AfD im Höhenflug. Die Schuld hat Ostdeutschland? Nora Schmidt-Kesseler, Hauptgeschäftsführerin der Nordostchemie-Verbände, räumt in ihrem Gastbeitrag mit diesem Vorurteil auf. Sie hat drei Lösungsvorschläge parat, um mit der neuen Situation umzugehen.

Nora Schmidt-Kesseler, Hauptgeschäftsführerin der Nordostchemie-Verbände, hat Vorschläge, wie mit dem AfD-Erfolg umzugehen ist. Abbildung: Annette Koroll
Es ist ein harter Aufprall auf dem Boden der politischen Realität: Bei der Bundestagswahl hat die AfD ihr Ergebnis quasi verdoppelt. Im neuen Parlament werden die Parteien der politischen Mitte erstmals seit 1949 keine Mehrheit für Verfassungsänderungen haben. Reflexartig zeigten sogleich viele Finger Richtung Ostdeutschland. Doch wer genauer auf die Landkarte mit den Stimmenverteilungen schaut, stellt fest: Die stärksten Zugewinne hat die AfD diesmal im Südwesten eingefahren.
Ob Bayern, Rheinland-Pfalz, das Saarland oder Baden-Württemberg: In all diesen Bundesländern liegt die AfD nun bei über 18 Prozent. Selbst bei der jüngsten Bürgerschaftswahl im Hamburg, unserem Tor zur Welt, kletterte sie in einigen Stadtteilen erstmals auf über zehn Prozent. Wir sollten uns daher auch abseits von Ostdeutschland endlich der Realität stellen: Die AfD hat längst in der gesamten Republik Fuß gefasst. Was sagt uns diese Wirklichkeit? Wie gehen wir mit ihr um? Dazu drei Gedanken:
Problem vergemeinschaften
Wir bekommen die Ablehnung der politischen Mitte nicht in den Griff, wenn wir sie nur im Osten verorten. Die Enttäuschung, das Gefühl von Ungerechtigkeit, das Misstrauen gegenüber etablierten Parteien greift überall in Deutschland Raum. Medien und Öffentlichkeit sollten umdenken und die Gründe für die Wahlentscheidung für die AfD auch im Westen ab sofort realistisch darstellen und debattieren. Politische Gegenstrategien müssen gesamtdeutsch gedacht werden.
Ostdeutsche Erfahrungen ernstnehmen
Wie ticken die Menschen in Ostdeutschland? Zusammenbruch, Angst vor einer ungewissen Zukunft und existenzielle Verunsicherung: All das haben die Menschen im Osten schon einmal erlebt. Die Chemie war hier immer ein wichtiger und identitätsprägender Industriezweig. Wer ein ultimatives Kippen der Stimmung verhindern will, muss die tiefen – und oftmals sehr berechtigten – Sorgen um Arbeitsplätze und die Bürden des Strukturwandels in echte politische Verbesserungen übersetzen. Doch Vorsicht: Ostdeutschland ist kein Sonderfall – es ist ein Seismograf für Gesamtdeutschland.
Das Land einen mit vernünftiger Politik der Mitte
Der gesellschaftliche Unfrieden in Ost wie West ist alarmierend. Aber dies kann auch eine Chance sein. Wenn Union und SPD jetzt konsequent eine ausgewogene Wirtschafts-, Sozial- und Klimapolitik auf den Weg bringen, wird Deutschland einen großen Schritt nach vorne machen. Kompromissbereitschaft und Kritikfähigkeit gehören dazu. Die fiskalischen Hürden, die noch im Raum standen, sind schnell und entschlossen aus dem Weg geräumt worden.
Dieser Schulterschluss ist der beste Schutz gegen weitere Landnahme des rechten Randes. Was wir brauchen, ist eine Koalition der starken Mitte. Mein Appell an die neuen Regierungsverantwortlichen: Nutzen Sie die Gunst der Stunde, eine durchdachte, zukunftsweisende Politik für unser Land auf den Weg zu bringen. Damit nicht noch mehr Menschen ihren Glauben an unsere Demokratie verlieren.