Isabelle Hoyer, die Gründerin & Geschäftsführerin des PANDA Women Leadership Network/Employers for Equality, ist eine wichtige Impulsgeberin für Ostdeutschland. Sie setzt sich ein für Vergewisserung, Verständigung und Versöhnung. Mit diesem Beitrag ist sie auch in dem Sammelband „Denke ich an Ostdeutschland ...“ vertreten.

Isabelle Hoyer, Gründerin & Geschäftsführerin, PANDA Women Leadership Network/Employers for Equality. Abbildung: Sung-Hee Seewald
Seit ein paar Jahren lebe ich länger im Westen als im Osten. Gefragt, woher ich komme, sage ich: „Jetzt gerade aus Bayern, aber ursprünglich aus Dessau. Das ist in Sachsen-Anhalt.“ Die Nummer meiner Eltern ist in meinem Telefon gespeichert unter „Zuhause Dessau“. Fühle ich mich ostdeutsch? Oh ja. Meine ostdeutsche Herkunft betone ich oft schon früh in Gesprächen, während ich von vielen meiner Landsleute weiß, dass sie genau das tunlichst vermeiden. Zu oft haben sie Ablehnung und Diskriminierung erlebt. Meinen Anhalter Dialekt habe auch ich abgelegt. Ich nahm meine Herkunft jedoch nie als Nachteil wahr – ganz im Gegenteil. Wer bekommt denn in seinem Leben schon die Möglichkeit, zwei so unterschiedliche Systeme von innen kennenzulernen? Und dann noch mit einer schicksalhaften Wende, genau zum richtigen Zeitpunkt im eigenen Leben. Wir, die „Dritte Generation Ost“, haben historisch Einzigartiges erlebt und unerwartete, wortwörtlich grenzenlose Lebenschancen geschenkt bekommen.
Jackpot in der Lebenslotterie
1978 geboren, verbrachte ich meine prägendsten Kindheitsjahre als ziemlich durchschnittliches DDR-Mädchen. Ich war Jung- und Thälmannpionierin, Gruppenratsvorsitzende, Turnerin mit einigen Wettkampferfolgen, vertrat meine Schule im Rezitierwettbewerb, sammelte mit der Klasse Altstoffe und Spenden für Nicaragua. Es war eine unbeschwerte Kindheit, in der die Mechanismen staatlicher Kontrolle zwar präsent, aber eher lästiger Alltag als ernsthafte Bedrohung waren – zumindest in meiner kindlichen Wahrnehmung. Ich erlernte Werte, die mir bis heute wichtig sind. Solidarität, Gleichheit und „das Kollektiv“ als Maßstab – das wurde uns in der Schule wahrlich effektiv vermittelt. Zu Hause gab es wenig Geld. Das spielte aber keine große Rolle, es war ja bei niemandem anders. Bodenständigkeit, Pragmatismus, Improvisationstalent und die Fähigkeit, aus jeder Situation das Beste zu machen, habe ich mit der Muttermilch aufgesogen.
Beim Mauerfall war ich elf. Für meine Eltern war die Wende ein Glücksmoment. Dass nicht nur die ersehnte Freiheit, sondern auch Enttäuschungen folgen würden, dass die Großstadt Dessau zum ländlichen Raum schrumpfen (zeitweise mit einer der höchsten Abwanderungsraten Europas), in Folge den größten Wohnungsleerstand und den höchsten Altersdurchschnitt in ganz Deutschland haben würde, das alles wusste zu diesem Zeitpunkt noch niemand. Der zweite Teil meiner Schulzeit fand im vereinigten Deutschland statt. Ein Übergang, der für mich leicht war. Wir Kinder gingen da einfach mit. Ab der sechsten Klasse dann eben aufs Gymnasium. Bis zum Abitur waren wir alle mehr oder weniger in diesem neuen Land angekommen. Geld gab es immer noch keins. Aber die ganze Welt stand uns off en. Die Sicherheit und die Freiheit: Ich habe aus beiden Systemen das Beste mitnehmen dürfen.

Blick ins „Gruppenbuch“ – Einladung zur Wahl des Gruppenrates, DDR 1986. Abbildung: privat, Isabelle Hoyer
Ich sehe eine vierte Generation Ost, die mit Selbstbewusstsein auf ihre Herkunft blickt und dieses Land positiv mitgestaltet.”
„Ostfrauen“ – Eine Liebeserklärung
Nach dem Abi war klar: Schnell raus aus Dessau. Ich ging als Aupair nach Frankreich, danach für acht Monate nach Russland. Zum Unverständnis meiner keineswegs russlandbegeisterten Eltern brachen mein Freund Lars und ich auf, um unbezahlt in einem Krankenhaus im fernen Petrosavodsk zu arbeiten, wo wir im Januar 1999 bei 31 Grad ankamen. In meinem Brustbeutel das, was ich mit vier Monaten Geschenke verpacken bei Karstadt verdient hatte. Denke ich an diese Zeit, bin ich dankbar für wegweisende Freundschaften. Alle unsere russischen Freundinnen waren – in der früheren Sowjetunion ebenso üblich wie in Ostdeutschland – junge Mütter. Sie studierten, arbeiteten, waren ledig, verheiratet oder wieder geschieden. Mutterschaft, Ausbildung, Beruf und Sozialleben vereinbarten sie mit der größten Selbstverständlichkeit. Niemand hatte Geld, dafür Schaffenskraft und Optimismus. Genauso kannte ich es von allen Frauen meiner Kindheit. Von meiner Mutter, meinen Großmüttern, meinen Tanten.
Als mein Sohn 2000 zur Welt kam und wir nach Bayern zogen, kam der Kulturschock. In mancher Hinsicht war es eine Zeitreise, einige Jahrzehnte zurück. Keine Betreuung für unter Dreijährige im Ort, daher für Jahre täglich stundenlange Pendelei zu Kinderkrippe und Uni in München. Abwechselnder Eltern-Kochdienst für die ganze Igelgruppe, im Sommer vier Wochen Schließzeit, über 300 Euro Gebühr bei unter 600 Euro BAföG. Meine Mutter war fassungslos über diese Zustände, der Berufseinstieg neben dem Studium eine Notwendigkeit. Als ich endlich mein Magister-Abschlusszeugnis erhielt, saßen mein Partner, unser neunjähriger Sohn und unsere sechsjährige Tochter im Publikum. Öfter mal werde ich gefragt, wie ich das geschafft habe: Studium, Arbeit, zwischendrin eine Trennung mit kleinen Kindern, Familienalltag, zwei Unternehmensgründungen. Ganz ehrlich, manchmal weiß ich es selbst nicht mehr. Ich hatte mich eben für all das entschieden. Ganz sicher aber hätte mein Lebensweg anders ausgesehen, ohne diese Frauen als Vorbilder, mit ihrer Autonomie und ihrem Vertrauen in sich selbst und das Leben. Sie alle hatten das geschafft. Ich wusste immer, ich kann das auch.
Es darf aber leichter werden. Darum ist der Einsatz für Gleichberechtigung in der Arbeitswelt seit über zehn Jahren nicht mehr nur eine Herzensangelegenheit. Als Team wollen wir etwas verändern. Hier und da ist das bereits gelungen: Über 4.000 Frauen finden im PANDA-Netzwerk eine Plattform für Weiterentwicklung und gegenseitige Unterstützung. Wir begleiten Unternehmen dabei, ihre Kultur zu verändern, haben mit dem Bundespräsidialamt gearbeitet und mit dem Ostbeauftragten der Bundesregierung im Kanzleramt die Frage nach der Repräsentanz Ostdeutscher in Führungspositionen auf unsere Agenda gesetzt. Mit Employers for Equality erreichen wir Tausende Menschen in Unternehmen mit Bildungsangeboten zum Thema Diversität. Meine Familie konnte mich bei der Unternehmensgründung nicht mit eigener Erfahrung, Kapital oder Netzwerk unterstützen. Aber die innere Stärke und den Mut, den sogenannten „Gleichstellungsvorsprung Ost“: Das haben mir die Ostfrauen mitgegeben.
Brücken bauen zwischen den Welten
Meine Schwester kam im Sommer 1989 zur Welt. Sie wurde mit bunteren Spielzeugen, TV-Sendungen und Süßigkeiten groß. Und mit Eltern, die den Verlust von Sicherheiten bewältigen, ganz neue Spielregeln lernen und lange Arbeitslosigkeit erleben mussten. In der Welt meiner Schwester spielte Geld eine völlig andere Rolle als in meiner Kindheit. Sein Fehlen markierte nun sichtbare Unterschiede und limitierte den Zugang zu den jetzt doch im Überfluss vorhandenen Möglichkeiten. Ich erinnere mich an einen Bildband über Kanada, den meine Eltern zu DDR-Zeiten ergattert hatten und in dem ich oft geblättert habe. Kanada, das Sehnsuchtsland meines Vaters, der vor kurzem 70 Jahre alt geworden ist. Seinen Traum von einer Reise dorthin konnte er sich in über 30 Jahren deutscher Einheit nicht erfüllen. Neulich erwähnte er, dass er ihn ad acta gelegt habe.
Meine Eltern und meine Schwester leben heute noch in Dessau. Unsere Heimatbesuche führen uns also regelmäßig aus einer der reichsten Regionen ins drittärmste Bundesland Deutschlands. Auf aktuellen Grafiken treten anhand von Indikatoren wie Verdienst, Erbschaften oder Arbeitslosenquote die Umrisse der nicht mehr so neuen Bundesländer glasklar hervor. Nicht, dass wir diese Darstellungen bräuchten. Die Unterschiede sind offensichtlich. Auch im bayerischen Freundeskreis gibt es Gespräche über unser Ossi-Sein. Mal in Form von gutmütigen, klischeereichen Scherzen, mal tiefgründiger. Wenn wir vom Leben unserer Familien erzählen, zum Beispiel, was meine Schwester als Physiotherapeutin oder meine Mutter als Krankenschwester verdienen, ernten wir fassungslose Blicke. Für viele ist der Osten weit weg. Ein befreundetes Paar war seit der Wiedervereinigung kein einziges Mal dort. Dieses Desinteresse teilt es übrigens mit fast einem Viertel aller Westdeutschen. Die Wende, für Millionen Ostdeutsche ein solch einschneidendes Ereignis, hat ihre Leben kaum berührt.
Vorurteile halten sich dafür auf beiden Seiten. Unseren Familien sitzen Erlebnisse mit plötzlich aufgetauchten Wessi-Führungskräften im Nacken, die ihnen nicht selten wie dummen Kindern die Welt erklären wollten, sich jedoch für die Menschen und ihre Erfahrungen nicht interessierten. Auf der anderen Seite das Bild vom rechten Jammer-Ossi. Ein Nachbar bedachte uns einmal mit diesem Kompliment: „Die Ossis haben ja oft eine große Klappe und nichts dahinter, aber ihr seid echt okay.“ Als wir ihm offenbarten, dass genau das doch unser Vorurteil gegen die Wessis war, konnten wir zusammen darüber lachen. So banal sie sein mögen: Solche Alltagsgespräche führen uns näher zueinander. Zuhören, Erfahrungen teilen, sich kennenlernen. Das können wir alle tun, jeden Tag.

PANDA Women Leaders Salon im Bundeskanzleramt, zusammen mit dem Ostbeauftragten der Bundesregierung Carsten Schneider, im November 2023. Abbildung: Bundeskanzleramt/Henning Schacht
Denke ich an Ostdeutschland …
Meine Kinder sind heute 20 und 23 Jahre alt und haben ihr gesamtes Leben in Bayern verbracht. Durch die Familie ist eine persönliche Verbindung zum Osten da. Aber welche Bedeutung hat das Thema in ihrer Generation heute noch? Das habe ich neulich meinen Sohn gefragt. Seine Antwort: gar keine. Im Zweifel wüsste man nicht mal, ob eine Stadt in Ost oder West läge. Diese oft emotional aufgeheizte Ost-West-Debatte, die wir erleben, hat ein Ablaufdatum, und es ist nicht fern.
Denke ich an Ostdeutschland, dann denke ich an Aufstiegsgeschichten. Ich denke daran, dass sich innerhalb einer Generation alles ändern kann. An Menschen, die in die Welt gegangen und sich Leben erarbeitet haben, von denen ihre Eltern nur träumen konnten. Ich denke an den Osten als Raum von Möglichkeiten, die jetzt erkannt werden. Seit 2017 ziehen mehr Menschen von West nach Ost als umgekehrt. Alle Faktoren, in denen der Osten heute noch hinterherhinkt, haben auf der anderen Seite enormes Potenzial für Menschen, die gestalten wollen. Zugegeben, das „Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost“ braucht länger als erwartet. Es bleibt viel zu tun im Hinblick auf wirtschaftliche Bedingungen, angemessene Repräsentation und gleiche Lebenschancen. Viele Perspektiven bekamen bisher zu wenig Beachtung. Viele Geschichten müssen noch erzählt werden.
Und doch bin ich voller Zuversicht. Ich sehe eine vierte Generation Ost, die mit Selbstbewusstsein auf ihre Herkunft blickt, Kraft aus der Lebensleistung ihrer Eltern und Großeltern schöpft und dieses Land positiv mitgestaltet.

PANDA Event 2023: PANDA Women Leadership Lab zum Thema „Change & Innovation“ bei Accenture in Kronberg. Abbildung: Gabriele die Stefano
Isabelle Hoyer
GEBOREN: 1978/Dessau
WOHNORT (aktuell): Mering (Bayern)
MEIN BUCHTIPP: Maxi Wander: „Guten Morgen, Du Schöne“, 1977
MEIN FILMTIPP: „Barbara“, 2012
MEINE URLAUBSTIPPS: Prerow (Ostsee), Elbsandsteingebirge, Dresden, Mecklenburgische Seenplatte
![]() „Denke ich an Ostdeutschland ...“In der Beziehung von Ost- und Westdeutschland ist auch 35 Jahre nach dem Mauerfall noch ein Knoten. Dieser Sammelband will einen Beitrag dazu leisten, ihn zu lösen. Die 60 Autorinnen und Autoren geben in ihren Beiträgen wichtige Impulse für eine gemeinsame Zukunft. Sie zeigen Chancen auf und skizzieren Perspektiven, scheuen sich aber auch nicht, Herausforderungen zu benennen. Die „Impulsgeberinnen und Impulsgeber für Ostdeutschland“ erzählen Geschichten und schildern Sachverhalte, die aufklären, Mut machen sowie ein positives, konstruktiv nach vorn schauendes Narrativ für Ostdeutschland bilden. „Denke ich an Ostdeutschland ... Impulse für eine gemeinsame Zukunft“, Frank und Robert Nehring (Hgg.), PRIMA VIER Nehring Verlag, Berlin 2024, 224 S., DIN A4. Als Hardcover und E-Book hier erhältlich. |