Am 1. April haben wir an dieser Stelle über ein Zehn-Punkte-Programm für Ostdeutschland berichtet, das Friedrich Merz im Laufe des Tages im Bundestag vorstellen sollte. Die Rede wurde unseres Wissens nicht gehalten, sicher vor allem, weil wir uns diese „Agenda 2029“ ausgedacht haben. Es handelte sich um einen Aprilscherz.

Wächst nun doch noch zusammen, was zusammengehört? Friedrich Merz stellt heute seine Agenda 2029 für eine „Wiedervereinigung 2.0“ vor. Abbildung: Deutscher Bundestag, Thomas Köhler, photothek
Einige Punkte mögen gar nicht so weit hergeholt sein und so manches würden wir auch wirklich für eine gute Idee halten. Unsere Redaktion hat aber keine Kenntnis von einem solchen Zehn-Punkte-Programm für Ostdeutschland. Wir wollten zum Nachdenken darüber anregen, was Ostdeutschland wirtschaftlich braucht, um aufzuschließen. Das würde vieles Weitere nach sich ziehen: Wohlstand, Perspektiven, Zuzug statt Abwanderung, Kinder ... Wenn Ostdeutschland dann auch noch mental mitgenommen wird, etwa durch angemessene Repräsentation und zumindest symbolische Akte der Aufarbeitung dessen, was bei vielen zu einem Trauma beigetragen hat, dann lässt sich vielleicht wirklich mal ein Haken an die deutsche Einheit machen. Und dann erlebt der Osten und somit ganz Deutschland bei den nächsten großen Wahlen vielleicht nicht sein blaues Wunder, auf das derzeit vieles hinauszulaufen scheint.
Wir hoffen, niemanden auf dem falschen Fuß erwischt zu haben. Herzlichen Dank für das positive Feedback auf Social Media, in der Tagespresse, per E-Mail, per Telefon. Lassen Sie uns gern ins Gespräch kommen. Hier das Ganze noch einmal zum Nachlesen.
Friedrich Merz spricht im Bundestag zu Ostdeutschland
Der voraussichtlich nächste Bundeskanzler Friedrich Merz stellt heute im Deutschen Bundestag ein Zehn-Punkte-Programm zur Förderung Ostdeutschlands sowie der Wiedervereinigung insgesamt vor. Es soll sowohl Teil des Koalitionsvertrags als auch einer großen Staatsreform werden.
Am Nachmittag des 31. März besuchte der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz überraschend das brandenburgische Golßen. Dort sagte er Mitarbeitenden des ansässigen Spreewaldhofs Unterstützung vor dem Hintergrund drohender Entlassungen zu und kündigte für den Folgetag ein Zehn-Punkte-Programm zur Förderung und Integration Ostdeutschlands an. Wesentliche Forderungen daraus sollen Teil des Koalitionsvertrages werden. Das Programm sei außerdem als Auftakt für eine dringend notwendige Staatsreform gedacht.
Golßen ist der größte Produktionsstandort für die berühmten Spreewaldgurken. 2021 wurde das französische Unternehmen Andros Eigentümer des seit 80 Jahren in dem 2.500-Einwohner-Ort produzierenden Betriebes. Vor wenigen Wochen hatte es dessen Schließung angekündigt.
Bereits vor den 250 anwesenden Beschäftigten des Spreewaldhofs erklärte Merz, er sei stolz auf seine familiären Wurzeln im brandenburgischen Wriezen. Darüber hinaus kenne er – entgegen des Grundtenors in den Medien – seine künftige Verantwortung für Ostdeutschland und insbesondere dessen Wirtschaft. In seiner Ansprache erwähnte Merz eine Ostquote für die Führungsebenen des Bundes und Sonderwirtschaftszonen in Ostdeutschland. Gegen Mitternacht wurde die für den heutigen Nachmittag angekündigte Rede Medienvertretern zur Verfügung gestellt. ostdeutschland.info berichtet vorab.
Agenda 2029: Zehn Punkte für Ostdeutschland
Das Zehn-Punkte-Programm von Friedrich Merz trägt den Titel „Agenda 2029“. Wir haben die wichtigsten Maßnahmen zusammengefasst.
- Ostquote: Bis November 2029 soll das Führungspersonal in Bundesregierung, Bundesbehörden und Bundeswehr zu mindestens einem Fünftel aus in Ostdeutschland Geborenen bestehen, entsprechend dem derzeitigen Bevölkerungsanteil von etwa 20 Prozent. In den Führungsebenen öffentlicher Verwaltungen und Hochschulen in Ostdeutschland müssen mindestens 50 Prozent der Beschäftigten ostdeutscher Herkunft sein.
- Sonderwirtschaftszonen: In Ostdeutschland sollen bis Ende 2027 fünf Sonderwirtschaftszonen eingerichtet werden, in denen eine um bis zu zehn Prozent geringere Gewerbe- und Körperschaftssteuer erhoben wird. So sollen Unternehmen aus dem In-, vor allem aber dem Ausland angelockt werden. Von Erfolg oder Misserfolg werde abhängig gemacht, ob solche Zonen ab 2030 auch in Westdeutschland definiert werden.
- Sondervermögen Ost: In den nächsten vier Jahren sollen vom Bund jeweils 100 Milliarden Euro in die Wirtschaft der Sonderzonen investiert werden, vorrangig im Bereich erneuerbare Energien sowie in Zukunftstechnologien wie Mikroelektronik, Halbleiterindustrie und Wasserstoffwirtschaft, in denen der Osten Deutschlands bereits jetzt gut unterwegs ist. Stark investiert werden soll aber auch in Elektromobilität, künstliche Intelligenz und Raumfahrt. Die 400 Milliarden Euro werden als weiteres Sondervermögen in Form von Schulden finanziert.
- Prämien: In den Sonderwirtschaftszonen, die um die bestehenden Clusterstandorte herum entstehen sollen, werden vom Bund Investitionsprämien und ein sogenanntes Start-up-Bafög gezahlt. Die Länder sollen zu Rückzugsprämien im niedrigen fünfstelligen Bereich sowie zu einer Zuzugsprämie in halber Höhe verpflichtet werden.
- Entbürokratisierung: Die Sonderwirtschaftszonen sollen zum einen Vorbild für einen rigorosen Abbau verzichtbarer Regeln werden. Eine Kommission soll bis Ende 2026 ein „Regelwerk Ost“ vorlegen. Zum anderen sollen die Zonen Digitalisierungsvorreiter werden. Hier seien beschleunigte Genehmigungsverfahren zu erproben, indem solche Prozesse komplett digitalisiert werden. Auch dadurch könne Ostdeutschland zum Labor für ganz Deutschland werden, so Merz.
- Bundesministerien und Behörden: Bis 2029 soll Berlin einziger Standort der Bundesministerien sein. In den neuen Flächenbundesländern sollen bis dahin 50 Prozent der Bundesämter und 25 Prozent der weiteren großen Bundesbehörden ihren Sitz haben.
- Bundeswehr: Neue Standorte sollen schon in Anbetracht der aktuellen Bedrohung aus Russland mit Vorrang in den ostdeutschen Bundesländern entstehen. Bereits dort vorhandene Bundeswehrstandorte sollen ausgebaut werden.
- Verfassung: Friedrich Merz will dem Bundestag eine Abstimmung darüber vorschlagen, 2029 das Grundgesetz in eine neue Verfassung übergehen zu lassen. Bis Mitte 2026 soll eine Fachkommission Vorschläge erarbeiten. 1990 sei die Chance, durch einen gemeinsamen Verfassungsprozess ein für beide Seiten identitätsstiftendes Symbol zu schaffen, angesichts sich überschlagender Ereignisse verpasst worden. Dies solle nun nachgeholt werden. Den Kern einer neuen Verfassung sollte das bewährte Grundgesetz bilden. Auf dieser Basis könnten Aktualisierungen vorgenommen werden.
- Tag der Deutschen Einheit und Nationalhymne: In diesem Zusammenhang soll der Bundestag außerdem über eine Verlegung des Feiertags zur Wiedervereinigung und ein neues „Lied der Deutschen“ abstimmen.
Der Tag der Deutschen Einheit soll ab 2029 vom 3. Oktober auf den 9. Oktober verlegt werden. Die Leipziger Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 gilt als Wendepunkt der friedlichen Revolution in der DDR. Ein solches Ereignis zu feiern, sei wertvoller als einen Verwaltungsakt zu jähren. Der 3. Oktober habe in den letzten Jahren insbesondere in Ostdeutschland nicht mehr die nötige Aufmerksamkeit gefunden. Eine Verlegung auf den 9. November, den Tag des Mauerfalls, hätte eine noch größere Berechtigung, das Datum sei aber historisch zu sehr belastet, vor allem durch die Reichspogromnacht am 9. November 1938. Am 8. Oktober 1989 wurde im Übrigen in Dresden die „Gruppe der 20“ gegründet, eine Bürgervertretung, der an diesem Tag erstmals ein friedlicher Dialog zwischen oppositionellen Demonstranten und Vertretern des DDR-Systems gelang, woran heute bereits regionaler Gedenktag erinnert (Anm. d. Red.).
Außerdem soll ein weiterer Anlauf für eine neue Nationalhymne genommen werden. Immer wieder habe es Vorschläge wie Brechts Kinderhymne gegeben, die viele Vorteile gegenüber des in Teilen belastetet Deutschlandliedes aufweisen. Eine neue Hymne soll in einem angemessenen Rahmen öffentlich diskutiert werden. Im Anschluss könnten die Bundestagsabgeordneten darüber abstimmen. - Olympische Spiele: Anlässlich des 50. Jubiläums der deutschen Wiedervereinigung soll sich Ostdeutschland für die Olympischen Sommerspiele 2040 bewerben. Diese sollen ein Fest der Einheit und des Friedens werden.
Merz bezeichnet sein Zehn-Punkte-Programm als einen zweiten Anlauf zur Vollendung der deutschen Einheit. Obwohl seit 1989 viel geschehen sei – längst gebe es tatsächlich „blühende Landschaften“ und in vielen Bereichen könne eine große Annäherung festgestellt werden –, brauche es diese erneute Bemühung, eine „Wiedervereinigung 2.0“, um zu versöhnen und zu vermitteln. Insbesondere angesichts der jüngsten Wahlergebnisse führe daran kein Weg vorbei.
Den Namen „Agenda 2029“ trage sein Programm, weil die DDR, welche 40 Jahre bestand hatte, in vier Jahren 40 Jahre lang Geschichte sei. Friedrich Merz bezeichnet es als seinen ausdrücklichen Wunsch, dass die problematischen Ost-West-Differenzen dann überwunden sind. Dies mache er sich zur persönlichen Aufgabe.
Die geschilderten Maßnahmen sollen außerdem ganz bewusst an das Zehn-Punkte-Programm erinnern, das Bundeskanzler Helmut Kohl am 28. November 1989 vor dem Deutschen Bundestag als seinen Fahrplan zur Einheit vorstellte (damals nicht weniger überraschend für alle Beteiligten; Anm. d. Red).
Für die Inspiration zu seinem Programm dankt Friedrich Merz ausdrücklich den ostdeutschen CDU-Landesverbänden, die am 18. Februar ein ähnlich gelagertes Papier vorgestellt hatten, sowie Mario Czaja, 2022/23 Generalsekretär des Bundes-CDU, der im vergangenen Jahr in seinem Buch „Wie der Osten Deutschland rettet: Lösungen für ein neues Miteinander“ unter anderem für eine Ost-Quote und eine „DIN Ost“ plädiert hatte.
Wie glaubwürdig dieser Vorstoß von Friedrich Merz ist, bleibt abzuwarten. Auch so manches Wahlversprechen hat sich schnell in Luft aufgelöst. Bislang wurde von mehreren Seiten erwartet, dass Ostdeutschland bei Friedrich Merz keine besondere Rolle mehr spielen werde. Unter den 18 Teilnehmern der Sondierungsgespräche zur Regierungsbildung waren entsprechend auch nur zwei aus Ostdeutschland zu finden. Im Bundestagspräsidium saßen zuvor drei Ostdeutsche, nun keiner mehr.
Sein Motiv jedoch ist glaubhaft: Die CDU hat bei den Bundestagswahlen 2025 kein einziges Direktmandat in Ostdeutschland inklusive Ostberlin erringen können. In den neuen Bundesländern kam sie lediglich auf 18 Prozent der Zweitstimmen. In einer Umfrage Ende Februar 2025 waren 56 Prozent der Befragten in Ostdeutschland der Meinung, dass der CDU-Vorsitzende aus dem Sauerland kein guter Kanzler wäre. Nur 28 Prozent sahen das anders. Im Westen hielten sich Befürworter (45 Prozent) und Zweifler (44 Prozent) die Waage.
Seine Rede wird mit Spannung erwartet.