In seinem Gesellschaftsroman erzählt Christoph Hein von der Gründung, dem Aufstieg und dem langsamen Zerfall der DDR – und von den Menschen, die all das mittragen, mitgestalten oder daran zerbrechen. Ein großer Roman gegen das Vergessen und für ein Verstehen.
Christoph Hein lässt in seinem Buch Menschen aufeinandertreffen, denen bei der Gründung der DDR unterschiedlichste Rollen zuteilwerden. Er begleitet sie durch dramatische Entwicklungen. Die Protagonisten erkennen ihre Zugehörigkeit zu einer Mannschaft an Bord eines Gemeinwesens, das zunehmend einem Narrenschiff gleicht.
Der mürrische Kommunist Johannes Goretzka kehrt aus dem Moskauer Exil in die Ostzone zurück. Einst glühender Nazi hofft er nun auf eine Karriere in der SED. Er heiratet die junge Witwe Yvonne, Mutter einer Tochter, deren erster Mann, ein Jude, den Nationalsozialismus nicht überlebt hat.
Hein begleitet das Ehepaar Goretzka über Jahrzehnte hinweg – ebenso die Emsers. Prof. Dr. Karsten Emser ist Wirtschaftsexperte und Mitglied im Zentralkomitee der SED, seine jüngere Frau Rita arbeitet im Magistrat von Ostberlin. Die beiden Familien stehen sich nah und treffen sich regelmäßig zu gemeinsamen Abendessen. Bald ist auch Benaja Kuckuck Teil der Runde, ein aus dem englischen Exil zurückgekehrter jüdischer Literaturwissenschaftler, der unverhofft zum Direktor des DDR-Kinderfilms wird. Alle lauschen aufmerksam, wenn Karsten Emser von den Entwicklungen im Zentralkomitee berichtet.
Als Goretzka, inzwischen für die Schwarzmetallurgie im Bezirk Potsdam verantwortlich, dem Plan der SED widerspricht, Investitionen in seinem Bereich zu kürzen, zieht das Konsequenzen nach sich. Weil er von der Parteilinie abweicht, wird er als Saboteur beschuldigt und beurlaubt. „Du hast dich gegen einen Beschluss des Zentralkomitees gestellt. Eine Todsünde, mein Lieber“, erklärt Emser ihm seine Lage. Dennoch verbürgt er sich später für den Abtrünnigen und verschafft ihm die Möglichkeit zur teilweisen Rehabilitation – durch den Besuch einer Parteihochschule, an der er „Parteidisziplin“ lernen soll.
Drei weitere Höhepunkte scheinen uns besonders bemerkenswert. So wird beschrieben, dass sich Walter Ulbricht nach dem Zweiten Weltkrieg dafür eingesetzt hat, dass Pommern und Schlesien Teil der DDR werden. So wäre diese beinahe so groß gewesen wie Westdeutschland und hätte dieser entsprechend mehr entgegensetzen können. Aber Stalin lehnte ab.
Hein gibt außerdem zu verstehen, dass der Übergang von Ulbricht zu Honecker dramatischer gewesen sein könnte, als bisher bekannt. Letzterer habe den amtierenden ZK-Sekretär in dessen Haus in der Schorfheide mit schwer bewaffneten Männern besucht und zum Rücktritt genötigt. Hein soll die Geschichte von Markus Wolf erfahren haben, dem einstigen Chef des DDR-Auslandsgeheimdienstes.
Auch Heins Schilderung der dramatischen Folgen, die die erneute Enteignung der Ostdeutschen nach dem Mauerfall hatten, ist bemerkenswert. In der DDR hatten Eintragungen in das Grundbuch keine große Bedeutung. Als dann Anfang der 1990er die Alteigentümer bzw. deren Verwandten kamen und zurückgelassene Immobilien per Grundbuchauszug in Besitz nahmen, war das für viele Bewohner traumatisch. Mancherorts hängten sich Menschen auf. Hein lässt eine Figur sagen: „In diesem Staat entscheidet nicht das Grundgesetz, [...] Entscheidend ist allein das Grundbuch. Und das wussten wir dummen Ostdeutschen nicht“.
Hein verwebt die Biografien seiner Protagonisten eng mit den Eckdaten der DDR: dem Arbeiteraufstand 1953, dem Tod Stalins, dem 20. Parteitag der KPdSU, dem Mauerbau, dem 11. („Kahlschlag-“)Plenum der SED, dem Prager Frühling und schließlich dem Mauerfall.
Hein liefert Grauschattierungen, die im Schwarz-Weiß-Narrativ der DDR immer mehr verloren gehen. Hier gab es nicht nur ausreisewillige Opfer und staatstreue Täter. Hein lässt keinen Zweifel an den Missständen im sozialistischen Teil Deutschlands. Durch sein beispielhaftes Erzählen von Schicksalen werden aber Hintergründe, Zwänge und Zufälle, nachvollziehbar, unter denen sich dieser Staat vor dem großen Schaufenster der Bundesrepublik entwickelte.
Ein großer Roman, der zum Besten zählt, was wir 2025 zu Ostdeutschland gelesen haben.
BUCHTIPP:
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