Die Autobiografie „Freiheit“ gibt einen eindrucksvollen Einblick in das Leben und Wirken von Angela Merkel, einer der prägendsten Figuren der deutschen Nachkriegsgeschichte. Zwischen persönlichen Erinnerungen und politischen Analysen zeichnet sie ein vielschichtiges Bild einer Kanzlerschaft, die von Krisen, Kompromissen und historischen Entscheidungen geprägt war.
„Freiheit“ lautet der Titel des Buches von und über Angela Merkel – eine der beliebtesten, aber auch am kontroversesten diskutierten Persönlichkeiten der deutschen Politikgeschichte. Die CDU-Politikerin war sowohl die erste ostdeutsch sozialisierte als auch die erste weibliche Person als Bundeskanzler/in der BRD. Als Erste in der deutschen Nachkriegszeit legte sie dieses Amt auch freiwillig nieder. 16 Jahre lang war Angela Merkel Bundeskanzlerin, 5.860 Tage, nur zehn Tage weniger als Spitzenreiter Helmut Kohl. Eine Reihe einschneidender Ereignisse begleitete diese Ära: Finanzkrise 2008, Krim-Annexion 2014, Flüchtlingskrise 2015 und Corona ab 2020.
Ein Blick hinter die Kulissen
Gut zwei Jahre haben Angela Merkel und ihre Co-Autorin Beate Baumann an dem Buch gearbeitet, ohne Unterstützung durch Ghostwriter oder andere helfende Hände. Klar gegliedert werden die zentralen Wendepunkte ihres Lebens und Wirkens aufgearbeitet, ihre Sicht der Dinge prägnant und entschlossen dargelegt. Besonders interessant ist das aktuell in Bezug auf die Beziehung zu Russland. Seit Putins Angriff hat sich die Welt grundlegend verändert und die Bundeskanzlerin a. D. muss sich unbequemen Fragen stellen: Warum tat sie nichts gegen Deutschlands Abhängigkeit von russischem Gas? Warum hat sie die Mittel für Verteidigung nicht höher angesetzt?
Schuldbekenntnisse bietet Angela Merkel nicht. Sie reflektiert zwar, bleibt jedoch jeder ihrer wesentlichen Weichenstellungen treu. Dazu zählt auch ihre Weigerung im Jahr 2008, einen „Membership Action Plan“ (MAP), eine entscheidende Vorstufe für den NATO-Beitritt, für die Ukraine und Georgien zu verabschieden. Ein Schritt, der heute auf bestürzende Weise brisanter wirkt als je zuvor. Dabei betont sie, dass es ihr stets um Kompromisse zur Wahrung des Friedens ging – eine Haltung, die sich wie ein roter Faden durch das gesamte Werk zieht.
Aufbruch aus der DDR
Abseits solcher hochaktuellen Themen gewährt Merkel Einblicke in ihr Privatleben, insbesondere in ihre Kindheit und Jugend. Aufgrund der Gegebenheiten waren auch diese in gewissem Maße bereits politisch geprägt. Merkel und Politik, so scheint es, waren von Anfang an eng miteinander verbunden. Trotz der Herausforderungen, die das autoritäre Regime ihr und ihrer Familie auferlegte, beschreibt sie ihre Kindheit als unbeschwert – nicht ohne den Zusatz, heute eine gewisse Überlegenheit gegenüber dem System zu empfinden, weil es ihr diese Unbekümmertheit nie hatte nehmen können.
In „Freiheit“ schildert Angela Merkel ausführlich ihre ostdeutsche Prägung. Während ihrer Amtszeit hatte sie diese nicht gerade in den Vordergrund gestellt, was ihr im Osten Deutschlands Kritik einbrachte. In einem Spiegel-Interview zur Bucherscheinung bezeichnete sie ihre ostdeutsche Identität als prägender als ihre weibliche. In ihrem Buch schreibt sie, dass sie ihre ostdeutsche Herkunft nicht als Ballast empfunden habe, auch wenn sie in der DDR lange nur „mit der Schere im Kopf“ habe sprechen können. Leser erfahren auch, dass die spätere Bundeskanzlerin am 9. November 1989 bereits von der neuen Reisereglung wusste, bevor sie wie jeden Donnerstag im Prenzlauer Berg in die Sauna ging. Erst nach diesem Ritual ging es dann auf ein Bier nach Westberlin.
Vom Osten in die Spitzenpolitik
Viele spätere Stationen ihres Lebens lesen sich in der Rückschau spannend wie ein Krimi und rufen einem ins Gedächtnis zurück, welcher Zäsur das Volk hier eigentlich Zeuge wurde. So reflektiert Merkel intensiv ihre Wahl zur Bundeskanzlerin im Jahre 2005, die durch knappe Ergebnisse und politische Spannungen geprägt war. Auch in den eigenen Reihen hatte sie dabei zu kämpfen mit Vorurteilen und Zweifeln, ob sie als Frau für das höchste politische Amt geeignet sei. Packend und glaubwürdig schildert sie, wie herausfordernd es war, gegen den amtierenden Kanzler Gerhard Schröder anzutreten, der seinen Machtanspruch mit Energie und Selbstsicherheit verteidigte – bis die zähen Verhandlungen mit seiner Partei schließlich zur Bildung der Großen Koalition führten.
Eine Kanzlerschaft voller Krisen
Ein weiterer Abschnitt gehört Merkels Strategie im Umgang mit Donald Trump, der nun erneut zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde. Sie beschreibt ihre Mischung aus Faszination und Frustration angesichts seines unkonventionellen Verhaltens, seiner nationalistischen Rhetorik und seines stark wettbewerbsorientierten Weltbildes. Besonders lesenswert ist ihr Bericht immer dann, wenn sie Bilder und Momentaufnahmen kommentiert, die um die Welt gingen. Wie Trumps Weigerung, einem Fotowunsch der Presse für einen Handschlag nachzukommen, oder Putins Provokation, seinen Labrador zum gemeinsamen Treffen mitzubringen, obwohl er über die Hundeangst seines Gastes Bescheid wusste. Die entspannte Selbstironie in diesen Passagen veranschaulicht, wo der entscheidende Unterschied liegt zwischen Führungspersönlichkeiten wie ihr und eben Trump oder Putin.
Politik und Persönlichkeit
Kurz vor dem G20-Gipfel in Hamburg suchte Merkel Rat bei Papst Franziskus, der ihr das Bild des „Biegens, aber nicht Brechens“ mit auf den Weg gab. Diese Metapher begleitete Merkel bei ihren Bemühungen, trotz Differenzen eine Balance zu finden. Die Autobiografie veranschaulicht diesen diplomatischen Ansatz, selbst in schwierigen Konstellationen eine Ebene der Zusammenarbeit zu schaffen. Trotz aller Kompromissbereitschaft: Im Falle der Flüchtlingskrise setzte sie ihren Kurs vehement durch – was sie zur Feindfigur vieler rechter Akteure machte. „Merkel muss weg!“ wurde zur Gegenparole ihres Credos: „Wir schaffen das!“ Merkel räumt ein, dass ihre Entschlossenheit in diesem Punkt vermutlich zur Entstehung oder zumindest zum schnellen Aufstieg der AfD beigetragen hat. Sie rechtfertigt sich mit entwaffnender Simplizität: Ihr Handeln war geprägt von ihrem christlichen Glauben und ihrem Engagement für die Wahrung der Menschenwürde.
Mit „Freiheit“ hat Deutschlands Altkanzlerin eine erhellende Lektüre verfasst, ein Plädoyer dafür, Differenzen anzuerkennen und den Dialog zu suchen. Danke, Merkel!
BUCHTIPP:
Angela Merkel, Beate Baumann: „Freiheit: Erinnerungen 1954 – 2021”, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024, 736 Seiten, 42,00 €. |