In seinem Buch „Familienunternehmen in Ostdeutschland“ nimmt der Wirtschaftshistoriker Rainer Karlsch den Leser mit auf eine Reise durch die unternehmerische Geschichte der Region. Thema sind die besonderen Herausforderungen für die Wirtschaft zwischen Elbe und Oder seit 1945 sowie die Erfolgsgeschichten, welche hier dennoch geschrieben wurden.
Für Rainer Karlsch ist „Ostdeutschland“ ein ahistorischer Begriff, denn vor 1945 sei das heute so bezeichnete Gebiet administrativ wie wirtschaftlich heterogen und vielgestaltig gewesen. Der Autor nutzt den Begriff dennoch, er habe sich heute nun mal durchgesetzt. In seinem Buch „Familienunternehmen in Ostdeutschland“ beschreibt Karlsch unternehmerische Schicksale in Ostdeutschland vor dem Hintergrund historischer Entwicklungen.
Denkbar schlechte Voraussetzungen
Vor dem Zweiten Weltkrieg habe es zwischen Elbe und Oder zahlreiche Familienunternehmen mit weltbekannten Marken und Produkten gegeben. Viele von ihnen wurden 1945 liquidiert – 1947 waren bereits 3.472 Betriebe demontiert – oder sind in den Westen abgewandert (etwa Odol, Wella, Teekanne, Zeiss, Reclam, Brockhaus). 1972 markiert einen weiteren Einschnitt. In diesem Jahr wurden auch noch die meisten der wenigen verbliebenen privaten Betriebe verstaatlicht. Schließlich hatte dann nach dem Mauerfall die Treuhand entscheidenden Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung im Osten. Ende 1994 wurden von ihr rückblickend über 14.000 Betriebe und Unternehmensteile verkauft oder kommunalisiert, nur 140 Firmen waren noch übrig. Und dennoch konnten in den ostdeutschen Bundesländern Erfolgsgeschichten geschrieben werden. Diese erzählt Rainer Karlsch und würdigt sie.
Nach vierzig Jahren Planwirtschaft habe es in Ostdeutschland keinen industriellen Mittelstand mehr gegeben, das Beschwören eines neuerlichen Wirtschaftswunders sei gehörig an der Realität vorbeigegangen, resümiert Karlsch. Den Unternehmen aber, denen trotz einer 20-jährigen Unterbrechung infolge der Zwangsverstaatlichung von 1972 ein Neuanfang gelang, zollt er hohen Respekt.
Wirtschaftliche Erfolgsgeschichten aus Ostdeutschland
Herausragende Beispiele seien unter anderem die Geschichten der Familienunternehmen Starke (Apogepha), Thiele (Kathi), Mühle (Glashütte), Blüthner (Pianoforte), Kaps (Sika), Pöhle (Komet), Bauer (Textilien) und Weigel (technische Federn). Karlsch nennt auch erfolgreiche „Rückkehrer“ wie die Bauerfeind AG (medizinische Hilfsmittel), die Gewa Music GmbH (Musikinstrumente), die OKA GmbH (Büromöbel) und die Paul Rauschert GmbH & Co. KG Keramik). In den ostdeutschen Bundesländern habe es rund 2.600 MBO/MBI-Privatisierungen gegeben – unverhältnismäßig viele. Oftmals taten sich dabei ostdeutsche Gründer und westdeutsche Kapitalgeber oder Mitgründer zusammen. Zu den großen Erfolgsgeschichten, die auf diesem Weg zustande kamen, gehören unter anderem die Aufstiege der Orafol Europe GmbH in Oranienburg, der Rotkäppchen Sektkellerei in Freyburg und der Palmberg Büroeinrichtungen + Service GmbH in Schönberg. Aus eigener Kraft gelang es der Von Ardenne GmbH in Dresden, beim Anlagenbau für die industrielle Vakuumbeschichtung den Spitzenplatz in der Welt zu erobern.
Bei den größeren Familienunternehmen dominieren in Westdeutschland oder Westberlin gegründete Firmen, die im Osten Produktionsstandorte gekauft oder aufgebaut haben, etwa Trumpf, Glas Trösch, Cheplapharm oder die Fluorchemie Gruppe.
Aha-Momente und Zeitgeschichte
„Familienunternehmen in Ostdeutschland“ ist eine packende Zeitreise voller Aha-Momente. Klassiker wie das Spülmittel Fit, die Spreewaldgurke und der Rotkäppchensekt sind ebenso Teil der Darstellung wie Johannes Hegenbarth, dessen „Mosaik“-Comics Kultstatus erreichten. Das Buch ist ein lesenswerter Überblick, der anschaulich begleitet wird. Die zahlreichen Abbildungen – oft Nachdrucke zeitgenössischer Werbeanzeigen oder Staatsdokumente – stellen hochinteressante Zeitzeugnisse dar, die einen erhellenden Einblick in die Befindlichkeiten früherer Epochen gewähren. Rainer Karlsch zeigt in seiner Geschichte von Niedergang und Neuanfang eindrucksvoll, welche negativen Auswirkungen es auf eine Gesellschaft hat, wenn Familienunternehmen ausgebremst werden.
BUCHTIPP:
„Familienunternehmen in Ostdeutschland. Niedergang und Neuanfang von 1945 bis heute”, Rainer Karlsch, Stiftung Familienunternehmen (Hg.), Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale), 360 Seiten, 34 € (Hardcover). |