Dr. Peter-Michael Diestel, Rechtsanwalt und letzter Innenminister der DDR, ist ein wichtiger Impulsgeber für Ostdeutschland. Er setzt sich ein für Vergewisserung, Verständigung und Versöhnung. Mit diesem Beitrag ist er auch im zweiten Sammelband „Denke ich an Ostdeutschland ...“ vertreten.

Dr. Peter-Michael Diestel, Rechtsanwalt und letzter Innenminister der DDR. Abbildung: S. Welscher
Den folgenden Beitrag verfasse ich in der Gewissheit, dass ich das schreiben darf, was folgt. Ich bin im 74. Lebensjahr, arbeite als Anwalt mit erfolgreich abgeschlossener Berufsaus- und Vermögensbildung und glaube, dass meine Lebenserfahrung – dazu gehören politische Erfahrungen, Erlebnisse und Erkenntnisse sowie meine juristische Laufbahn – es mir gestatten, das Folgende festzustellen.
Wenige Wochen nach dem Zerbrechen der unseligen Ampelkoalition stehen wir nach vorgezogenen Bundestagswahlen vor einem vollständigen Chaos. Die bisher etablierten Parteien befinden sich im Ansehen der Bevölkerung im freien Fall. Auch der aktuelle Wahlsieger, die CDU unter Friedrich Merz, hat nicht wie die SPD das schlechteste, sondern das zweitschlechteste Ergebnis seit der deutschen Wiedervereinigung erzielt. Es war das zweitschlechteste, denn wenn Friedrich Merz im Wahlkampf das angekündigt hätte, was er unmittelbar nach der Wahl propagiert hat, dann hätte die CDU ein vitales Problem mit der Fünf-Prozent-Klausel.
Der Osten ist doof und der Westen sollte uns zeigen, wie gelebt, gelacht und gedacht werden muss und wie man zu wählen hat.”
Was bedeuten diese Wahlergebnisse?
Sozialdemokratisches Gedankengut hat in der deutschen Politik immer eine große, in der Regel fortschrittliche Einflussnahme auf das Geschehen in unserem Land bedeutet. Die älteste bürgerliche Partei in unserem Land hat mit dem schlechtesten Wahlergebnis deutlich gemacht, dass die Gedankengänge von Ferdinand Lassalle, August Bebel, Eduard Bernstein, Karl Kautsky und anderen großen Köpfen in der aktuellen deutschen Politik keine Rolle mehr spielen. Auch das politische Wirken bedeutender sozialdemokratischer Politiker wie Willy Brandt, Egon Bahr, Gerhard Schröder und vielen anderen ist mit diesem Wahlergebnis in die Bedeutungslosigkeit geführt worden.
Die bei der letzten Bundestagswahl noch obsiegende CDU hat Federn gelassen und mit dem Wahlsieg einen Schritt in die politische Blutarmut unternommen. Zwischenzeitlich spürt man in der Politik meiner ehemaligen Partei das Wirken großer Köpfe wie Konrad Adenauer, Ludwig Erhard, Richard von Weizsäcker und Helmut Kohl nicht mehr. Es haben sich mit dem zwischenzeitlich abgeschlossenen Koalitionsvertrag zwei extrem geschwächte politische Kräfte zusammengetan und sie haben nur eine einzige Zielsetzung: das Volk beim Ausbauen der „Brandmauer“ einzubinden. Zwischenzeitlich wissen wir, dass die politische Brandmauer völlig nutzlos war, denn man kann die derzeit stärkste politische Partei nicht verbieten oder ausgrenzen. Wir können sie nur in der parteipolitischen Auseinandersetzung bekämpfen.
Die Wählerinnen und Wähler sind nicht dumm. Sie merken, wenn sie belogen und betrogen werden. Eine derartige Täuschung, wie sie die CDU gegenüber ihrer Klientel in den letzten Monaten praktiziert hat, hat es in der deutschen politischen Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts noch nie gegeben. Um Missdeutungen den Raum zu nehmen, schließe ich die Zeit von 1933 bis 1945 ausdrücklich aus.

Peter-Michael Diestel auf seinem Landsitz in Zislow am Plauer See. Abbildung: S. Welscher
Warum ist das so?
In der deutschen Politik haben sich Figuren breitgemacht, die in keiner Weise den Anforderungen der heutigen Zeit entsprechen. Politiker ohne Bildung und ohne Ausbildung, Politiker, die noch nie in ihrem Leben wertschöpfend gearbeitet haben, Politiker, die ihre Lebensläufe eigenhändig gestalten und dabei der Fantasie freien Lauf lassen, Politiker, die ihre Doktorarbeiten schreiben lassen müssen, weil sie es selbst nicht können, zu faul sind, diese zu lesen, und dumm genug, bei simplen Plagiatsprüfungen durchzufallen.
In einer Talkshow vor einigen Jahren wurde ich von einer grünen Politikerin gefragt, wo es im Grundgesetz geregelt ist, dass man für ein Wahlmandat klug und gebildet sein muss. Ich war sprachlos. Natürlich ist auch im Grundgesetz nur das geregelt, was regelungsbedürftig ist. So ist zum Beispiel im Grundgesetz geregelt – jeder kann nachlesen, wo das steht –, dass die vollständige Ausgrenzung ostdeutscher Menschen aus der Politik, aus den gesellschaftlichen Strukturen, aus der Möglichkeit, Abgeordneter zu sein, verfassungswidrig ist. Aber das kann man erst feststellen, wenn man die Verfassung kennt und dazu müsste man sie lesen. Wenn man dies tut, wird man feststellen, dass die von mir geschilderte Ausgrenzung nicht nur verfassungswidrig, sondern auch vergeblich ist. Man kann eine Minderheit – die ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger sind auch mit 15 bis 16 Millionen eine Minderheit – nicht ausgrenzen.

16. Mai 1990: Peter-Michael Diestel auf einer Pressekonferenz zu Reiseregelungen. Abbildung: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0516-030/Settnik, Bernd/CC-BY-SA 3.0
Eine neue Mauer wird aufgebaut
Im Juli 1990 hatten der damalige Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble und ich, als Vizekanzler und Innenminister der DDR, einen der wichtigsten deutsch-deutschen Verträge unterzeichnet. Einen Vertrag über den endgültigen Abriss der deutschdeutschen Grenzanlage. Durch verantwortungslose Politik wird gegenwärtig eine neue, diesmal unüberwindliche Mauer – nämlich eine Brandmauer – aufgebaut. Der Osten ist blau und der Westen ist tiefrot und schwarz. Der Osten ist doof und der Westen sollte uns zeigen, wie gelebt, gelacht und gedacht werden muss und wie man zu wählen hat.
Wer sich nur oberflächlich mit dem deutschen Verfassungsrecht auseinandersetzt, wird den Begriff Brandmauer nicht finden. Denn es ist verfassungswidrig, bestimmte Gruppen von Abgeordneten festzulegen, die der vollständigen Ausgrenzung anheimfallen. Jeder Abgeordnete, aber auch jeder, ist seinem Gewissen verpflichtet und hat dem deutschen Volk zu dienen. Solange eine politische Partei in Deutschland nicht verboten ist, kann es keine Ausgrenzung von politischen Mandatsträgern geben. Die in Deutschland an Ein- und Zufluss verlierenden ehemaligen „Volksparteien“ kommen gar nicht auf die Idee, dass sie selbst etwas falsch machen könnten und deshalb das Vertrauen der Wähler verloren haben und weiterhin verlieren. Die politischen Köpfe, die diese Parteien derzeit führen, ähneln Witzfiguren und sind in ihrer öffentlichen Wirkung geeignet, Angst zu verbreiten.

9. Juli 1990, Leipzig: Bei einer Häftlingsrevolte begab sich Innenminister Peter-Michael Diestel (rechts) auf das Dach der Untersuchungshaftanstalt. Abbildung: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0709-016/Kluge, Wolfgang/CC-BY-SA 3.0
Eine Rückkehr der Eliten ist geboten
Deshalb ist es aus genau diesen Gründen notwendig, in sich zu gehen und den elitefreien Zustand in den Führungen der Parteien in Deutschland zu beenden. Eine Außenministerin ohne fachliche und rhetorische Eignung hat Deutschland über fast vier Jahre in der ganzen Welt lächerlich gemacht. Die Zankereien in der Ampelkoalition und das würdelose Ende dieser Regierung haben dem Ansehen unseres Landes extrem geschadet. Man lacht über uns, wir werden nicht mehr eingeladen und ernst genommen und die Antwort der Regierenden darauf ist: „Augen zu und durch!“
Als Ostdeutscher musste ich lernen: „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen“. Mit der Wende habe ich gelernt, dass das ganz anders sei, nämlich dass von den Vereinigten Staaten lernen, siegen lernen bedeute. Aber auch das ist jetzt wohl falsch, und ich bin gegenwärtig sehr froh, dass unsere Nochaußenministerin den Vereinigten Staaten nicht den Krieg erklärt. Wenigstens hat diese Dame das Gemälde eines der bedeutendsten deutschen Diplomaten und Staatsmänner – Otto von Bismarck – abgehängt. Man weiß ja nicht, ob er ein Nazi war und ob seine Verstrickung mit dem Dritten Reich nicht vorwerfbar sein könnte. Dies ist eine sarkastische Zuspitzung, die aber deutlich macht, wie deutsche Außenpolitik sich darstellt.
Das ist keine feministische Außenpolitik, so ignorant ist von Frauen gestaltete Außenpolitik auf gar keinen Fall. Das wissen wir seit Golda Meir, Indira Gandhi oder auch Margaret Thatcher und Angela Merkel. Mit dem Ende der Ampelkoalition nahmen viele – so auch ich – an, es könnte jetzt mit Friedrich Merz besser werden. Jedoch habe ich das Gefühl, dass alles noch viel schlimmer wird. Schulden werden als Vermögen bezeichnet und eine Kreditaufnahme, die unserem Vaterland endgültig den Todesstoß geben wird, wird begründet mit der Behauptung, Putin stehe mit der Keule vor der Tür. Seltsamerweise wird er uns aber nicht jetzt angreifen, wo wir eine fast hilflose Bundeswehr beklagen, sondern er wird erst in drei Jahren angreifen, wenn wir uns wieder wehrhaft gemacht haben.

28. September 1990, Volkskammer-Tagung: Peter-Michael Diestel (links) und Joachim Gauck. Abbildung: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0928-019/Grimm, Peer/CC-BY-SA 3.0
Wir müssen uns wehren
Liebe Freunde, ich greife zu deutlichen Worten, denn ich habe Angst: Angst vor der uns umgebenden politischen Arroganz. Ich hatte einen sehr klugen Vater, der mir all das beigebracht hat, was ich kann, was ich in meinem Leben bisher umgesetzt habe. Einer seiner klügsten Hinweise war der folgende: „Peter, wenn die Dummen anfangen zu denken, dann wird es gefährlich.“
In diesem Sinne möchte ich diesen Text verstanden wissen. Ich brauche keinen christdemokratischen Theo-Lingen-Verschnitt aus Mecklenburg-Vorpommern, der uns die Welt erklärt. Wir alle brauchen keine Politiker, die im Angesicht anderer politischer Kräfte nur einen einzigen Gedanken rausblöken: „Verbieten!“ Unsere Parteien befinden sich im freien Fall, und wir alle müssen aktiv werden, um aus diesem Tief herauszukommen: überlegen, einander zuhören und die Ergebnisse in Taten, nicht in Verbote umsetzen.
Dieser Beitrag ist zuerst in der Berliner Zeitung erschienen, am 15. April 2025.
Dr. Peter-Michael Diestel
GEBOREN: 1952/Prora (Rügen)
WOHNORT (aktuell): Zislow (Mecklenburg-Vorpommern)
MEIN BUCHTIPP: Peter-Michael Diestel und Gregor Gysi: „Zwei Unbelehrbare reden über Deutschland und ein bisschen über sich selbst”, 2025
MEIN FILMTIPP: „In Zeiten des abnehmenden Lichts“, Wolfgang Kohlhaase, 2017
MEIN URLAUBSTIPP: Malchower See mit Ristorante Don Camillo
BUCHTIPP:
„Denke ich an Ostdeutschland ...“In der Beziehung von Ost- und Westdeutschland ist 35 Jahre nach dem Mauerfall noch ein Knoten. Auch dieser zweite Sammelband will einen Beitrag dazu leisten, ihn zu lösen. Die weiteren 60 Autorinnen und Autoren geben in ihren Beiträgen wichtige Impulse für eine gemeinsame Zukunft. Sie zeigen Chancen auf und skizzieren Perspektiven, scheuen sich aber auch nicht, Herausforderungen zu benennen. Die „Impulsgeberinnen und Impulsgeber für Ostdeutschland“ erzählen Geschichten und schildern Sachverhalte, die aufklären, Mut machen sowie ein positives, konstruktiv nach vorn schauendes Narrativ für Ostdeutschland bilden. „Denke ich an Ostdeutschland ... Impulse für eine gemeinsame Zukunft“, Band 2, Frank und Robert Nehring (Hgg.), PRIMA VIER Nehring Verlag, Berlin 2025, 224 S., DIN A4. Als Hardcover und E-Book hier erhältlich. |




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