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Die Wende und die Literatur #5: Die Möglichkeit von Glück oder die Möglichkeit eines Neuanfangs

Im fünf­ten Teil sei­ner Kolum­ne wid­met sich Dr. Tobi­as Leh­mann dem Roman „Die Mög­lich­keit von Glück“ von Anne Rabe. Ein Buch über poli­ti­sche Fol­gen, eine Gesell­schaft im Umbruch, über Fami­li­en, die schwei­gen, und Kin­der, die die­ses Schwei­gen irgend­wann nicht mehr ertragen. 

Dr. Tobias Lehmann hat an der University of Oregon zum Thema Wendeliteratur promoviert. Geboren 1981 in Eisenhüttenstadt war er lange Zeit in Südkorea und anschließend in den USA tätig.

Dr. Tobi­as Leh­mann hat an der Uni­ver­si­ty of Ore­gon zum The­ma Wen­de­li­te­ra­tur pro­mo­viert. Gebo­ren 1981 in Eisen­hüt­ten­stadt war er lan­ge Zeit in Süd­ko­rea und anschlie­ßend in den USA tätig.

Obwohl das Buch als Roman bezeich­net wird, liest es sich wie ein auto­bio­gra­fi­scher Bericht mit einer Ich-Erzäh­le­rin und einer Mischung aus per­sön­li­cher Geschich­te, his­to­ri­schem Mate­ri­al und Refle­xio­nen über die DDR. Die Erzäh­le­rin Sti­ne wur­de 1986 gebo­ren, genau wie die Autorin. Sie war drei Jah­re alt, als die Mau­er fiel und das sozia­lis­ti­sche Regime zusam­men­brach. Sie wur­de in einer his­to­ri­schen Zäsur gebo­ren – einem Wen­de­punkt in der Geschich­te. Die­ses Buch han­delt maß­geb­lich davon, wie sich das für sie auswirkte.

Anne Rabes „Die Mög­lich­keit von Glück“ ist im Klett-Cot­ta-Ver­lag erschienen.

Die Ich-Erzäh­lung hat zwei Haupt­strän­ge: Zum einen Sti­ne als Toch­ter, die sich ent­schei­det, die Bezie­hung zu ihrer miss­han­deln­den Mut­ter abzu­bre­chen und ihre eige­ne Toch­ter Kla­ra außer­halb des Eltern­hau­ses auf­zu­zie­hen. Zum ande­ren bekommt Sti­nes Leben als Schrift­stel­le­rin Bedeu­tung, die die wah­re Geschich­te der Kar­rie­re ihres Groß­va­ters Paul unter dem Natio­nal­so­zia­lis­mus und der SED unter­sucht. Die­se Hand­lungs­strän­ge sind durch­setzt mit Poe­sie und jour­na­lis­ti­schen Refle­xio­nen über ver­schie­dens­te Aspek­te der ost­deut­schen Gesell­schaft, von den Nach­wir­kun­gen des Jah­res 1989 bis in die heu­ti­ge Zeit.

Der Roman taucht direkt in eines sei­ner ein­dring­lichs­ten The­men ein: Sti­nes Bezie­hung zu ihrer Mut­ter – aus der Sicht einer jun­gen Frau, die jetzt ihr eige­nes Baby hat. Sti­ne hat ihre Mut­ter um Rat gefragt, wie man mit einem schrei­en­den Baby umgeht, denn es kommt ihr so vor, als wür­de ihr klei­ner Sohn Kur­ti schon seit drei Mona­ten wei­nen. „Ach, Tim war auch so“, sagt ihre Mut­ter fröh­lich, „und wir haben ihn ein­fach wei­nen las­sen.“ Sti­ne erin­nert sich dar­an, wie ver­zwei­felt und ver­las­sen ihr klei­ner Bru­der war, als nie­mand zu ihm kam. Das ist nur der Ein­stieg in das Ver­hal­ten ihrer Mutter.

Die klei­ne­ren Grau­sam­kei­ten, die sie im ers­ten Teil des Buches an den Tag legt, wir­ken wie die einer Frau, der es an Mit­ge­fühl und Empa­thie man­gelt: ihre Wei­ge­rung, die klei­ne Sti­ne zum Arzt zu brin­gen, ihr Bestehen dar­auf, dass die Kin­der im eisi­gen April San­da­len ohne Socken tra­gen. Doch es kommt zu einer Eska­la­ti­on der kör­per­li­chen Gewalt: zu Kopf­nüs­sen und Schlä­gen und schließ­lich zu einer wirk­lich schreck­li­chen Schil­de­rung des Ver­brü­hens, die man nur als sadis­tisch bezeich­nen kann.

Es über­rascht nicht, dass Sti­ne so schnell wie mög­lich von zu Hau­se aus­zieht, um in Ber­lin zu stu­die­ren. Das Ver­hält­nis zu ihren Eltern ist gespannt. Als sie den posi­ti­ven Schwan­ger­schafts­test sieht, denkt sie zuerst: „Gott sei Dank, jetzt muss ich zu Weih­nach­ten nicht nach Hau­se.“ Als ihre Mut­ter anfängt, die Jugend­wei­he ihrer Toch­ter Kla­ra zu pla­nen, lehnt Sti­ne dies ab. Kla­ra wer­de weder eine Jugend­wei­he fei­ern noch geschla­gen wer­den. Ihre Mut­ter ras­tet aus und beschul­digt Sti­ne der Lüge, wor­auf­hin Sti­ne den Kon­takt abbricht. Es ist jedoch nicht so leicht, die Aus­wir­kun­gen der Grau­sam­keit ihrer Mut­ter abzu­schüt­teln – und die Mit­tä­ter­schaft ihres Vaters, der wenig unter­nimmt, um sie auf­zu­hal­ten. Sti­ne lei­det unter Alb­träu­men und Selbst­mord­ge­dan­ken, beson­ders als sie von ihrem Bru­der Tim erfährt, dass ihre Mut­ter sie nun als psy­chisch krank ein­stuft und sich Zugang zu ihren Enkeln Kla­ra und Kur­ti wünscht, um sie vor ihrer labi­len Mut­ter zu schützen.

Sti­nes Geschich­te scheint eine linea­re Erzäh­lung zu sein, was sie aber in Wirk­lich­keit nicht ist. Von Anfang an wird Sti­nes per­sön­li­che Geschich­te mit dem Kon­text der ost­deut­schen Gesell­schaft durch­setzt. Sti­nes Eltern waren Mit­glie­der der SED, der Regie­rungs­par­tei in der DDR. Es wird erwähnt, dass sie nach 1989 und der Wen­de der PDS, der Nach­fol­ge­par­tei der SED, bei­tra­ten und dann die PDS ver­lie­ßen, wobei die Chro­no­lo­gie nicht klar ist. Es genügt zu sagen, dass in der klei­nen Stadt an der Ost­see, in der Sti­ne auf­wächst, bekannt ist, dass ihre Fami­lie in der SED war. Ihre ehe­ma­li­ge Schul­freun­din Ada, deren Eltern in der Dis­si­den­ten­be­we­gung im Umfeld der evan­ge­li­schen Kir­che aktiv waren, erzählt ihr, dass sie sie gehasst haben, als Sti­ne ein Kind war.

Doch über die­se Spal­tun­gen, die noch lan­ge nach der Ein­heit bestan­den, wur­de nicht offen gespro­chen. Tat­säch­lich beklagt die erwach­se­ne Sti­ne, dass Deutsch­land sich zwar sei­ner Nazi-Ver­gan­gen­heit stellt, es aber kei­ne ver­gleich­ba­re Auf­ar­bei­tung der Ver­bre­chen des tota­li­tä­ren SED-Staa­tes gege­ben hat. Statt­des­sen herrsch­ten Schwei­gen und Untä­tig­keit vor und inner­halb der Fami­lie wur­den – wie so oft in Dik­ta­tu­ren – die Miss­brauchs­er­fah­run­gen geleugnet.

Schon zu Beginn des Romans erfah­ren wir von Sti­nes Bezie­hung zu ihrem Groß­va­ter Paul, dem Vater ihrer Mut­ter. Er ist inzwi­schen alt und hat sein Augen­licht ver­lo­ren. Er genießt es, mit sei­ner klei­nen Enke­lin an der Küs­te spa­zie­ren zu gehen und ihr Frag­men­te sei­ner Lebens­ge­schich­te zu erzäh­len, die oft mit dem Nach­kriegs­spruch „Nie wie­der Faschis­mus! Nie wie­der Faschis­mus!“ enden. Die jun­ge Sti­ne weiß, dass Opa Paul und Oma Eva Mit­glie­der der SED waren. Aber erst als Erwach­se­ne, fast als Reak­ti­on auf den Bruch mit ihren Eltern, beschließt Sti­ne nach­zu­for­schen, wel­che Rol­le Paul in der DDR spiel­te. Ihre ers­te Anlauf­stel­le ist sei­ne Akte in den Sta­si-Archi­ven. Sie erin­nert sich dar­an, dass Paul gesagt hat, er habe sie gese­hen, und ist daher über­rascht, als sie erfährt, dass sie nicht vor­han­den ist. Hat er sie in dem Zeit­fens­ter, in dem das mög­lich war, ent­fernt und ver­nich­tet? Nach hart­nä­cki­gen Nach­for­schun­gen und Bemü­hun­gen fin­det sie wei­te­re Unter­la­gen und setzt sein Leben zusam­men, das sie gegen Ende des Romans in vier Abschnit­ten schildert.

Rabe schreibt aus einer fri­schen und ori­gi­nel­len Per­spek­ti­ve, erschafft gut ent­wi­ckel­te, glaub­wür­di­ge Cha­rak­te­re und schreckt auch vor mora­li­scher Kom­ple­xi­tät nicht zurück. Die frag­men­ta­ri­sche Struk­tur des Romans wird sehr wir­kungs­voll ein­ge­setzt und führt zu einem zuneh­men­den Gefühl der Span­nung wäh­rend der gesam­ten Erzäh­lung. In einer zutiefst scho­ckie­ren­den Epi­so­de wer­den die Prot­ago­nis­tin und ihr Bru­der von ihrer miss­han­deln­den Mut­ter gezwun­gen, ein uner­träg­lich hei­ßes Bad zu neh­men. Die Art des müt­ter­li­chen Miss­brauchs wur­de bis zu die­sem Punkt des Romans größ­ten­teils nur ange­deu­tet, sodass die­se Sequenz eine gewalt­tä­ti­ge und zutiefst erschüt­tern­de Ent­hül­lung ist – eine, die den Leser noch lan­ge nach der Lek­tü­re des Buches verfolgt.

Der Schluss ist ver­söhn­lich. Das Buch endet damit, dass Sti­nes Kin­der eine Par­tie Schlag­ball spie­len, bei der Wär­me, Zärt­lich­keit und Spaß im Vor­der­grund ste­hen, und es ent­steht ein Gefühl des Opti­mis­mus, ein Ver­spre­chen auf neue und lie­be­vol­le Fami­li­en­be­zie­hun­gen für die­se Gene­ra­ti­on. Es scheint, als hät­ten Sti­nes Nach­for­schun­gen und ihre ehr­li­che Ein­schät­zung von Groß­va­ter Paul es ihr ermög­licht, sich mit der dunk­len Sei­te der Geschich­te ihrer Fami­lie und ihres Lan­des aus­ein­an­der­zu­set­zen. Damit kön­nen sie und ihre Kin­der nun wei­ter­ma­chen und in die Zukunft blicken.

Die­ser Roman ist eine über­zeu­gen­de lite­ra­ri­sche Reprä­sen­ta­ti­on über das Auf­wach­sen in einer Fami­lie und in einer Gesell­schaft, die aus einer Dik­ta­tur her­vor­ge­gan­gen ist. Es gibt jedoch auch Wie­der­ho­lun­gen und eini­ge Berich­te über das Leben als Teen­ager, in denen die Erzäh­lung ein wenig nach­lässt. An ande­ren Stel­len hät­te ich gern mehr erfah­ren: Was waren die­se Wochenkrip­pen und war­um fin­det Sti­ne sie so schreck­lich? Obwohl ich nichts gegen wech­seln­de Zeit­ebe­nen habe, waren die Wech­sel hier manch­mal etwas zu verwirrend.

Rabes preis­ge­krön­te Talen­te als Dra­ma­ti­ke­rin, Dreh­buch­au­to­rin und Essay­is­tin kom­men in die­sem außer­ge­wöhn­li­chen Werk der Lite­ra­tur zum Tra­gen, das auf der Short-List des deut­schen Buch­prei­ses 2023 stand. „Die Mög­lich­keit von Glück“ ist eine ein­zig­ar­ti­ge lite­ra­ri­sche Leis­tung, in der sich ver­schie­de­ne For­men des Schrei­bens zu einem nuan­cier­ten und beun­ru­hi­gen­den Werk ver­bin­den, das eben­so gelehrt wie fes­selnd ist.

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