Die Union will die Stelle des Ostbeauftragten abschaffen – doch ist das Amt wirklich überflüssig? Wir haben ostdeutsche Ministerpräsidenten sowie Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Zivilgesellschaft zur Zukunft des Beauftragten der Bundesregierung für Ostdeutschland gefragt.
Das Amt des Ostbeauftragten gibt es seit 1998. Neun Personen haben es bisher ausgeübt: eine Frau, acht Männer, fünf Mal SPD, vier Mal CDU, alles Ostdeutsche. Der aktuelle Amtsinhaber Carsten Schneider kommt aus Thüringen. Er ist Staatsminister beim Bundeskanzler. Sein Büro befindet sich ein Stockwerk unter dessen. Kürzlich äußerte der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, der in Lutherstadt Wittenberg geborene Sepp Müller: „Ich sage, wir brauchen keine ‚Reiseonkel‘, wir brauchen keinen Jammerossi, wir brauchen keinen Ostbeauftragten.” Damit wurde Gewissheit, was sich schon länger andeutete: Der voraussichtliche Bundestagswahlsieger möchte dieses Amt abschaffen. Beifall von AfD und BSW. SPD, Grüne und Linke protestieren.
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Carsten Schneider, der letzte Ostbeauftragte? Abbildung: Bundesregierung/Steffen Kugler
Ist das eine gute Idee? Natürlich muss Bürokratie abgebaut werden. Selbstverständlich gibt es auch in Westdeutschland strukturschwache Gegenden, wenngleich nicht in der Größe von fünf Bundesländern. Aber es existieren auch 35 Jahre nach dem Mauerfall noch gravierende Unterschiede, vor allem bei Vermögen und Repräsentanz, bei Zufriedenheit und Wahlverhalten. Außerdem hat der Osten eine ganz eigene Geschichte – mit existenziellen Erfahrungen. Und ist ein Ostbeauftragter nicht auch mehr als sein Budget und seine Befugnis? Würde mit ihm nicht auch ein Symbol verschwinden? Eines, das sagt: Wir sehen euch und wir wissen, dass wir uns hier besonders anstrengen müssen.
Wir haben uns zur Zukunft des Ostbeauftragten umgehört. Namhafte Persönlichkeiten haben uns dankenswerter Weise geantwortet. Die Frage lautete: Braucht es künftig noch einen Beauftragten der Bundesregierung für Ostdeutschland?
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Manuela Schwesig. Abbildung: Staatskanzlei Mecklenburg-Vorpommern/Steffen Kugler
Ja. Es gibt fast 35 Jahre nach der Deutschen Einheit noch immer Benachteiligungen, mit denen wir uns nicht abfinden: die unterschiedlichen Löhne, geringere Vermögen, weniger große Unternehmen. In den letzten Jahren konnten wir beim Ostbeauftragten unsere Probleme ansprechen und haben Unterstützung bekommen für Ansiedlungen – etwa beim Rostocker Hafen. Wir haben viele Projekte mit dem Bund. Ein direkter Ansprechpartner im Kanzleramt, der sich um den Osten kümmert, ist dringend notwendig – auch für die Zukunft.“
Manuela Schwesig,
Ministerpräsidentin des Landes Mecklenburg-Vorpommern, SPD.
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Dr. Dietmar Woidke. Abbildung: Uwe Kloessing
Ja. Der Abbau von Unterschieden zwischen Ost und West muss weiter Aufgabe der gesamten Bundesregierung sein. Hier sind wir in den letzten Jahren mit Unterstützung von Olaf Scholz gut vorangekommen, aber es bleibt auch weiter viel zu tun. Die Angleichung der Rente ist endlich gelungen, die industrielle Basis wurde in den ostdeutschen Ländern verstärkt. Das Amt des Ostbeauftragten ist weiterhin notwendig, um gemeinsam mit den ostdeutschen Regierungschefs weiter zu arbeiten. Es geht aber nicht nur um Angleichung von Lebensverhältnissen im Osten auf Westniveau, sondern auch darum, was der Westen vom Osten übernehmen kann. Dazu gehört zum Beispiel die ambulant-stationäre gesundheitliche Versorgung. Hier ist der Osten vorn.“
Dr. Dietmar Woidke,
Ministerpräsident des Landes Brandenburg, SPD.
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Dr. Reiner Haseloff. Abbildung: Ronny Hartmann, Staatskanzlei Sachsen-Anhalt
Auch mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung gibt es immer noch große Unterschiede zwischen Ost und West. Die ehemalige Grenze bildet sich in vielen Kennziffern deutlich ab: In der Unternehmensstruktur ebenso wie bei den Löhnen, im Steueraufkommen ebenso wie bei den Renten. Was für mich so lange nach der Wiedervereinigung aber vor allem nicht nachvollziehbar ist: Ostdeutsche sind in Führungspositionen immer noch unterrepräsentiert, in Wirtschaft und Medien, aber auch in Politik und Verwaltungen. Von daher erwarte ich von der neuen Bundesregierung, dass ostdeutsche Minister im künftigen Bundeskabinett stärker vertreten sind als bisher. Das hat Priorität. Solange es klare Unterschiede zwischen Ost und West gibt, macht auch ein Ostbeauftragter Sinn, vorausgesetzt dieser ist mehr als nur ein ostpolitisches Feigenblatt.“
Dr. Reiner Haseloff,
Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, CDU.
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Michael Kretschmer. Abbildung: Sächsische Staatskanzlei
Carsten Schneider hat in den vergangenen Jahren als Beauftragter viel für Ostdeutschland getan und einen super Job gemacht. Er hat im Wissen um die spezifischen Herausforderungen für die ostdeutschen Interessen gekämpft, daran mitgewirkt, dass Unternehmen sich ansiedeln und wichtige Diskussionen angestoßen. Die neuen Länder brauchen auch weiterhin eine starke Stimme, die sich in der Bundesregierung für die besonderen ostdeutschen Belange einsetzt. Das gelingt am wirkungsvollsten als Mitglied der Bundesregierung. Unsere Erwartung ist schon, dass eines der Zukunftsressorts mit einer ostdeutschen Persönlichkeit besetzt wird.“
Michael Kretschmer,
Ministerpräsident des Freistaates Sachsen, CDU.
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Bodo Ramelow. Abbildung: Christian Seeling
Einen Ostbeauftragten als Grüß-August braucht es nicht. Aber es braucht einen Ostbeauftragten, der sich als Ombudsmann für die besonderen Themen der neuen Bundesländern engagieren würde. Ich will das beispielhaft an drei Themen festmachen. Erstens: Es wurde im Einigungsvertrag vereinbart, insbesondere in Artikel 4 in Verbindung mit Artikel 5, dass der Artikel 146 des Grundgesetzes – also die Erarbeitung einer neuen Verfassung – umgesetzt wird. Das steht bis heute aus. Zweitens: Als Gewerkschafter freue ich mich, dass es eigentlich ein neues Arbeitsgesetzbuch geben soll. Das wäre für Gesamtdeutschland ein Vorteil – steht aber auch noch aus. Drittens: Wir haben bis heute viele Fehler des Einigungsprozesses nicht geheilt – beispielsweise die Geschiedenen-Rente oder die Rente für mithelfende Ehefrauen. Das sind unerfüllte Verpflichtungen. Auch Webfehler der industriellen Entwicklung müssen dringend überwunden werden. Dass wir bis heute nur verlängerte Werkbank für viele Konzerne sind, führt zu einer systematischen Schwächung der lokalen Steuerkraft.“
Bodo Ramelow,
Ministerpräsident des Freistaates Thüringen a.D., Die Linke.
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Dr. Paula Piechotta. Abbildung: Philip Knoll
Ja, es braucht auch noch weiterhin das Amt des Ostbeauftragten. Ostdeutschland hat unter anderem mit 40 Jahren SED-Diktatur, überproportional hohen Kriegsreparationen und jahrzehntelanger Abwanderung für die Kriegsschuld Deutschlands büßen müssen. Anders als Westdeutschland musste der Osten nicht nur zwölf, sondern 56 Jahre Diktaturerfahrung durchleben – nicht, weil man mehr Schuld gehabt hätte, sondern weil man das Pech hatte, zur sowjetischen Besatzungszone gemacht zu werden. Darüber hinaus ist die Lebenserwartung von ostdeutschen Männern immer noch niedriger und Ostdeutsche sind in allen Führungspositionen brutal unterrepräsentiert, um nur einige Beispiele zu nennen. Ostdeutschland ist im Bundestag und Bundesrat immer in der Minderheit, weshalb es zusätzliche politische Strukturen braucht, um diese Interessen gezielt zu vertreten und zu schützen. Deswegen braucht es das Amt des Ostbeauftragten. Auch jetzt. Ich hoffe als Ostdeutsche, dass ich noch den Tag erlebe, an dem er oder sie wirklich überflüssig wird.“
Dr. Paula Piechotta,
Bundestagsabgeordnete aus Sachsen und Co-Sprecherin der Landesgruppe Ost der Bundestagsfraktion Bündnis90/Die Grünen.
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Beatrice von Braunschweig und Daniel Schüler. Abbildung: Moritz Lenz
Ja, wir brauchen das Amt des Ostbeauftragten. Er hat die Aufgabe, die Einheit zu vollenden. Davon sind wir weit entfernt. Für uns, die junge Zivilgesellschaft, ist der Ostbeauftragte eine wichtige Ansprechperson, die auf Bundesebene Gehör hat. Ehrenamtliche Projekte wie das N5 Symposium haben mit ihm eine zentrale Ansprechperson im Bundeskanzleramt. Da wir bundesländerübergreifend stattfinden, ist seine Unterstützung aus Berlin essenziell. In einer Zeit, in der wir gesellschaftliche Spaltung überwinden müssen, brauchen wir Vermittler wie einen Ostbeauftragten. Wir brauchen davon mehr, nicht weniger. Er stärkt die Region durch eine verbesserte Verhandlungsposition, verschafft den Menschen Sichtbarkeit. Solange Ostdeutschland strukturell benachteiligt ist, benötigen wir dieses Amt. Die nächste Bundesregierung sollte das Amt hochstufen, damit der künftige Inhaber noch mehr für die Zivilbevölkerung bewirken kann.“
Beatrice von Braunschweig und Daniel Schüler,
Ehrenamtliche N5 Symposium.
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Prof. Dr. Timo Meynhardt
Ein doppeltes Ja. Wir brauchen für eine gute Zukunft in Deutschland ZWEI Ostbeauftragte. Beide sollen im Hier und Jetzt ihre Arbeit tun, dabei aber verschiedene Blickwinkel einnehmen. Der Vergangenheitsbeauftragte beschäftigt sich mit dem innerdeutschen Beziehungsgeschehen, macht die gegenseitigen Verletzungen und Missverständnisse zum Thema und bringt die kollektive Therapie voran. Bisherige Zwischenerfolge reichen nicht aus. Der Zukunftsbeauftragte schaut nach vorn und unterstützt den Erfahrungstransfer in strukturschwache Regionen in Westdeutschland. Von den Erfahrungen im Osten kann der Westen profitieren – er muss nur wollen und die Ostdeutschen müssen zeigen, dass sie es können. Aber dafür braucht es ein neues Angebot. Beide Beauftragte (eine Frau und ein Mann) sollen im Wettbewerb miteinander stehen und zur Hälfte der Legislaturperiode ihre Posten tauschen. Können wir uns so ein Experiment leisten? Die Antwort darauf kann nur heißen: Es sollte uns weiterhin und auf neue Weise etwas wert sein, aus der vergangenen deutschen Möglichkeit auf ostdeutschem Boden zu lernen.“
Prof. Dr. Timo Meynhardt,
Inhaber des Dr. Arend Oetker Lehrstuhls für Wirtschaftspsychologie und Führung an der HHL Leipzig Graduate School of Management, Leiter des Center for Leadership and Values in Society der Universität St. Gallen.
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Bodo Rodestock. Abbildung: VNG/Torsten Pross
Zunächst möchte ich Carsten Schneider einen ausdrücklichen Dank für sein politisches Engagement im Amt des Ostbeauftragten der Bundesregierung aussprechen. Er hat die Möglichkeiten genutzt, dem Osten Deutschlands Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit zu verleihen. Damit meine ich nicht nur spezifische Herausforderungen und Problemlagen, sondern vor allem Chancen, Potenziale, Kompetenzen und nicht zuletzt die Leistungen der hier lebenden Menschen. Mit Blick auf die Energiewende, den Strukturwandel sowie unsere unternehmerischen Aktivitäten teilen wir eben diese Anliegen bei VNG und arbeiten daran. Die Frage, ob Deutschland weiterhin einen Bundesbeauftragten für die ostdeutschen Bundesländer benötigt, ist vielschichtig. Es gibt aus meiner Sicht sowohl überzeugende Argumente für als auch gegen die Beibehaltung dieses Amtes.
Pro: Ostdeutschland hat nach wie vor spezifische Herausforderungen, die über regionale Unterschiede hinausgehen. Themen wie Demografie, Überalterung und Strukturwandel sind im Osten besonders ausgeprägt und erfordern gezielte politische Maßnahmen. Der Osten Deutschlands ist in vielen Bereichen, zum Beispiel in Führungspositionen in Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Medien und Kultur, stark unterrepräsentiert. Ein Ostbeauftragter kann dazu beitragen, die Interessen und Bedürfnisse der ostdeutschen Bevölkerung auf bundespolitischer Ebene stärker zu vertreten und sichtbar zu machen.
Contra: Wir befinden uns nunmehr schon im 35. Jahr der deutschen Wiedervereinigung. Die Unterschiede zwischen Ost und West sollten im Rahmen der gesamten Bundesregierung angegangen werden. Und es gibt auch in Westdeutschland strukturschwache Regionen, die ähnliche Herausforderungen wie Ostdeutschland bewältigen müssen.
Fazit: Während die spezifischen Gegebenheiten des Ostens weiterhin bundespolitisch mehr Beachtung finden sollten, könnte es sinnvoll sein, die Rolle des Ostbeauftragten zu überdenken und möglicherweise in ein Amt für Strukturwandel und Transformationsprozesse in Fokusregionen umzuwandeln. Dies würde nicht nur den Osten, sondern auch andere strukturschwache Regionen in Deutschland berücksichtigen und eine ganzheitlichere Herangehensweise ermöglichen. Gleichzeitig könnte den spezifischen Herausforderungen im Osten auch künftig entsprechend Rechnung getragen werden.
So oder so, der Osten braucht engagierte Politiker und Personen, die mit Selbstbewusstsein die nach wie vor existierenden Strukturbrüche und Herausforderungen angehen.“
Bodo Rodestock,
Vorstandsmitglied VNG AG.