Prof. Dr. Thomas Brockmeier, Hauptgeschäftsführer der IHK Halle-Dessau, ist ein wichtiger Impulsgeber für Ostdeutschland. Er setzt sich ein für Vergewisserung, Verständigung und Versöhnung. Mit diesem Beitrag ist er auch im zweiten Sammelband „Denke ich an Ostdeutschland ...“ vertreten.

Prof. Dr. Thomas Brockmeier, Hauptgeschäftsführer IHK Halle-Dessau. Abbildung: IHK Halle-Dessau
Spätestens seit Dirk Oschmanns Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ wird nicht nur wieder intensiv über „Ost und West“ diskutiert, sondern auch ein Narrativ belebt, das offenbar nicht unterzukriegen ist: die Geschichte vom Osten, der dem Westen auf der Tasche liegt. Mit den jüngsten Wahlergebnissen zum Europaparlament, zum Deutschen Bundestag oder auch den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen feiern alte Klischees fröhliche Urständ: Der „Jammer-Ossi“ ist wieder (oder immer noch) da. Undankbar wie eh und je. Allerdings jammert er jetzt nicht nur, sondern er färbt auch noch die gesamte ostdeutsche Landkarte blau.
Ich lebe und arbeite seit 25 Jahren in Ostdeutschland, fühle mich selbst eher als Ossi denn als Wessi (wenn es denn diese Kategorien überhaupt noch braucht …). Als Volkswirt und Wirtschaftsmathematiker stoßen mir derart falsch angeschlagene Misstöne, Klischees sowie grobe Verkürzungen und tendenziöse Vereinfachungen übel auf; sie geben mir das Gefühl, differenziertes Denken und klare Analyse verteidigen zu müssen. Das ist mir zuwider.
Die Wiedervereinigung war für Westdeutschland ein richtig gutes ‚Geschäft‘.”
Ostdeutsche als Seismographen für Freiheit
Die „blaue“ Landkarte Ostdeutschlands suggeriert, es gäbe im Osten ausschließlich AfD-Wähler – so, als würde dort, wie weiland in der DDR, praktisch nur eine Partei gewählt. Oder so, als hätte es eine Wahlrechtsreform hin zum Mehrheitswahlrecht gegeben. Hat es aber nicht, noch gilt das Verhältniswahlrecht. Würden die Ergebnisse den tatsächlichen Verhältnissen entsprechend dargestellt, hätte dies eine einfache, aber bedeutsame Folge: Die Karte würde bunt – und zwar nicht nur im Osten, sondern auch im Westen. Und diese Differenzierung böte die Chance, viele Ostdeutsche als das zu sehen, was sie unter anderem sind: hochsensible Freiheitsseismografen und erprobte Transformationsexperten.
Wer Freiheit erhofft, ersehnt oder sogar erkämpft hat, schätzt sie mehr, als wenn er wie selbstverständlich in sie hineingeboren wurde. Der regelmäßig publizierte „Freiheitsindex“ (Roland Schatz, Thomas Petersen) zeigt deutlich, dass die Luft dünner und der Raum enger wird. Hinzu kommt: Wer über Jahre hinweg hat erleben müssen, dass für jedermann offensichtliche Probleme von politischen Entscheidungsträgern klein- oder gar schöngeredet wurden, der wird hellhörig oder klarsichtig. Déjà-vu – Irrtum ausgeschlossen. Und wer erlebt hat, dass die gewohnte eigene Welt von einer Sekunde zur anderen nicht mehr existiert, dass Bewährtes nicht(s) mehr gilt, dass Erlerntes und Erreichtes quasi über Nacht entwertet werden können, der wird sensibel, vielleicht gar labil. Und wer sich dann mühsam an die völlig neue Welt angepasst und durchgebissen hat, dessen Begeisterung für weitere politisch induzierte Strukturveränderungen hält sich in engen Grenzen.

Bitterfeld 1990. Abbildung: MDR
Abgewanderte ostdeutsche Fachkräfte
Die These von den einseitigen Lasten Westdeutschlands für den Aufbau Ost hat das oben skizzierte Narrativ entstehen lassen, welches sich bis heute so hartnäckig hält. Das ist schlimm genug und müsste jedem ein Dorn im Auge sein, der 35 Jahre nach der Wende lieber über Gemeinsames als über Trennendes, lieber über konstruktive Wege zu einem stärkeren Miteinander als über die ewig gleichen destruktiven Abgrenzungen zu einem zementierten Gegeneinander reden würde. Besonders unschön und ärgerlich, im Grunde fatal aber ist, dass diese These von den einigungsbedingten Sonderlasten des Westens schlicht falsch ist. Genau genommen haben wir es nicht mit einem Narrativ, sondern mit einem Märchen zu tun. Sterntaler 2.0: Der reiche Onkel im Westen schüttet das Füllhorn aus, und die (ungeliebte und undankbare) Verwandtschaft im Osten fängt die vom Himmel regnenden Taler auf ...
Eine Bilanz hat bekanntlich zwei Seiten. Wer Sonderlasten geltend macht, der darf Sondererträge nicht außer Acht lassen. Ansonsten entsteht nämlich keine Bilanz, nicht einmal eine Milchmädchenrechnung. Als Kern der vermeintlichen Sonderlast West gelten gemeinhin die Finanztransfers von West nach Ost. Nicht selten wird das Bild von den „goldenen Bürgersteigen in Görlitz“ bemüht, während man in Gelsenkirchen Gefahr läuft, sich angesichts der maroden Infrastruktur die Knochen zu brechen, wenn man nicht aufpasst.
Ein solcher Vergleich schmerzt mich, der ich im Ruhrgebiet (keine 20 Kilometer von Duisburg entfernt) aufgewachsen bin, ganz besonders. Er steht für eine Sichtweise, die die dringend notwendige Infrastrukturentwicklung in ganz Deutschland irrigerweise als Nullsummenspiel zwischen zwei Regionen begreift. Der Vergleich grenzt in seiner polarisierenden Zuspitzung nachgerade ans Perfide. Schlimm genug. Das Schlimmste aber ist: Dieses immer wieder bemühte Bild steht für einen Ansatz, der schlicht falsch ist. Denn es wird ein Sonderertrag unterschlagen, über den der Westen sich bis heute freuen kann und der ihm mehr Zukunftsfestigkeit beschert, als ihm ohne die deutsche Einheit je zugewachsen wäre. Damit meine ich nicht etwa die Sonderkonjunktur für Gebrauchtwagenhändler und Reisebüros kurz nach der Wende. Sondern ich meine den Nettozuwachs an Arbeitskräften, die im Laufe der Jahre von Ost nach West gewandert sind. In Zeiten des allerorten beklagten Arbeits- und Fachkräftemangels ist das weit mehr als nur der sprichwörtliche „Goldstaub“.

Bitterfeld heute mit Blick auf den Pegelturm. Abbildung: Kathrin Kuhnt
Doch selbst dann, wenn man nicht die gesamten 35 Jahre nach der Wiedervereinigung, sondern nur Teilabschnitte bilanziert, wird für Westdeutschland ein richtig gutes „Geschäft“ draus. Das lässt sich mit wenigen Zahlen rasch illustrieren:
Der berühmte „Korb II“ des Solidarpakts etwa umfasste 300 Milliarden D-Mark, nach heutiger Rechnung 156 Milliarden Euro. Unterstellt man durchschnittliche Wertschöpfungsbeiträge je Erwerbstätigen von 50.000 Euro jährlich, dann haben die bis dahin netto knapp zwei Millionen aus Ostdeutschland abgewanderten Arbeitskräfte „drüben“ also eine Wertschöpfung von rund 100 Milliarden Euro erbracht. Jährlich! Um mich nicht selbst gröbster Vereinfachung schuldig zu machen, will ich nicht so weit gehen zu behaupten, dass damit analytisch exakt und periodengerecht trennscharf bewiesen wäre, dass allein die aus Ostdeutschland abgewanderten Arbeitskräfte binnen nicht einmal zwei Jahren das gesamte Finanzvolumen des Solidarpakts II „gestemmt“ hätten. Natürlich nicht. Denn selbstverständlich sind die Zahlen nicht exakt, wären die Unterschiede zwischen Wertschöpfungsbasiswerten und daraus gespeisten Steuermitteln sowie viele weitere Aspekte zu berücksichtigen. Aber darauf kommt es (mir) auch gar nicht an. Ich möchte auf den grundsätzlichen Zusammenhang aufmerksam machen. Und der ist so eindeutig, dass man sich über das Beharrungsvermögen des bewussten Narrativs nur wundern kann. Es geht mir um eine ehrliche Bestandsaufnahme und Bewertung dessen, was gewesen ist – und bis heute ist. Dazu gehört unter anderem der Hinweis, dass der viel diskutierte Solidaritätszuschlag von jedem zu entrichten ist, der Steuern zahlt – im Osten wie im Westen. Es geht um Anerkennung und Wertschätzung der erbrachten Leistungen. Und um deren sachgerechte „Bilanzierung“.
Produktiv und wertschöpfend tätig waren aber selbstverständlich nicht nur jene, die abgewandert, sondern auch die vielen, die geblieben, gekommen oder zurückgekommen sind. So ist etwa das von Unternehmern (gemeinsam mit ihren Mitarbeitenden) Geleistete grandios. Sie haben als Gründer den Sprung ins kalte und komplett unbekannte Wasser der Selbstständigkeit gewagt und Verantwortung übernommen. Auch in Politik und Verwaltung, in Schulen und vielen anderen Bereichen haben die Menschen die Ärmel hochgekrempelt und entschlossen angepackt. Die Ergebnisse können sich sehen lassen, die Entwicklung ist in mancherlei Hinsicht beinahe atemberaubend. Ich habe 1992 das erste Halbjahr in Jena verbracht und in dieser Zeit auch Halle, Leipzig, Gera, Erfurt und Nordhausen besucht. Den Vergleich der Bilder von damals zu heute trage ich in mir, deren Prägekraft wird mich nie verlassen.

Eine alte Industrieanlage im Chemiepark Leuna. Abbildung: InfraLeuna GmbH
Ostdeutschland in den Medien
Doch natürlich hatten und haben nicht alle Menschen in Deutschland die Möglichkeit, sich selbst ein Bild „vor Ort“ zu machen. Ob manchen vielleicht auch die Bereitschaft dazu fehlt(e), vermag ich weder zu beurteilen noch ist es für meinen „Kernpunkt“ relevant. Fest steht jedenfalls, dass jene, die sich nicht durch eigene Anschauung ein authentisches Bild machen (können), auf andere Informationsquellen angewiesen sind. Eine besondere Rolle spielen dabei die Medien.
Leider muss man feststellen: Das Bild Ostdeutschlands in den deutschen Medien war über Jahrzehnte ein Zerrbild von Pleiten, Pech und Pannen. Die Berichterstattung war keineswegs dazu geeignet, althergebrachte Vor- und Fehlurteile überwinden zu helfen. Im Gegenteil: Klischees und Stereotype demonstrierten ein erschreckendes Beharrungsvermögen – und tun es bis heute. Obwohl sich die Entwicklung Ostdeutschlands insgesamt wie auch einzelner sogenannter neuer Bundesländer durchaus als Erfolgsgeschichte beschreiben ließe, dominieren bis heute Berichte über Negatives (vgl. einschlägige Daten des Zürcher Forschungsinstituts Media Tenor International). Beachtliche Erfolge und Fortschritte der ostdeutschen Wirtschaft fallen ebenso unter den Tisch wie manche Standortvorteile Ost: noch immer geringere Lebenshaltungskosten, im Durchschnitt erheblich niedrigere Immobilienpreise sowie die im Vergleich mit westdeutschen Ländern deutlich bessere Kinderbetreuung und eine höhere Frauenerwerbsquote im Osten (und damit die Angleichung der Haushaltseinkommen in Ost und West). Ausnahmen bestätigen die Regel, zum Glück: So hat es etwa Sachsen-Anhalt in der Berichterstattung bei den sogenannten Dynamik-Rankings laut jüngsten Studien weit nach vorn geschafft. Das ist erfreulich – und darf gern Schule machen!
Fazit: Die deutsche Einheit war und ist ein Erfolg. Dies gilt für den Aufbau Ost ebenso wie für den Aufbau West. Darüber können wir als Deutsche uns gemeinsam freuen – und nach vorn schauen, um zu erkennen, was sich in Zukunft noch besser machen lässt. Und wenn dann noch die Medien stärker über solche Erfolge berichten, erfahren endlich auch mehr Menschen davon.

Der heutige Chemiepark Leuna aus der Vogelperspektive. Abbildung: InfraLeuna GmbH
Prof . Dr. Thomas Brockmeier
GEBOREN: 1965/Wesel (Nordrhein-Westfalen)
WOHNORT (aktuell): Halle (Saale)
MEINE BUCHTIPPS: Katja Adler: „Rolle rückwärts DDR?“, 2024; Bernd-Lutz Lange: „Freie Spitzen“, 2021
MEIN FILMTIPP: „Das Leben der Anderen“, 2006
MEIN URLAUBSTIPP: Rügen und Usedom
BUCHTIPP:
„Denke ich an Ostdeutschland ...“In der Beziehung von Ost- und Westdeutschland ist 35 Jahre nach dem Mauerfall noch ein Knoten. Auch dieser zweite Sammelband will einen Beitrag dazu leisten, ihn zu lösen. Die weiteren 60 Autorinnen und Autoren geben in ihren Beiträgen wichtige Impulse für eine gemeinsame Zukunft. Sie zeigen Chancen auf und skizzieren Perspektiven, scheuen sich aber auch nicht, Herausforderungen zu benennen. Die „Impulsgeberinnen und Impulsgeber für Ostdeutschland“ erzählen Geschichten und schildern Sachverhalte, die aufklären, Mut machen sowie ein positives, konstruktiv nach vorn schauendes Narrativ für Ostdeutschland bilden. „Denke ich an Ostdeutschland ... Impulse für eine gemeinsame Zukunft“, Band 2, Frank und Robert Nehring (Hgg.), PRIMA VIER Nehring Verlag, Berlin 2025, 224 S., DIN A4. Als Hardcover und E-Book hier erhältlich. |




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