Land zu ver­las­sen, hat sie zwei Tage Zeit, ihn auf­zu­hal­ten. Ihre Über­zeu­gungs­kraft ist begrenzt, aber sie hat Res­sour­cen: die Nähe zu ihrem Lieb­lings­bru­der, das Wis­sen um ihre Kind­heit wäh­rend des Krie­ges und die Zeit danach, ihren Freund Joa­chim Stein­brink, der mit sei­nen 28 Jah­ren das Braun­koh­le­werk lei­tet, in dem sie arbei­tet, und nicht zuletzt das immer­grü­ne Ide­al eines Staa­tes, der von jedem nimmt, was er kann, und jedem gibt, was er braucht.

Rei­manns eige­ner Bru­der Lutz, der ihr alters­mä­ßig am nächs­ten stand, ging im April 1960 mit Frau und Kind in den Wes­ten. „Ich bin sehr trau­rig“, schreibt sie in ihr Tage­buch. Lutz war ein „Wirr­kopf“, des­sen Hand­lun­gen sie „prin­zi­pi­ell“ ver­ur­teil­te, aber er war ihr Bru­der. „Ich lie­be ihn, wir haben uns vie­le Jah­re lang gut ver­stan­den“, schrieb sie. Sie erkann­te sofort das Poten­zi­al der Geschich­te für die Kunst: „Zer­ris­se­ne Fami­li­en, Kon­flik­te zwi­schen Brü­dern und Schwes­tern – was für ein lite­ra­ri­sches The­ma! War­um nimmt sich nie­mand die­ses The­mas an, war­um schreibt nie­mand ein aktu­el­les Buch? Furcht? Unfä­hig­keit? Ich weiß es nicht.“ Sie wür­de es tun, und der dar­aus resul­tie­ren­de Roman wür­de „so sein, wie die Din­ge hät­ten lau­fen sol­len, aber nicht gelau­fen sind“. Rei­mann nahm den Namen ihres ver­blie­be­nen Bru­ders Uli für Eli­sa­beths schwan­ken­des Geschwis­ter­chen und füg­te Zei­len aus ihrer Kor­re­spon­denz mit Lutz – „Und ich habe eini­ge Ver­rä­ter­kom­ple­xe, wie man so sagt“ – in Kon­rads Brie­fe ein. Lutz war ver­är­gert über den fer­ti­gen Roman, Uli und Rei­manns jüngs­te Schwes­ter Dor­li waren begeistert.

„Für jeden Schrift­stel­ler ist die Arbeit eine Selbst­be­fra­gung“, schrieb Rei­mann im Dezem­ber 1959 in ihr Tage­buch, „und es scheint, dass gera­de dar­in die Kunst liegt: die­se Selbst­be­fra­gung all­ge­mein inter­es­sant und einer mög­lichst brei­ten Leser­schaft zugäng­lich zu machen.“ Rei­mann war kein Appa­rat­schik. Sie war genau­so neu­gie­rig dar­auf, ihre eige­nen Erfah­run­gen fest­zu­hal­ten wie jeder Künst­ler, aber sie hat­te nicht die Frei­heit, so zu schrei­ben, wie sie woll­te. Sie konn­te sich nicht ein­mal ihr Gen­re aussuchen.

Der sozia­lis­ti­sche Rea­lis­mus galt lan­ge Zeit als kit­schig, poli­tisch und ästhe­tisch kom­pro­mit­tiert. Kunst, die unter die­sen Bedin­gun­gen gemacht wird, lädt zu Spott ein: Kann man unter der Kon­trol­le eines Michail Suslow gute Roma­ne schrei­ben? Aber Rei­manns Werk zeigt, dass sie es kön­nen. Wie sie damals fest­stell­te, steck­te in der For­de­rung des Staa­tes an sei­ne Schrift­stel­ler, einen neu­en Kanon der sozia­lis­ti­schen Lite­ra­tur zu schaf­fen, ein Kom­pli­ment. Die Par­tei­funk­tio­nä­re waren der Mei­nung, dass es dar­auf ankommt, wer in den Roma­nen vor­kommt, wie sie geschrie­ben sind und wie sie enden. Rei­manns Talent wur­de erkannt und genutzt: Sie erhielt ein Sti­pen­di­um vom Schrift­stel­ler­ver­band und Buch­ver­trä­ge von den staat­li­chen Ver­la­gen und wur­de gebe­ten, den Arbei­ter­schreib­kreis in der Bri­kett­fa­brik zu lei­ten. Den­noch trat sie nie in die Par­tei ein, und ihre Unzu­frie­den­heit mit dem Staat wuchs immer mehr. Schon in den frü­hen 60er-Jah­ren schrieb sie über den Druck der Sta­si, die Ver­lo­ckun­gen des neon­be­leuch­te­ten Wes­tens und das Leben in einem Regime, das Loya­li­tät höher bewer­te­te als Talent. Beim Lesen von „Geschwis­ter“ kann man nost­al­gi­sche Gefüh­le für eine Gesell­schaft ver­spü­ren, die noch an die Bedeu­tung der Kunst glaubte.

In „Die Geschwis­ter“ bringt Rei­mann die Ver­gan­gen­heit so nahe, dass sie sich kaum ver­gan­gen anfühlt. Eli­sa­beth erin­nert sich an die Meiß­ner Figu­ren, die ihre Mut­ter nach dem Krieg ver­kauf­te, um sich Lebens­mit­tel zu kau­fen. Sie erzählt von der Freun­din von Kon­rad, die ver­such­te, sie mit sel­te­nen Taschen­bü­chern und fran­zö­si­schem Lip­pen­stift in den Wes­ten zu locken. Schließ­lich reflek­tiert sie die Geschich­te ihrer Aus­ein­an­der­set­zung mit einem älte­ren Maler, Ohm Hein­ers, der eben­falls im Koh­le­kraft­werk arbei­te­te und die sie ihrem müden Bru­der als Inspi­ra­ti­on erzähl­te. Eli­sa­beths Dis­put mit die­sem Künst­ler der vor­an­ge­gan­ge­nen Gene­ra­ti­on ist der Höhe­punkt des Romans, in dem Argu­men­te über den Wert der Kunst, über die Art der Wie­der­gut­ma­chung für die unter Hit­ler Geschä­dig­ten und über die Art und Wei­se, wie der neue Staat für sei­ne Arbei­ter sor­gen soll­te, mit­ein­an­der ver­bun­den wer­den. Die­ser Abschnitt in Kapi­tel 8 beun­ru­hig­te die Behör­den, die erfolg­los ver­such­ten, ihn vor der Ver­öf­fent­li­chung zu strei­chen. Als der Roman 1963 erschien, akzep­tier­te Rei­mann eini­ge klei­ne­re Kür­zun­gen, wehr­te sich aber vehe­ment gegen grö­ße­re. 1969 über­ar­bei­te­te sie den Roman selbst. Für die vor­lie­gen­de Ver­öf­fent­li­chung im Jahr 2023 ver­wen­de­ten die Her­aus­ge­be­rin­nen Ange­la Dre­scher und Nele Hol­dack einen Ent­wurf der ers­ten fünf Kapi­tel, der bei Reno­vie­rungs­ar­bei­ten in der Woh­nung in Hoyers­wer­da gefun­den wur­de, in der Rei­mann wäh­rend ihrer Arbeit in der Koh­le­fa­brik lebte.

Der Streit beginnt im Kaf­fee­raum der Fabrik. Hein­ers fragt Eli­sa­beth, was sie von einem sei­ner Bil­der hält, das in der Kan­ti­ne hängt, und sie beschließt ehr­lich zu sein. „Mei­ne Bri­ga­de war nicht begeis­tert … Dein Bild ist schlecht“, sagt sie. „Du hast einen hirn­lo­sen Pro­duk­tio­ner gemalt … Ich ken­ne den Mann. Er hat nichts mit dei­nem fins­te­ren Robo­ter zu tun.“ Hein­ers explo­diert und ver­sucht, Eli­sa­beth zu dis­kre­di­tie­ren, indem er sie „einen bür­ger­li­chen Grün­schna­bel“ nennt, deren Vater Jour­na­list unter Hit­ler war. Als Hein­ers, der von den Nazis mit Mal­ver­bot belegt wor­den war, eini­ge Tage spä­ter ihr Ate­lier besucht, offen­bar um die Wogen zu glät­ten, geht der Streit wei­ter: „Ein Arbei­ter wür­de doch bloß lachen, wenn er dei­nen Licht­bo­gen sieht“, behaup­tet Hein­ers. „Mein Auge ist aber kei­ne Kame­ra­lin­se, und ich bin kein Foto­ap­pa­rat, ich bin ein Mensch mit Emp­fin­dun­gen und mit einem bestimm­ten Ver­hält­nis zu dem Men­schen, den ich male, und die­ser Mensch … hat sei­ne Emp­fin­dun­gen und sei­ne eige­ne Bezie­hung zum Leben, zu sei­ner Arbeit, zu sich und ande­ren, und das alles soll­te in einem Por­trät sein, vie­le Schich­ten statt einer glat­ten Flä­che.“ Dann for­dert Hein­ers sie auf, von ihrem hohen Ross herunterzukommen.

Ein Pro­blem bei der Schaf­fung eines neu­en ost­deut­schen Kul­tur­ka­nons war der Man­gel an Vor­läu­fern. Die Geschich­te hat­te 1949 mit der Grün­dung der DDR begon­nen, sodass es nicht viel gab, wor­auf die Künst­ler auf­bau­en konn­ten. Der bedeu­ten­de mar­xis­ti­sche Theo­re­ti­ker Györ­gy Lukács fand einen Weg, die­ses Pro­blem zu umge­hen: Er argu­men­tier­te, die gro­ßen bür­ger­li­chen Schrift­stel­ler – dar­un­ter Bal­zac, Stendhal, Fon­ta­ne und Zola – hät­ten die unlös­ba­ren Wider­sprü­che der kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaft erfasst und so deren Unter­gang auf­ge­zeigt. Rei­manns Lieb­lings­au­tor war Stendhal, auf den sie sich immer wie­der bezog und den sie nie auf­hör­te zu lesen. Eli­sa­beth plä­diert für einen beson­de­ren Rea­lis­mus, der die eige­ne Sicht­wei­se des Künst­lers respek­tiert und sich die Frei­heit nimmt, dem Sub­jek­ti­vis­mus nahe zu kommen.

Da Hein­ers die ästhe­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung nicht gewin­nen kann, greift er zu schmut­zi­ge­ren Tak­ti­ken. Er streut Gerüch­te, Eli­sa­beth wür­de mit Mit­glie­dern ihres Maler­zir­kels schla­fen. Er bezeich­net sie als „eine intel­lek­tu­el­le Nut­te“, die „jeden Abend mit einem ande­ren ins Bett“ gin­ge. Hein­ers erzählt sei­nen Par­tei­freun­den auch von Eli­sa­beths Ansich­ten zur Male­rei, was einen Besuch der Staats­si­cher­heit nach sich zieht. „Es wird behaup­tet, Sie hät­ten in Ihrem Zir­kel eine bür­ger­li­che Frak­ti­on gebil­det“, sagt der Sta­si-Mann, bie­tet ihr eine Ziga­ret­te an und bemerkt ihr Hän­de­zit­tern. „Wir soll­ten uns offi­zi­ell zusam­men­set­zen.“ (Auch die­se Sze­ne hat­ten die Behör­den zunächst unter­drü­cken wol­len.) Eli­sa­beth beschließt, sich zu weh­ren. Sie denkt, sie kön­ne den Gerüch­ten durch ein Gespräch mit Ber­ge­mann, dem ört­li­chen Par­tei­se­kre­tär, ent­ge­gen­tre­ten. Spät in der Nacht geht sie in sei­ne Woh­nung, um ihm ihre Schil­de­rung der Vor­komm­nis­se zu geben. Sie fin­det „Anna Kare­ni­na“ und „Der Zau­ber­berg“ sowie ein Selbst­por­trät von Hen­ri Rous­se­au an der Wand. „Wun­der­bar ermu­tigt“ von Rous­se­aus bär­ti­gem Gesicht, weiß sie plötz­lich, wie sie Ber­ge­mann über­zeu­gen kann. Sie zeigt ihm die Por­träts, die sie von den Arbei­tern im Werk gemacht hat. „Ich ver­ste­he nicht genug von der Male­rei“, sagt Ber­ge­mann und betrach­tet ihre, aber „ich kann nur sagen: Das ist nütz­lich, das ist schön, das gefällt mir … Es kommt in der Kunst dar­auf an, das Wesen der Din­ge dar­zu­stel­len.“ Als Hein­ers im Büro des Par­tei­se­kre­tärs hin­ter einer leder­be­zo­ge­nen Tür mit sei­nem Ver­hal­ten kon­fron­tiert wird, wirft er sei­nen Par­tei­aus­weis über den Schreib­tisch und ver­lässt sei­nen Pos­ten in der Fabrik.

Die­se fik­ti­ve leder­be­zo­ge­ne Tür passt zu ande­ren Erin­ne­rungs­stü­cken aus der DDR. In den Büros des Minis­ters für Staats­si­cher­heit in Ber­lin, die heu­te als Teil eines Muse­ums erhal­ten sind, ste­hen drei Tele­fo­ne auf einem Holz­schreib­tisch. Sie war­te­ten dar­auf, Gerüch­te wei­ter­zu­ge­ben, die jeman­den das Leben erschwe­ren konn­ten. In der Leip­zi­ger „Run­den Ecke“, der Bezirks­ver­wal­tung für Staats­si­cher­heit im frü­he­ren Bezirk Leip­zig, steht eine Maschi­ne, die Akten kreuz­wei­se zer­klei­nert und mit Kleb­stoff ver­mischt. So ent­ste­hen gro­be, graue Zie­gel, die den Roh­in­halt für immer unles­bar machen.

Trotz so vie­ler Ver­lus­te – eines Bru­ders, einer Zukunft, einer Ideo­lo­gie – haben Rei­manns „Geschwis­ter“ irgend­wie über­lebt, ein unge­wöhn­li­ches Stück poli­ti­scher, per­sön­li­cher und ästhe­ti­scher Freiheit.

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