In seinem Buch „Der Osten und das Unbewusste“ beschreibt Andreas Petersen, wie Sigmund Freuds Tiefenpsychologie im Westen einen regelrechten Boom auslöste, während die Forschung dazu im Osten verhindert und sogar kriminalisiert wurde.

Freuds Ideen kamen nicht überall gut an. Abbildung: Max Halberstadt via Wikimedia Commons
Das Buch beginnt mit der exemplarischen und ergreifenden Geschichte von Lilly Hajdu (1890–1960), einer ungarischen Ärztin, Psychoanalytikerin und Pionierin der Schizophrenieforschung. Geboren in eine jüdische Familie, erlebte sie als eine der ersten Frauen Ungarns den Aufstieg in die Medizin. In den 1920er-Jahren gründete sie ein Institut für geistig behinderte Kinder und erlernte die Psychoanalyse, welche zu diesem Zeitpunkt von der ungarischen Räterepublik noch gefördert wurde.
Schon früh erkannte Hajdu den Zusammenhang zwischen familiären Strukturen und Schizophrenie und entwickelte darauf aufbauend innovative Therapiemethoden. Doch durch den zunehmenden Antisemitismus geriet sie Ende der 1930er-Jahre immer mehr in Bedrängnis. Ihr Ehemann starb im KZ. Sie selbst entkam nur mit Glück der Erschießung.
Nach dem Krieg engagierte sich Hajdu für die Wiederbelebung der Psychoanalyse, die jedoch im Zuge der Stalinisierung als „bürgerlich“ und „reaktionär“ diskreditiert wurde. Freud und viele andere westliche Kollegen wurden als „bourgeoise Scharlatane“ verunglimpft, zahlreiche Psychologen verhaftet und hingerichtet. Die sowjetische Wissenschaft setzte stattdessen auf Pawlows Reflexologie, eine materialistische Alternative zur Psychoanalyse.
Hajdu bildete sich in Neurologie weiter und startete Anfang der 1950er-Jahre eine neue berufliche Laufbahn am Landesinstitut für Neurologie und Psychiatrie in Budapest, wo sie zunächst Chefärztin und Vizedirektorin war, bevor sie das Institut von 1954 bis 1957 selbst leitete. Ihr Sohn, ein kritischer Journalist, wurde nach dem gescheiterten Ungarnaufstand 1956 hingerichtet. Hajdu selbst wurde zur Persona non grata und verlor ihre Stellung. Die Ausreise zu ihrer Tochter in die Schweiz wurde ihr verwehrt. Vereinsamt und fern der Welt beging sie 1960 Suizid. Ihre Geschichte wurde aus den offiziellen Aufzeichnungen getilgt.
Dieser Auftakt verdeutlicht eindrucksvoll, wie sehr staatliche Repression und verbrecherische Regime die Entwicklung sinnstiftender Erkenntnisse unterbinden und hoffnungsvolle Leben zerstören konnten. Petersen verbindet seine Rezeptionsgeschichte der Tiefenpsychologie generell mit persönlichen Schicksalen ihrer Akteure. Das macht seine Darstellung lebendig und sehr lesenswert.
Psychoanalyse in Ost und West
Besonders interessant ist die Beschreibung der Verhältnisse im Nachkriegsdeutschland, in dem zwei konträre Systeme parallel existierten. In der BRD gelang es dem ehemaligen Arzt Alexander Mitscherlich (1908–1982), psychoanalytische Konzepte bei einem breiteren Publikum populär zu machen. Er war Mitbegründer des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt/Main und förderte die Integration psychoanalytischer Methoden in die deutsche Psychiatrie und Psychotherapie.
Die DDR hingegen war nach dem Zweiten Weltkrieg fest in das sowjetische Wissenschaftssystem eingebunden. Während die Psychoanalyse im Westen zunehmend Teil des öffentlichen Diskurses und von den Krankenkassen sogar als Teil der Gesundheitssystems anerkannt wurde, lehnte der Osten sie rigoros ab. Er brandmarkte sie als „bürgerlich-idealistische Pseudowissenschaft“, die mit einem materialistischen Weltbild nicht in Einklang zu bringen sei. Psychische Erkrankungen wurden entweder mit Medikamenten behandelt oder als gesellschaftliche Fehlanpassung betrachtet. Wer an Depressionen oder Angststörungen litt, galt oft als „schwach“ oder „nicht sozialistisch genug“. In der DDR existierten zwar Psychiatrien, aber keine tiefenpsychologischen Kliniken oder Lehrinstitute. Petersen betont, dass die jahrzehntelange Ablehnung der Psychoanalyse in der DDR auch nach der Wiedervereinigung nachwirkte.
Packendes Buch über Politik und Psychologie
„Der Osten und das Unbewusste“ zeigt auf, wie stark die Geschichte der Tiefenpsychologie, deren Einfluss heute stark abgenommen hat, mit den politischen Verhältnissen verknüpft war, insbesondere unter Hitler und Stalin. Während nach dem Krieg im Westen ein regelrechter Psycho-Boom samt Kommerzialisierung stattfand, wurde tiefenpsychologische Forschung in den Staatsideologien des Ostblocks als „Idealismus“ abgetan und massiv behindert. Petersens Werk nimmt mit und liefert einen differenzierten Blick.
![]() Andreas Petersen: „Der Osten und das Unbewusste. Wie Freud im Kollektiv verschwand.” Klett-Cotta Verlag, 2024, 353 Seiten (Hardcover), 25,00 €. |